Umschlag

Ria Klug

Vollpfostenfango

Ein Kurort-Desaster

Kriminalroman

 
 

Über das Buch

Nach einem ereignisreichen Urlaub auf Amrum kehrt der Verwaltungsangestellte Torsten Hantsch zurück in seine Heimat, den beschaulichen Kurort Bad Grunz. Im Gepäck: ein Feuerlöscher voller Koks. Während Hantsch nach der besten Lösung sucht, den Stoff an den Mann zu bringen, bekommen immer mehr Leute Wind von der Sache. Nicht nur sein gieriger Chef hat es auf den Stoff abgesehen, sondern auch die Nachbarsenkel hängen Hantsch an den Fersen. Obendrein tauchen die Amrumer Komplizen Sonja und Petter auf, die ebenfalls ein Stück vom pulvrigen Kuchen abhaben wollen. Bald schon sucht der halbe Kurort nach dem Feuerlöscher – und Torsten Hantsch hinterlässt erneut eine Spur des Chaos.

Die Autorin

Ria Klug kam 1955 in Mittelhessen zur Welt. Nach einem Vordiplom in Geisteswissenschaften und einer Tischlerlehre war sie zwanzig Jahre lang selbstständig und nahm zugleich ein Aufbaustudium an der Kasseler Werkakademie für Gestaltung auf. Seit einigen Jahren verfasst und spricht sie auch Kolumnen über Genderthemen für ein freies Berliner Radio. Sie lebt mit Frau und Kind in Berlin.

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Hantsch zog den Kopf zwischen die Schultern. Was sollte das? Der Chef bat für gewöhnlich zum Rapport, wie es so hinterhältig höflich ausgedrückt wurde. Diesmal jedoch kam er mit einem milden Lächeln um den Mund in Hantschs Büro, sagte »Bleiben Sie sitzen, Torsten« und wollte übers Wetter plaudern. So betont locker und informell, da war doch was faul.

Erstens erstickte der Chef laut eigener Aussage an einem Übermaß an Aufgaben und zweitens hatte Hantschs Mutter Hantsch stets eingetrichtert, Menschen seien wie sie seien. Wären sie plötzlich freundlich statt grantig wie gewöhnlich, führten sie etwas im Schilde. Deswegen helfe es überhaupt nicht, wenn Hantsch Mithilfe im Haushalt anbot. Das bedeute lediglich, er habe entweder ein Glas runtergeworfen oder dem Gartenzwerg die Schippe weggenommen. Ein aufrechter Charakter versuche nicht zu verschleiern, sondern stünde zu seiner Missetat und bitte demütig um seine Strafe.

»Herrlich, diese Sonne. Da kommt das bunte Laub so richtig zur Geltung«, sagte der Chef, mit einer Hand in der Hosentasche vor dem Fenster stehend, den Blick auf die umliegenden Höhen des Harzes gerichtet. »Es soll doch so bleiben, oder?«

Hantsch spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Sollte er etwa neuerdings für die Wettervorhersage zuständig sein und hatte es nicht bemerkt? Er wünschte, er hätte sein Sakko abgelegt.

»Ich bin da nicht ganz informiert«, murmelte er.

»Doch, doch, die ganze Woche«, meinte der Chef, während er sich umdrehte, einen Stuhl zurechtrückte und Anstalten machte, sich niederzulassen.

»Aha.« Hantsch schluckte schwer. »Erfordert das verwaltungstechnische Maßnahmen unsererseits? Die werde ich sofort einleiten …«

Der Chef lachte auf. »Haha, der war gut, Torsten. Wir könnten Sonnenschirme ausgeben, dann haben unsere Kurgäste auf jeden Fall einen Schatten.«

Hantsch schwieg. Ihm war nicht ganz klar, warum der Chef lachte. Es schien, als fände er die Sache mit den Sonnenschirmen spaßig oder gar lächerlich. Dabei behauptete er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die Kurverwaltung müsse alles tun, um mehr Gäste nach Bad Gruntz zu locken. Jede Idee sei willkommen und würde vorurteilslos geprüft.

Stille trat ein und Hantsch schwitzte vor sich hin, was nicht nur an der noch recht tief stehenden Sonne lag. Er wäre lieber alleine gewesen.

Der Chef räusperte sich. »Ich wollte mit Ihnen eine Angelegenheit besprechen, Torsten«, sagte er langsam. »Die ist vielleicht etwas, wie soll ich sagen, etwas verzwickt.«

Hantsch griff nach dem Locher. Ein Schilderhersteller bot Wegweiser zu öffentlichen Toiletten an.

»Leichtmetall oder Kunststoff, das ist hier die Frage«, murmelte Hantsch.

»Was?«, fragte der Chef.

»Das heißt Wie bitte?«, meinte Hantsch reflexartig.

»Wie bitte?« Der Chef sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Wegen des steigenden Alters der Kurgäste werden sie überall gebraucht. Das Angebot muss zum Einheften in die Laufmappe gelocht werden«, haspelte Hantsch beflissen.

»Ich habe Ihren Antrag auf meinem Schreibtisch liegen«, sagte der Chef.

Der Locher biss knackend zu.

»Sie haben erst kürzlich Urlaub gehabt und wollen schon wieder? Und das ohne exaktes Datum? Normalerweise wissen meine Mitarbeiter, wann sie Urlaub nehmen wollen.«

Hantsch sah kurz auf. Der Chef betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn.

»Wenn …« Hantsch brach ab. »Vorher muss ich …«, versuchte er es noch einmal.

Der Chef rückte seinen Stuhl näher an den Schreibtisch heran und beugte sich weit vor. »Sie können ganz offen mit mir reden, Torsten. Ich will auch ganz offen zu Ihnen sein. Vorgestern habe ich ein höchst interessantes Telefonat mit einem Hauptkommissar Triller geführt. Er hat mich über Sie ausgefragt und mir ein paar spannende Einzelheiten über Ihren Urlaub erzählt.«

Ein Hustenanfall schüttelte Hantsch. Er ließ sich viel Zeit, um eines seiner sorgfältig gebügelten klein karierten Stofftaschentücher aus der Hosentasche zu zupfen.

Da war es wieder. Hantsch hätte den Feuerlöscher, den er auf Amrum am Strand gefunden hatte, einfach liegen lassen sollen. Aber nein, er hatte sich in Strandräubermanier über den unverhofften Fund gefreut und ihn unter Mühen mitgeschleppt. Nur um später mithilfe Petter Jensens vom Löscherservice herauszufinden, dass der Behälter statt sechs Kilo Löschpulver sechs Kilo Kokain in Päckchen enthielt. Oder Schnee, wie das von Rauschgiftfreunden gerne genannt wurde. Von da an regierte nur noch die Habgier und die hatte einigen Menschen das Dasein gründlich vermiest. So gründlich, dass sie Sonja von der Tierkörperbeseitigung hatten rufen müssen und ihnen die Polizei nachstellte. Hörte das denn gar nicht mehr auf?

Als Hantsch sich den Mund abgewischt hatte, sah er auf, streifte den neugierigen Chefblick nur notgedrungen, konzentrierte seine Aufmerksamkeit stattdessen auf das linke Ohr seines Vorgesetzten. Im hellen Licht wirkte die Muschel rosa durchscheinend und jedes Härchen trug eine Korona.

»Sie haben ganz schön viel erlebt«, fuhr der Chef fort, als Hantsch beharrlich schwieg. »Steht Ihr Urlaubsantrag in irgendeinem Zusammenhang damit?«

Touché! Hantsch blieb die Luft weg und er musste hecheln. Was wusste der Chef? Etwa, dass Hantsch mit Sonja auf die Malediven wollte? Nachdem sie das Rauschgift, ähm, den Schnee, endlich verkauft hätten.

Der Locher biss noch mehrmals zu, obwohl Hantsch ihn wegen seiner schweißnassen Hände kaum festhalten konnte. »Ich … bin erschöpft und brauche eben Urlaub. Mein letzter war nicht so … erholsam«, murmelte er und stanzte das Blatt weiter aus.

»Das vermute ich auch, nach allem, was ich gehört habe«, sagte der Chef. »Eine unangenehme Geschichte, in die Sie da hineingeraten sind. Eigentlich darf ich Ihnen das gar nicht erzählen. Aber quid pro quo: Der Kommissar wollte von mir wissen, ob Sie meiner Meinung nach dazu fähig seien, ein ausgeklügeltes Verbrechen zu begehen. Natürlich habe ich Nein gesagt. Das war doch in Ihrem Sinne, nicht wahr?«

»Wie Sie meinen«, erwiderte Hantsch schleppend. Er zog das Blatt aus dem Locher. Es würde schwierig werden, es abzuheften, so zerschossen wie es nun war.

»Obwohl ich Sie für ein stilles Wasser halte«, fügte der Chef leise und eindringlich hinzu.

Hantsch schwieg. Er drehte den Locher und stellte fest, dass der Auffangbehälter geleert werden musste. Er knibbelte an der Kunststoffabdeckung, die nur schwer abzunehmen war.

Der Chef beugte sich noch weiter über den Schreibtisch. »Ich will die Wahrheit wissen: Haben Sie den Feuerlöscher mit dem Rauschgift oder haben Sie ihn nicht?« Seine Stimme hatte er zu einem Zischen komprimiert.

Hantsch zuckte zusammen. Dabei löste sich der Deckel des Behälters. Der Versuch, den Locher vor dem Absturz zu bewahren, beförderte ihn auf die Schreibtischplatte, wo er, Konfetti speiend, am Chef vorbeiholperte, um auf der anderen Seite hinabzustürzen und auf den Boden zu knallen. Hantsch betrachtete entsetzt, wie die Schnipselwolke sich setzte. »Entschuldigung«

»Ich bleibe dabei«, knurrte der Chef. »Den Clown spielen Sie bloß. Das tun Sie sehr geschickt, dafür bewundere ich Sie. Nein, nein, wirklich, Sie haben Talent. Aber mich können Sie nicht täuschen. Seit fünfzehn Jahren mache ich diesen Job und kenne die Belegschaft. Mir macht keiner was vor.«

Ein leichter Brandgeruch stieg in Hantschs Nase. Hinter dem rosafarbenen Ohr des Chefs kräuselte sich ein Rauchfaden, der von dessen Jackenschulter aufstieg.

»Mir können Sie es ruhig sagen. Ich könnte Ihnen helfen.« Mit diesen Worten lehnte sich der Chef zurück. Der Rauchfaden wurde feiner, dann riss er ab.

Hantschs Blick fiel auf das Glasprisma, das er von seiner Mutter geerbt hatte. Es schillerte auf der besonnten Fensterbank hinter dem Chef und lieferte eine mögliche Ursache für den Brandgeruch.

Es konnte aber auch sein, dass der Chef ein Cyborg war, kam Hantsch in den Sinn. Er hatte vor einiger Zeit einen Roman gelesen, in dem Androiden und Cyborgs die Menschheit unterwanderten. In diesen Monstren arbeitete jede Menge Elektronik, da konnte es sicher hin und wieder zu Überlastungen und Kurzschlüssen kommen.

»Sie sollten mich nicht für einen gefühllosen Apparatschik halten«, sagte der Chef. Er beugte sich wieder vor. »In mir schlägt ein mitfühlendes Herz, das können Sie mir glauben. Ich will Ihnen wirklich helfen. Sie haben Schlimmes erlebt, wie ich gehört habe. Die toten Rauschgifthändler und die Polizeiverhöre … Das war sicher hart. Ich könnte den Feuerlöscher mit dem Zeug übernehmen, es wird Ihr Schaden nicht sein. Sie haben ihn doch, nicht wahr, Torsten?« Er hielt inne und starrte Hantsch forschend an. Von seiner Jackenschulter stieg ein neuer Rauchfaden auf und der Brandgeruch wurde stärker.

»Da … da …«, stotterte Hantsch.

»Keine Antwort ist auch eine Antwort, aber lassen Sie sich Zeit«, sagte der Chef. Er schob den Stuhl zurück und erhob sich. »Überlegen Sie sich meinen Vorschlag. Ich möchte Sie vor Ungemach bewahren. Warten Sie bloß nicht zu lange, irgendwann rückt Ihnen die Polizei auf die Pelle. Wir reden morgen noch darüber. Dieses Gespräch bleibt jedenfalls unter uns.«

Er wandte sich zum Gehen. Auf seiner Jacke erblickte Hantsch einen zart qualmenden, runden Fleck, von Farbe und Größe eines Schokokekses. In der offenen Tür blieb der Chef kurz stehen.

»Nicht vergessen, wir treffen uns in einer Stunde im Kurhausfoyer. Wir haben einen Termin mit dem Generalunternehmer. Bringen Sie die Liste der fehlenden Ausstattungen mit. Außerdem sollten Sie lüften. Es riecht hier irgendwie verbrannt.«

Erst nachdem die Schritte des Chefs verklungen waren, konnte Hantsch wieder einen klaren Gedanken fassen. Die Quintessenz dieses Gedankens war, dass er dringend nach Hause musste.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Polizei ihn immer noch im Visier haben könnte. Deswegen hatte er wenig unternommen, um Feuerlöscher und Schnee möglichst zielführend zu verstecken. Es lag auf der Hand, dass sich das so schnell wie möglich ändern musste.

Er dachte krampfhaft darüber nach, welcher Dienstgang ihn aus der Kurverwaltung führen könnte. Es gab jedoch nichts zu tun, außer die Angebote für die Schilder zu vergleichen und eine Empfehlung für den Chef zu schreiben.

Hantsch überlegte kurz, ob er das Konfetti aufsammeln und in den Abfall werfen müsste, entschied sich dann schweren Herzens dagegen und machte sich an die Arbeit. Die Stunde würde gerade so reichen und er musste noch alle nötigen Unterlagen zusammensuchen.

Überhaupt, was wollte der Chef eigentlich? Wollte er wirklich einfach nur helfen oder war er scharf auf das Geld?

*

Überpünktlich stand Hantsch im Foyer des Kurhauses. Die Aktenmappe unter den Arm geklemmt, wartete er auf den Chef und den für das Umbauen der oberen Etagen zuständigen Generalunternehmer.

Dringend nötig war es gewesen, dass dieser Bau aus den Siebzigern mit einem zeitgemäßen Anwendungsbereich ausgestattet wurde und die dunkle Fassade ein freundlicheres Aussehen erhielt.

Aus unerfindlichen Gründen waren die Arbeiten ins Stocken geraten und mehrfach hatte der Generalunternehmer, ein ehemaliger Schulkamerad Hantschs, der inzwischen die Firma seines Vaters leitete, wegen unvorhergesehenem Mehraufwand Nachzahlungen angefordert. Irgendwann war dem Chef der Kragen geplatzt. Zuerst hatte er den Architekten einen unfähigen Nichtsnutz genannt und hinausgeworfen. Die Bauleitung hatte er danach selbst in die Hand genommen. Die Ansicht, dass der Umbau nun endlich reibungslos liefe, vertrat der Chef exklusiv.

Da nun die Zeit drängte und eine schier unendliche Menge an kleineren Arbeiten der Ausführung harrte, hatte der Chef eine Konferenz vor Ort einberufen. Hantsch war als akribischer Sachwalter aller denkbaren Kinkerlitzchen dabei unabdingbar.

Manchmal spürte er einen unbestimmten Verdruss darüber, dass ihm keine größeren Aufgaben zugetraut wurden. Sein einziger Trost war eine anstehende größere Transaktion, die er schon seit dem Urlaub in Angriff nehmen wollte. Schade nur, dass sie diskret geschehen musste und seinen Ruf höchstens in homöopathischen Dosen steigern würde. Schnee zu verkaufen, stieß nicht überall auf Verständnis. Hatte er aber erst einmal den Erlös in der Tasche, sah die Sache schon anders aus.

Hantsch kam sich zwischen den Kurgästen etwas fehl am Platz vor, die teils im Bademantel durch die Halle schlurften, auf dem Weg in das oder aus dem Solebad. Wie historische Landkarten beschrieb nackte Beinhaut das Alterssegment ihrer Besitzer.

Hantsch hatte gelegentlich seine Mutter in das Bad begleiten müssen, wenn sie in einem Anfall von Gesundheitswahn mal wieder beschloss, sich etwas Gutes zu tun. Glücklicherweise hielten diese Phasen nie lange an, sondern wichen schnell der Erkenntnis, dass Nahrungsaufnahme für den nötigen Zusammenhalt von Körper und Seele wichtiger sei. Ein Effekt, der durch entsprechende Mengen nahezu unbegrenzt intensiviert werden könne, wie seine Mutter Hantsch in schlichten Worten erklärte, bevor sie ihn zum Einkaufen schickte.

»Torsten! Los, was stehen Sie da herum und träumen? Wir haben zu tun!«

Vor Schreck ließ Hantsch die Mappe mit den Papieren fallen. Er hatte nicht bemerkt, dass der Chef mit dem Generalunternehmer das Foyer betreten hatte.

»Sehen Sie sich das an, Herr Schneller«, meinte der Chef. »Mit solchen Leuten muss ich den Betrieb am Laufen halten. Glauben Sie mir, die Kurverwaltung ist nichts anderes als ein mittelständisches Unternehmen. Aber ich kann nicht die Leute einstellen, die ich gerne hätte und brauche, damit der Laden brummt. Stattdessen … ja, Sie sehen es ja.«

Schneller lachte. »Sie brauchen mir nichts zu erzählen, Herr Gieseking. Ich kenne Torsten. Wir waren zusammen in der Schule.«

»Ach Gott«, sagte der Chef. »Das wusste ich gar nicht. Für die Lehrer muss das noch schlimmer gewesen sein.«

»Oh, da sagen Sie was.« Schneller wieherte laut. »Wir hatten immer was zu Lachen, dafür hat Torsten gesorgt. Nicht wahr, Torsten?«

Hantsch sah nicht auf. Stattdessen kroch er weiter über die Fliesen und sammelte Papiere ein. Mit wachsendem Groll. Er stopfte die letzten Blätter in die Mappe, erhob sich und schritt zur Treppe. »Können wir?«

»Hast du auch alles, Torsten?«, fragte Schneller. »Dahinten liegt noch Papier. Gehört das nicht zu deinen Unterlagen?«

Hantsch drehte sich in die angegebene Richtung. Schnellers Zeigefinger zielte auf eine zerfledderte Zeitung.

»Ich habe vor allem die Listen mit den noch fehlenden Arbeiten«, erwiderte Hantsch nüchtern. »Die sollten wir mal durchgehen. Das ist vielleicht nicht so lustig wie in der Schule, aber notwendig.«

»Oha, jetzt so förmlich?« Schneller versuchte sich an einem abschätzigen Grinsen.

Hantsch hob das Kinn. »Was ist daran falsch? Die Form zu wahren, gehört zu den vornehmsten Manieren. Das gilt auch für einen Bauunternehmer.«

Hantsch bemerkte, wie Schneller und der Chef einen Blick wechselten.

»Bringen wir’s hinter uns«, brummte der Erste und nahm die Treppe in Angriff.

Der Generalunternehmer folgte ihm eilig.

Gemessenen Schrittes schritt auch Hantsch die breiten Stufen hinauf. Er fragte sich, ob er mit seiner Bemerkung zu weit gegangen war. Aus der gemeinsamen Schulzeit wusste er noch, dass Alexander Schneller, genannt Ali, ein von Stil und Höflichkeit unbelasteter Vertreter des ungehemmten Herziehens über uncoole Mitschüler gewesen war. Aber schon damals hatte ihm höchstens durch energischen Einspruch Halt geboten werden können.

Der Eingang zu dem Praxistrakt des Kurhauses war mit rot-weißem Absperrband markiert. Die Türen fehlten allerdings. Weißer Staub, durchbrochen von einem dichten Muster aus Schuhabdrücken, bedeckte den Boden.

»Warum wird hier heute nicht gearbeitet?«, fragte der Chef mit leicht gerunzelter Stirn.

Schneller stemmte die Hände in die Hüften. »Die alten Bodenbeläge müssen erst entsorgt werden. Die sind asbesthaltig und da braucht’s einen qualifizierten Spezialisten.« Er zeigte auf einen Haufen geschredderter Kunststoffbodenplatten.

»Ach«, sagte der Chef. »Und wann passiert das?«

»Das muss beauftragt werden«, erwiderte Schneller.

»Wer kümmert sich darum?«

»Ich kann das machen, sobald ich eine Kostenübernahme vorliegen habe.« Der Generalunternehmer klang, als ginge es um die Frage, wie lange ein Viereinhalb-Minuten-Ei gekocht werden müsse.

»Natürlich übernehmen wir die«, sagte der Chef. »Torsten, sorgen Sie sofort dafür. Können Sie das ausnahmsweise schon vorab veranlassen, Herr Schneller? Wir hinken im Zeitplan furchtbar hinterher.«

»Klar«, meinte Schneller gönnerhaft. Er zog ein Smartphone aus der Jackentasche. »Markus? Nimm dir zwei Hanseln und komm rüber, den Dreck wegräumen. Ja, jetzt sofort. Das muss fertig werden.« Er steckte das Smartphone weg und sah zum Chef. »Was liegt sonst an?«

»Es fehlt noch so viel! Torsten, Sie haben die Liste.«

Hantsch zog ein Blatt aus den Unterlagen, legte es auf die Mappe und glättete es sorgfältig. »Steckdosen, Schalter und Lampen. Bodenbeläge und Fußleisten. Türen. Wannenarmaturen. Wandanstriche ausbessern. Dann die Einrichtungen, Tresen, Bestuhlung, Liegen und so weiter. Auch Schilder müssen montiert werden. Überall. Bestellt sind sie und sollten die nächsten Tage eintreffen …«

»Ja, ja, ja. So detailliert brauchen wir das jetzt nicht. Herr Schneller, wann können Sie das fertigstellen?«

»Zuerst muss nun mal der Asbestbelag verschwinden, vorher kann ich nicht verantworten, dass meine Leute hier tätig sind. Die Fürsorgepflicht, nicht wahr?«

»Verstehe«, sagte der Chef düster.

»Aber die Installationen abzuschließen, ginge schon, meinst du nicht?«, sagte Hantsch.

»Also wie gesagt, erst muss der Kram weg. Dann könnte ich Überstunden anordnen. Aber das kostet. Ich müsste Nachforderungen geltend machen …«

»Ja, ja, ja«, rief der Chef wieder. »Hauptsache, das wird fertig. Wir haben die Verträge mit den Betreibern schon terminiert.«

»Warum fehlen eigentlich Wannenarmaturen? Die Waschbecken sind fast alle komplett, aber die Wannen nicht, und die Technik vom Whirlpool fehlt auch.«

»Was?« Schneller strich sich über den Kopf. Auf einmal wirkte er nervös.

»Wie bitte? heißt das. Da fehlt einiges«, sagte Hantsch. »Komm, ich zeige es dir.«

Er bahnte sich einen Weg durch Stapel aus Baumaterialien, Kartons und Gipsplattenresten.

»Schau mal.« Hantsch deutete im Nassbereich auf den erhöhten Sockel, auf dem der Whirlpool ruhte. Hier gab es auch Wannen und Becken für Schlammpackungen sowie Duschen gegen Schlammpackungen.

Schneller sah sich um. »Ach du Scheiße, das war doch schon …«

»Genau. Laut Abschlagszahlung vom Sechsundzwanzigsten sollte das alles längst geliefert und montiert sein.« Hantschs anklagender Tonfall hallte besonders laut zwischen den gefliesten Wänden wider.

Schneller machte abwiegelnde Handbewegungen und zog dann sein Smartphone. »Markus? Wo steckst du? Ich brauche dich hier. – Ach ja?«

Mit einem Handy am Ohr betrat ein Mann den Nassbereich. »Wo bist du?«, sprach er hinein.

»Im Nassbereich. Wir haben ein Problem.«

»Bin auch im Nassbereich …«

Hantsch zupfte den Generalunternehmer am Ärmel, damit der sich umdrehte.

»Verdammt«, rief Schneller, »sag doch, dass du da bist!«

Der Mann brummte irgendwas, steckte das Handy weg und kam heran. »Was ist denn so wichtig?«

»Wo sind die Armaturen geblieben? Laut Stundenzettel waren die komplett montiert. Oder hat Bennicksen mir Schmu aufgeschrieben?«

Der Mann kratzte sich am Kopf. »Keine Ahnung.« Er klang völlig entspannt.

»Das gibt’s doch nicht! Du bist der Bauleiter, du musst das wissen.«

»Mensch, Alex, ich kann hier nur Bauleiter sein, wenn ich auch hier eingesetzt werde. Ich war mindestens vier Wochen nicht mehr …« Der Mann hielt inne.

Hantsch schrieb es dem hektischen Händewackeln zu, das Schneller produzierte.

Der Genaralunternehmer drehte sich halb zum Chef. »Ein Missverständnis. Markus ist bei einem weiteren Projekt Bauleiter, aber dieses hat selbstverständlich Vorrang. Überhaupt, kennen Sie Markus? Also Herrn Sprinkler. Er ist mein Schwager.«

Sprinkler und der Chef schüttelten Hände, wobei der Chef irgendwas von »Sehr angenehm«, »Tüchtig, tüchtig« und »Schön, dass ich mal jemanden vom praktischen Gewerk kennenlerne« faselte.

»Aber die Armaturen fehlen«, sagte Hantsch laut.

»Ja, ja, machen Sie doch nicht so ein Drama daraus, Torsten. Das wird sich sicher aufklären.«

»Die sind schon berechnet worden. Sehr hochwertige Ware«, schob Hantsch nach.

Der Chef explodierte. »Jetzt hören Sie endlich auf mit Ihrer dauernden Korinthenkackerei. Hier geht’s um wichtige Weichenstellungen für das neue Gesundheitszentrum. Mit Ihrer kleingeistigen Buchhaltermentalität stemmen wir das nicht!«

Hantsch erstarrte. Er spürte, wie er rot wurde. Das letzte Mal war er so gedemütigt worden, als er sich mit seiner Klassenkameradin Julia verabredet hatte, um ihr ein Eis auszugeben. Er wurde erwischt, als er gerade »Stracciatella, Vanille, Schoko« sagte, Julias Bestellung.

»Du ungezogener Bengel willst hier den Zampano in Spendierhosen spielen«, hatte seine Mutter lauthals verkündet. »Das kommt überhaupt nicht infrage. Stubenarrest und vier Wochen kein Taschengeld, damit du lernst zu sparen. Mitkommen!«

»Hier ist das Eis, Sie müssen noch bezahlen«, hatte der Verkäufer ihnen nachgerufen und von Hantschs Mutter ein »Strauchdieb, der Kindern das Geld für unnützen Tand aus der Tasche zieht« geerntet.

Daran fühlte Hantsch sich jetzt erinnert. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Aber so konnte es nicht weitergehen. Er hatte Attacken von Rauschgifthändlern überstanden und der Polizei die Stirn geboten. Seinen unfreiwilligen Geschäftspartner hatte er mit einem kleinen Kniff ausgebootet und nun sollte er sich öffentlich vom Chef in den Senkel stellen lassen?

»Nun, ein Buchhalter mit detaillierter Sachkenntnis ist hier offenbar überflüssig«, sagte Hantsch, klappte seine Mappe zu und schob sich an Sprinkler vorbei hinaus. Dabei sah er stur geradeaus.

»Torsten, so bleiben Sie doch! Legen Sie bitte nicht jedes Wort auf die Goldwaage«, rief der Chef ihm hinterher.

Hantsch reagierte nicht, sondern stolzierte wie auf Autopilot davon. Doch er kam nicht weit. Ein Hindernis verstellte ihm den Weg. Überraschend. Hantsch stolperte und stürzte in den Haufen aus asbestverseuchtem Bodenbelag.

Gelächter brandete auf.

»Hoppala«, rief jemand. Ein anderer: »Augen auf!«

Hantsch mühte sich auf die Beine. Der Staub aus dem Haufen kratzte in seiner Kehle und erzeugte einen fast unwiderstehlichen Hustenreiz. Hantsch unterdrückte ihn so angestrengt, dass ihm Tränen in die Augen traten.

»Räumt das weg«, raunzte er die beiden Männer in Arbeitskleidung an, die das Hindernis in Form von gefüllten Abfallsäcken in den Weg gestellt hatten und nun nicht aufhören konnten zu lachen.

*

Der Weg durch den Kurpark war eigentlich Hantschs Lieblingsstrecke. Er fühlte sich dort normalerweise so, wie sich ein Gutsbesitzer fühlen musste, wenn er über seine Ländereien wanderte. Stets ein Auge offen für notwendige Maßnahmen, zu denen er sich geistige Notizen machte, während er unerwünschten Subjekten wie rauchenden Jugendlichen vernichtende Blicke zuwarf. Bedauerlicherweise hatte der Chef Hantschs Vorschlag, ein paar Rauchverbotsschilder aufzustellen, abgelehnt.

Es musste dringend mit der Laubbeseitigung begonnen werden. Feuchte Blätter konnten tückisch sein und die mehrheitlich betagten Kurgäste legten Wert auf rutschfreie Gehwege. Wenn auch seit Tagen schönstes Herbstwetter herrschte, regnen würde es über kurz oder lang wieder. Da konnte der Chef kaum intervenieren.

Ach, der Chef … Hantsch beschleunigte seine Schritte. Für die sich allmählich bunt färbenden Höhen des Harzes, die um Bad Gruntz aufragten und vom Kurpark aus bestens zu genießen waren, hatte er keinen Blick.

Der Gedanke, dass sein Chef einer gedeihlichen Arbeit in der Verwaltung im Wege stand, machte sich in Hantsch breit. Bisher hatte er sich nie überlegt, was wäre, wenn dieser Despot ebenso spurlos verschwände wie seine Mutter.

Obwohl … spurlos war Hantschs Mutter nicht verschwunden. Sie geisterte immer noch durch seinen Kopf. Außerdem hatte sie ein Plätzchen auf dem Friedhof, ihren Grabstein hatte Hantsch mit einem blitzblanken Hinweisschild geschmückt. Du gingst, ich blieb. Wie viel Poesie doch in seiner Kreation steckte. Von der Wahrheit ganz zu schweigen.

Am Fuß der Steigung verließ er den Kurpark und bog in die Kötelberger Straße ein. Die ersten Meter waren die steilsten und Hantsch keuchte.

An der Stelle, wo ein Wanderweg zum Weltwald Harz abzweigte, blieb er stehen. Jemand hatte das Hinweisschild mit der Wanderkarte als Dartscheibe benutzt. Oder als Zielscheibe für Schrotschüsse. Hantsch machte sich eine geistige Notiz. Der Umgang gewisser Subjekte mit öffentlichem Eigentum war himmelschreiend. Was Hantsch besonders störte, wenn es sich um Eigentum handelte, für das er verantwortlich war.

Manche Schilder wurden mit Farbe oder Tipp-Ex bearbeitet. Dann fragten Besucher, warum eine Straße Am Hurpark hieße oder LEichendorffring und was sich die Verwaltung dabei denken würde. Da war es ihm doch lieber, wenn Schilder einfach im Ganzen verschwanden.

Hantsch ließ die Fingerspitzen vorsichtig über die Kartenoberfläche gleiten. Schrotkörner konnte er in den Tiefen nicht erkennen. Dafür fanden sich Löcher sowohl im Rand des hölzernen Dachs, mit dem die Wegschilder ausgerüstet waren, als auch in den beiden Pfosten. Die meisten Löcher wies jedoch die Mitte der Wegekarte auf. Stellenweise saßen sie so dicht beieinander, dass manche Beschriftungen schwer zu erkennen waren.

Hantsch seufzte und wandte sich ab. Der Tag wurde gerade zu einem der besonders ätzenden Sorte.

Das fünfte Haus hangseitig stach aus der Reihe der Fünfzigerjahrebauten heraus, weil blitzblanke Schilder den schäbigen Jägerzaun gnädig bedeckten. Das Bitte Klingeln an der Gartenpforte ignorierte Hantsch.

Er stürmte hinein, an der Haustür vorbei und entriegelte das Garagentor. Es ließ sich nur mit großem Kraftaufwand und unter lautem Quietschen nach oben schwenken. Sonnenlicht fiel auf den braunen Opel Manta A, Hantschs ganzen Stolz.

Um an den Kofferraum zu gelangen, musste er sich zwischen Wagenflanke und Wand hindurchquetschen. Beim Bau der Garage hatte niemand mit einem Fahrzeug gerechnet, das wesentlich länger und breiter als ein Kabinenroller sein würde. Deswegen konnte er den Kofferraum nur öffnen, indem er sich von der Seite weit vorbeugte. Zwischen die hintere Wand und die Stoßstange passten lediglich ein paar alte Reifen als abfedernde Einparkhilfe.

Schnaufend hob Hantsch einen Karton heraus, auf dem ein farbenfroher Leuchtturm abgebildet war. Sein Anblick erfüllte Hantsch mit Wehmut. Dem Amrumer Wahrzeichen würde er in Zukunft fernbleiben müssen, nach allem, was ihm auf der Insel widerfahren war und nun sicher auch nachgesagt wurde.

Als Tarnung für den Feuerlöscher taugte der Karton allerdings wenig, wie Hantsch klar geworden war. Ganz im Gegenteil, der Verweis auf die Insel hatte wie der Leuchtturm selbst Signalcharakter.

Mit dem Karton auf dem Arm dämmerte dem Verwaltungsangestellten, dass er noch keine Idee hatte, wo er das schöne Stück verstecken könnte. Er schrappte erneut mit dem Hosenboden über den rauen Verputz und blieb dann im Sonnenlicht stehen.

Wohin bloß? Irgendwo in der Nähe, aber nicht auffindbar für Uneingeweihte, so müsste das Versteck sein.

Ratlos befühlte Hantsch den aufgescheuerten Stoff der Hose. Welch ein Glück, dass seine Mutter nicht mehr mitbekam, wie er mit seiner guten Garderobe umging. Mindestens eine Woche kein Nachtisch hätte ihm geblüht. Manchmal hatte ihm die Nachbarin in solchen Zeiten ein Stück Schokolade oder ein Bonbon zugesteckt.

Bei dieser Erinnerung formte sich eine Idee. Die einzige Schwierigkeit bei der Umsetzung schien Hantsch die Neugier der Nachbarn zu sein. Denn alle, die ein Lebensalter erreicht hatten, das sie zumindest von der Schulpflicht befreite, drückten sich so oft als möglich die Nasen an den Fenstern platt. Besonders straßenseitig.

Hantsch atmete tief durch und verließ die Garage. Ungeachtet des Lärms, schloss er das Tor und schlenderte pfeifend zur Haustür. Da er sowieso beobachtet wurde, wollte er so tun, als sei alles völlig normal. Er stieg die drei Stufen zur Eingangstür hinauf und klingelte.

Nach ein paar Augenblicken erinnerte er sich, dass ihm niemand öffnen würde. Seine Mutter hatte ihm nie einen eigenen Schlüssel überlassen und daher war das Klingeln an der Haustür in seinem vegetativen Nervensystem fest verankert. Häufig vergaß er sogar das Abschließen. Nur hatte die Mutter ihren Wirkungskreis inzwischen ortsfest auf den Friedhof verlagert und ihr häuslicher Einfluss schwand allmählich. Hantsch hatte sogar schon ein Auge auf eine Dame geworfen, was der beste Beweis für diesen Schwund mütterlichen Einflusses war.

Er setzte den Karton ab, zog den Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete. Die Frage, ob er sich der Schuhe entledigen müsste, kostete ihn einen kurzen, aber heftigen inneren Kampf. Er hatte gestern erst frisches Zeitungspapier ausgelegt, so wie es ihm seine Mutter beigebracht hatte.

Hantsch musste tief durchatmen, bevor er auf Fußspitzen bis zur Terrassentür trippelte. Dort verließ er das Haus wieder und hastete die Treppen zum hinteren Ende des Gartens hinauf, wo er sich an der Kompostkiste vorbeidrückte, was seiner Hose den Rest gab. Dreihundertfünfzigtausend Euro, dachte er krampfhaft, dreihundertfünfzigtausend sollten ihn für alle Mühen und Verluste entschädigen.

Der Maschendrahtzaun zum Nachbargrundstück hing so schlaff, dass Hantsch sich darüberbeugen und den Karton in das Hanfgestrüpp und die Brennnesseln hinter der Gartenhütte nebenan versenken konnte.