Umschlag

Silke Ziegler

Die Nacht der tausend Lichter

Ein Fall für Sina Engel

Kriminalroman

 
 

Die Autorin

Silke Ziegler, Jahrgang 1975, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Weinheim an der Bergstraße. Die gelernte Finanzassistentin arbeitet nach Anstellungen in diversen Kreditinstituten inzwischen an der Universität Heidelberg. Die Reisen, die Silke Ziegler mit ihrer Familie unternimmt, inspirieren sie immer wieder zu neuen Geschichten.

 

 

Für Mama

Prolog

Weinheim an der Bergstraße
August

Lotta konnte vor Schmerzen kaum noch klar denken, während sie den kalten Blick ihres Peinigers auf dem Körper spürte.

Als sie den Kopf leicht drehte, sah sie schemenhaft die angestrahlten Mauern der Burg Windeck, die zwischen den Bäumen hindurchschimmerten. Unaufhörlich strömte das Leben aus Lottas Körper. Warum nur? Warum ausgerechnet sie?

Verzweifelt versuchte sie, die Fesseln zu lockern, doch es war vergebens. Er hatte Lottas Arme so fest an den Holzpfosten des Zauns festgezurrt, dass sie sie keinen Zentimeter bewegen konnte.

Die Nacht war dunkel, der Mond hinter dicken Wolken verborgen. Doch auch ohne etwas erkennen zu können, wusste sie, dass ihr Blut unaufhaltsam über ihren Körper lief. Zuerst hatte er Lottas Arme und Beine aufgeschlitzt und sie eine gefühlte Ewigkeit dabei beobachtet, wie sie langsam immer schwächer geworden war. Als er schließlich mit dem Messer ihren Oberkörper aufgeschnitten hatte, wurden die Schmerzen unerträglich, doch der Stofffetzen in ihrem Mund hinderte sie daran, qualvoll aufzuschreien. Jedes Geräusch, das ihrem geschundenen Körper entweichen wollte, wurde im Keim erstickt.

Lottas Gesicht war nass, Tränen rannen über ihre Wangen. Sie dachte an ihre Eltern. An Alex, den sie erst vor zwei Wochen kennengelernt hatte. Warum hatte sie seine Einladung gestern Abend ausgeschlagen? Warum um Himmels willen hatte sie darauf bestanden, mit ihren Mädels auf der Kerwe einen draufzumachen? Sie war noch so jung, sie wollte noch nicht sterben.

Schon als Lotta durch die menschenleere Grundelbachstraße gelaufen war, hatte sie gespürt, dass etwas nicht stimmte. Dieses unheilvolle Gefühl, wenn sich die Härchen auf dem Arm aufstellten, wenn einen der Drang überkam, sich immer wieder umzudrehen.

Fünfzig verdammte Meter. Lotta war nur noch fünfzig Meter vom Haus ihrer Eltern entfernt gewesen, als sie plötzlich eine Hand in ihrem Nacken gespürt hatte. In dem Moment war ihr klar gewesen, dass etwas Furchtbares bevorstand. Dass sie den Sonnenaufgang am nächsten Morgen nicht mehr sehen würde.

Es gab Augenblicke im Leben, in denen man einfach wusste, was als Nächstes geschehen würde. Die so selbsterklärend waren, dass es kein Entrinnen gab. Die Sekunde, bevor man bei einem Sturz auf den Boden aufprallte. Der Moment, bevor einem der geliebte Partner eröffnete, er brauche mehr Zeit für sich. Lotta schloss ihre Augen. Sie würde nie wieder stürzen. Und sie würde nie wieder verlassen werden.

Ihre Schmerzen ebbten langsam ab. Ein Anzeichen für die nahende Bewusstlosigkeit, vermutete sie. Ihr Kopf fiel kraftlos nach vorn, bevor er im nächsten Moment wieder hochgerissen wurde, als ihr Peiniger ihr mit voller Wucht ins Gesicht schlug.

»Nicht schlappmachen, Schlampe«, knurrte er leise.

Lass mich gehen, o bitte, lass mich gehen. Ich kann nicht mehr.

Lotta war müde, ihre Beine trugen sie kaum noch. Es schien, als ob ihre Arme nicht mehr zu ihrem Körper gehörten. Ihr gesamtes Gewicht hing jetzt an den gefesselten Handgelenken, ihre Knie waren weggesackt.

Sie war nie ein gläubiger Mensch gewesen, doch jetzt betete sie um Erlösung. Warum brachte er sie nicht einfach um? Er hatte doch gewonnen, sie würde sterben, würde ihre Eltern nie wieder sehen. O Gott, ihre Eltern! Wie sollten sie den Verlust je bewältigen?

Lotta hatte keine Geschwister, war schon immer der ganze Stolz ihrer Eltern gewesen. Die Jurastudentin, die alle Prüfungen mit Bravour meisterte. Die das beste Abitur ihres Jahrgangs gemacht hatte. Was sollte nur aus ihren armen Eltern werden? Lottas Augen brannten.

Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Traurigkeit verspürt, eine so unwiderrufliche Hoffnungslosigkeit. Nein, sie wollte nicht sterben. Sie wollte leben, weiterstudieren, arbeiten, eine Familie gründen. Alex! Wie gern hätte sie ihn besser kennengelernt, um herauszufinden, ob er derjenige gewesen wäre, welcher …

Doch ihre Zeit war vorbei. Vorbei, weil ein Wahnsinniger seine abartigen Fantasien an ihr auslebte. Weil sie, an Holzpfosten auf dem Weg zur Burg Windeck gefesselt, langsam und unendlich grausam verblutete. Wie oft war sie diesen Weg früher mit ihrem Vater entlanggegangen? Um im Herbst Blätter zu sammeln, im Winter die Spuren der Tiere im Schnee zu verfolgen und im Frühjahr zu sehen, wie die Natur nach ihrem langen Dornröschenschlaf wieder erwachte. Nein, sie war keine gute Tochter. Wie oft hatten ihre Eltern ihr gesagt, sie solle nachts nicht allein durch die Stadt laufen? Zehnmal, hundertmal oder noch öfter? Lotta erinnerte sich nicht.

Als sie ein letztes Mal ihre Augen aufriss, sah sie nichts mehr. Ihre Gedanken kreisten langsamer, fast wie in Zeitlupe. Ganz sachte spürte sie einen Windhauch auf ihren nackten Armen, das raue Holz an ihren Handgelenken. Der erdige Geruch des Waldbodens benebelte ihre Sinne. Ein Grashalm streichelte an ihrem Bein entlang. Wann hatte sie je so bewusst die Natur um sich herum wahrgenommen? War es nicht grotesk, in den letzten Augenblicken, die ihr noch blieben, die wahre Schönheit des Lebens zu entdecken?

Wieder schlug ihr Peiniger ihr ins Gesicht, doch diesmal hatte sie gewonnen. Diesmal konnte er ihr Ende nicht mehr hinauszögern. Unaufhaltsam floss die Lebensenergie aus ihr hinaus. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie ihren Mund zu einem breiten Lächeln verzogen. Er konnte ihr nicht mehr wehtun. Seine Macht über sie war erloschen.

Lotta fühlte sich plötzlich ganz leicht, fast körperlos. Wie durch einen dichten Nebel drang seine Stimme kaum noch zu ihr durch. Er fluchte. Sie triumphierte innerlich, denn sie hatte gewonnen. Seine Wut gab ihr einen letzten Energieschub, bevor sie sich fallen ließ. Immer tiefer und tiefer, bis alles um sie herum in schwärzester Dunkelheit versank. Sie hatte ihn besiegt, hatte das Böse geschlagen. Ihr Leid war beendet.

1

Ein Jahr später
Mittwoch, 10. August

Als Sina erwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Ihr Kopf dröhnte und ihr Nacken schmerzte. Stöhnend schob sie das Stillkissen zur Seite und drehte sich auf den Rücken. Sie verharrte einen Moment und lauschte den Geräuschen des frühen Morgens. Der einsetzende Berufsverkehr, der durch das geöffnete Fenster vom Multring in ihr Schlafzimmer hinaufdrang, das Zwitschern der Vögel, die den anbrechenden Sommertag mit ihrem Gesang begrüßten. Irgendjemand unterhielt sich im Hausflur unter Sinas Wohnung lautstark über die Rekordtemperaturen, die in den nächsten Tagen in Weinheim erwartet wurden.

Sina schloss erneut die Augen und dachte an gestern Abend. Wieder einmal hatte ihr Natascha stundenlang die Ohren vollgeheult, was für ein furchtbarer Idiot Jochen sei. Es war weit nach Mitternacht gewesen, als Sina ihrer Schwester endlich hatte klarmachen können, dass sie noch etwas Schlaf brauchte, da sie am nächsten Tag eine Zehnstundenschicht erwartete. Wie befürchtet, hatte Natascha beleidigt reagiert und Sina vorgeworfen, sie denke nur an sich und sei in letzter Zeit an nichts anderem mehr interessiert als an ihrem eigenen Selbstmitleid.

Sina atmete tief aus. Die Abende mit ihrer Schwester liefen seit Jahren in derselben Manier ab. Carlos Tod hatte nicht das Geringste mit Sinas Reaktion zu tun. Gut, vielleicht ein wenig, aber nicht in dem Maß, wie Natascha es ihr vorwarf.

Sina konnte einfach nicht nachvollziehen, wieso ihre Schwester vor ihrer Heirat mit Jochen nicht einmal mit ihrem zukünftigen Ehemann über die weitere gemeinsame Lebensplanung gesprochen hatte. Natascha hatte bis zur Geburt ihrer Kinder am Uniklinikum in Heidelberg als Oberärztin in der Chirurgie gearbeitet. Jochen, der in Lützelsachsen, einem der besseren Stadtteile Weinheims, eine gut gehende Anwaltskanzlei leitete, war der Meinung, dass seine Frau nicht mehr arbeiten, sondern ihre Zeit ganz für die Familie einsetzen sollte.

Seit vier Jahren, seit Jonas’ Geburt, diskutierten die beiden in unregelmäßigen Abständen über ihre unterschiedlichen Lebensentwürfe. Und jedes Mal endeten diese Dispute in einem Fiasko, woraufhin Natascha wutentbrannt das Haus verließ, um sich bei Sina auszuheulen. An solchen Abenden beschimpfte Natascha zuerst Jochen im Besonderen, bevor sie gegen die Männerwelt im Allgemeinen zu wettern begann.

Sinas Aufgabe bestand meist darin, ihrer Schwester zuzuhören, ab und zu einige Anmerkungen einzuwerfen und zustimmend zu nicken. Doch gestern Abend war ihr zum ersten Mal der Kragen geplatzt. Was dachte sich Natascha eigentlich? Wie lange wollte sie dieses Theater noch veranstalten? Wenn sie so kreuzunglücklich war, wie sie immer behauptete, warum blieb sie dann bei ihrem konservativen, im letzten Jahrhundert hängen gebliebenen Ehemann?

Seufzend drehte sich Sina wieder auf die Seite und legte ihren Arm auf das Stillkissen. Was sollte sie denn sagen? Langsam ließ sie die Hand zu ihrem Bauch hinunterwandern. Das Baby strampelte. Sie spürte die Tritte sowohl an ihrer Handfläche als auch an ihrer inneren Bauchdecke. Ja, was sollte sie sagen? Im achten Monat schwanger, eine zukünftige alleinerziehende Mutter. Sina würde direkt nach dem Mutterschutz wieder in den Polizeidienst zurückkehren. Schließlich mussten sie von irgendetwas leben, sie und das Kind. Ihre Tochter. Sinas Augen wurden feucht. Seit zwei Monaten wusste sie, dass sie ein Mädchen bekommen würde. Carlos Tochter.

Umständlich erhob sie sich. Es half alles nichts, sie musste zum Dienst. Bereits jetzt stand die Luft im Zimmer, die Nacht hatte kaum für Abkühlung gesorgt. Und wenn man dem Wetterbericht Glauben schenken konnte, würde es die nächsten Tage so heiß bleiben. Es waren Spitzentemperaturen bis vierzig Grad vorausgesagt. Sina trat ans Fenster. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen so heißen Sommer erlebt zu haben.

Gedankenverloren blickte sie auf den Multring. Der atemberaubende Ausblick aus dem zehnten Stock war es, der sie bisher daran gehindert hatte, sich eine andere Wohnung zu suchen. Obwohl sie hier alles an Carlo erinnerte, obwohl sie wusste, dass sie hier niemals zur Ruhe finden würde, fehlte ihr die Energie, einen Neuanfang zu planen. Für sich und das Baby ein Zuhause zu suchen, das ihnen ein einigermaßen behütetes Umfeld bieten konnte.

Das Angebot ihrer Eltern, die in der Weststadt ein großes Einfamilienhaus bewohnten, in die Einliegerwohnung zu ihnen zu ziehen, hatte Sina ohne Zögern abgelehnt. Nein, sie konnte nicht bei ihren Eltern leben. Schließlich war sie keine zwanzig mehr, konnte nicht bei den ersten Schwierigkeiten zurück zu Mama und Papa gehen. Sina war schwanger und trug die Verantwortung für ein neues Leben. Auch wenn sie ihren Eltern überaus dankbar war, dass sie sie in der Zeit nach der Geburt unterstützen wollten, die Kleine betreuen würden, wenn Sina Dienst hatte: Bei ihnen einziehen, das ging nicht.

Der Schmerz in ihrem Hinterkopf wurde stärker. Widerwillig watschelte sie ins Bad. Nachdem sie ihr Schlafshirt ausgezogen hatte, blickte Sina in den Spiegel. Ihr Bauch wirkte riesig, ihre dürren Arme und Beine dagegen wie die Gliedmaßen eines Strichmännchens. Zärtlich legte sie ihre rechte Hand auf die Wölbung und verharrte einen Moment. Das Baby war für sie jetzt schon das Wertvollste auf der Welt. Ihr Kind war der einzige Grund, warum sie überhaupt weitermachte, warum sie nicht schon längst kapituliert hatte. Der Sinn ihres zukünftigen Lebens. Ein Kind, das ohne Vater aufwachsen würde.

Noch immer konnte sich Sina nicht vorstellen, wie sie nach der Geburt allein mit der Kleinen zurechtkommen sollte, doch sie hatte keine Wahl. Sie musste es irgendwie schaffen. Das war sie ihrer Tochter schuldig – und auch Carlo.

Nachdem Sina geduscht und sich angezogen hatte, setzte sie eine Tasse Tee auf. Seit sie von der Schwangerschaft erfahren hatte, verzichtete sie fast völlig auf Kaffee. Ihre Frauenärztin hatte ihr dazu geraten. Wenn sie schon die Aufregung, die ihr Job als Kriminalbeamtin mit sich brachte, nicht vermeiden konnte, so wollte sie zumindest alle weiteren auch nur ansatzweise schädlichen Einflüsse von dem Ungeborenen fernhalten.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es erst kurz vor sieben war. Sie hatte also noch etwas Zeit. Nachdenklich nahm Sina die heiße Tasse und trat auf den Balkon hinaus. Der Himmel leuchtete hell, die Sonne schien bereits mit voller Kraft. Die beiden Burgen strahlten im gleißenden Licht um die Wette.

Sina liebte ihre Heimatstadt. Sie war hier geboren, zur Schule gegangen und hatte in Heidelberg ihre Ausbildung zur Polizistin absolviert. Ihre Familie und ihre Freunde, ihr gesamtes soziales Umfeld konzentrierte sich auf Weinheim und die nähere Umgebung. Natürlich zog immer mal wieder jemand weg, aus beruflichen oder auch privaten Gründen, doch Sina fehlte hier nichts. Sie schätzte die Ruhe, die man im nahen Odenwald finden konnte, aber genauso mochte sie es, an den Wochenenden, wenn sie denn mal frei hatte, nach Heidelberg oder Mannheim zu fahren, um ein wenig Großstadtluft zu schnuppern. Nun, diese Ausflüge würden wohl in nächster Zeit wegfallen.

Wieder ging ihr die Diskussion mit Natascha durch den Kopf. Sie liebte ihre Schwester über alles. Natascha war nur zwei Jahre älter als Sina. In ihrer Jugend waren sie oft zusammen unterwegs gewesen, hatten sich teilweise denselben Freundeskreis geteilt. Natascha war nicht nur ihre Schwester, sie war auch ihre beste Freundin. Niemand wusste mehr über Sina als sie. Und trotzdem – diese ständigen Auseinandersetzungen mit Jochen, diese seit Jahren andauernden Heulattacken nervten.

Sina ließ ihren Blick über die Häuser der Innenstadt schweifen. Das Riesenrad war bereits aufgebaut, die anderen Buden und Fahrgeschäfte würden heute und morgen folgen. Zwei Tage noch, dann begann die Kerwe in Weinheim, das größte Volksfest an der Bergstraße. Und seit zwei Jahren auch das gefährlichste.

Nervosität befiel Sina. Sie wusste, dass sie sich keinen weiteren Mord erlauben durften. Zwei tote Frauen in den letzten zwei Jahren, das war für eine Stadt wie Weinheim schon jetzt der Super-GAU.

Die Gastronomen befürchteten für das Wochenende große Einbußen aufgrund der unglückseligen Tatsache, dass der Doppelmörder noch nicht gefasst war. Sina sah das anders. Bei den angekündigten hochsommerlichen Temperaturen würden Tausende potenzielle Opfer unterwegs sein, die es für sie und ihre Mitarbeiter zu schützen galt, dachte sie bitter. Sie durfte sich gar nicht ausmalen, was los wäre, wenn es ihnen nicht gelänge, die Kerwe zu sichern und am Wochenende eine weitere junge Frau grausam abgeschlachtet würde. Sie musste sich unbedingt konzentrieren, musste Nataschas Eheprobleme für einige Tage vergessen und versuchen, ihre eigene Tragödie auszublenden. Sie hatte einen Job. Einen Job, den sie bis vor sechs Monaten über alles geliebt hatte. Und den sie weiter erledigen musste, wenn sie ihrer Tochter ein Vorbild sein wollte.

Sina wusste, dass die Kriminaldirektion sie mit Argusaugen beobachtete. Dass man nur darauf wartete, dass sie einen Fehler machte. Eine schwangere Hauptkommissarin wurde in diesem noch immer sehr männerlastigen Berufsfeld nicht gern gesehen. Sina war klar, dass viele ihrer Kollegen damit gerechnet hatten, dass sie hinschmeißen würde. Dass sie sich aufgrund der Ereignisse vor einem halben Jahr als arbeitsunfähig einstufen ließe. Doch sie war nach nur einer Woche wieder beim Dienst erschienen. Und eine weitere Woche darauf hatte ihre Frauenärztin ihr eröffnet, dass sie ein Kind erwartete – zwei Wochen, nachdem ihr Lebensgefährte Carlo Reinhardt brutal ermordet worden war.

2

Noch drei Tage. Seine Unruhe wuchs, obwohl er wusste, dass seine Befürchtungen unbegründet waren. Die letzten zwei Male war schließlich alles glattgegangen. Sie hatten gelitten. Genau, wie er es sich vorgestellt hatte. Beide hatten in den letzten Momenten des Lebens ihren Hochmut und ihre Arroganz verloren. Um Gnade gewinselt. Er musste lächeln, als er sich an den großartigen Augenblick erinnerte, in dem er ein Leben ausgelöscht hatte. Er, der immer wieder gedemütigt und bloßgestellt worden war, der für weibliche Wesen scheinbar Luft darstellte und den jeder unterschätzte. Das hätte ihm niemand zugetraut, aber er hatte es ihnen gezeigt. Allen. Wieder verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen. Und dieses Jahr hatte er eine ganz besondere Überraschung für Frau Hauptkommissarin Sina Engel, die eingebildetste und hochnäsigste von allen. Dieses Jahr würde sie die Hauptrolle spielen in seinem kleinen Theaterstück. Doch zuvor wollte er der Öffentlichkeit noch eine weitere Kostprobe seines Könnens präsentieren.

»Du scheinst ja heute blendender Laune zu sein.«

Er schaute zu seinem Kollegen auf, der vor ihm stand und ihn mit prüfendem Blick musterte.

»Es ging mir schon schlechter, das muss ich zugeben«, entgegnete er in unverbindlichem Tonfall.

Kopfschüttelnd wandte sich der Ältere ab und verschwand wieder an seinen Schreibtisch.

Während er über seine Pläne nachdachte, schob er ziellos einige Unterlagen hin und her. Schließlich wollte er nicht den Argwohn seiner Kollegen wecken.

Seine Gedanken kreisten um die Frau, die ihm die Augen geöffnet hatte. Die ihn durch ihre Zurückweisung erst zu dem gemacht hatte, was er jetzt war. Ein Star, ein Weinheimer, der in die Geschichte der Stadt eingehen würde. Seine Theorie gefiel ihm. Er musste sich beherrschen, um nicht laut loszuprusten. Vielleicht sollte er der Presse einen kleinen Wink geben, doch er wollte nicht übermütig werden. Jede noch so geringe Abweichung von seinem ursprünglichen Plan bedeutete ein unkalkulierbares Risiko. Besser er behielt seinen Triumph für sich. Weinheim würde auch so von ihm erfahren.

Bisher hatte es keinen Tag gedauert, bis seine Gespielinnen entdeckt worden waren. Der Kerwemontag gehörte ihm, so viel war schon mal sicher. Bereits der Sonntagabend würde geprägt sein von Gesprächen über den geheimnisvollen ›Kerweschlitzer‹, wie sie ihn abfällig nannten. Wut stieg in ihm auf. Die hatten doch keine Ahnung. Er war genial, Herr über Leben und Sterben. Er war derjenige, der entschied, wann ein Leben zu Ende ging, wann die Schlampen ihr letztes Kapitel aufschlugen. Sie sollten ihm dankbar sein, denn der Tod kam für die meisten Menschen so unerwartet, dass ihnen keine Zeit mehr blieb, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Die zwei Frauen hingegen hatten in dem Moment, in dem sie ihm über den Weg gelaufen waren, gewusst, was sie erwartete. Er hatte es sofort in ihren Augen gesehen. Die Angst, die so elementar war wie der Tod. Den beiden war augenblicklich klar gewesen, dass er die Kontrolle über ihr Leben übernehmen würde – und über ihr Sterben.

Die nächste Titelseite über sein Schaffen konnte er sich bildlich vorstellen. Nein, wenn die Berichterstattung wieder genauso miserabel wäre wie in den letzten Jahren, müsste er sich etwas überlegen. Vielleicht ein anonymes Interview per Telefon. Exklusiv für die Weinheimer Nachrichten. Wieder musste er ein Lachen unterdrücken. Leider könnte er sich seine Gesprächsbereitschaft nicht bezahlen lassen. Er war sich sicher, dass es unter den Journalisten nicht wenige gab, die sich darauf einlassen würden. Ja, er sollte ernsthaft darüber nachdenken, einige Fakten klarzustellen. Und welches Sprachrohr eignete sich besser dafür als die regionale Tageszeitung?

Sicher würde auch Sophie Schmidtbauer davon erfahren. Sophie Schmidtbauer, die ihn vor sehr langer Zeit auf eine Art bloßgestellt hatte, die er ihr eigentlich nicht durchgehen lassen konnte. Vielleicht sollte er einige Erkundigungen über sie einholen. Wo sie lebte, ob sie verheiratet war, Kinder hatte. Hätte sie es nicht auch verdient zu erfahren, zu was er fähig war?

Ruhig Blut, mahnte er sich leise. Erst kommt der Kerwesamstag, dann Sina Engel. Und danach …

3

»Das wird sicher eine Riesensache am Samstag«, meinte Polizeihauptmeister Gunther Leidig, während er weiter konzentriert auf die Fahrbahn schaute.

»Ist es das nicht immer, wenn der Waldhof spielt?«, entgegnete Hauptkommissar Matthias Sommer genervt und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Was für eine Hitze!«

»Wärst du jetzt lieber in Mannheim bei der Demo?« Gunther drehte sich kurz zu seinem Kollegen um.

Matthias zuckte mit den Achseln. »Eine Horde Rechtsradikaler in Zaum halten? Nee, danke.« Er blickte zum Funkgerät, das knackte und rauschte. »Dann doch lieber die gute alte Streife durch Heidelberg.« Er grinste.

»Mach dich nur lustig«, knurrte Gunther. »Aber es spricht absolut nichts gegen solide Polizeiarbeit.«

»Ja, so war es auch nicht gemeint«, beeilte sich Matthias zu sagen. »Und außerdem hat Gans mich ja gefragt, ob ich lieber bei der Demo helfen möchte.«

Erstaunt wandte sich Gunther erneut seinem Kollegen zu, nachdem er an einer roten Ampel anhalten musste. »Du hast die Streife der Demo vorgezogen?« Er schien es nicht glauben zu können.

»Warum nicht?« Matthias zog seine Brauen hoch.

Eigentlich war er Hauptkommissar der Polizeikriminaldirektion Heidelberg, aber da es aufgrund der heutigen NPD-Demonstration zu einem Engpass bei den Einsatzkräften gekommen war, hatte er sich sofort bereit erklärt, die Streifenbeamten zu unterstützen. Da er am kommenden Samstag bei einem Benefizspiel des SV Waldhof Mannheim die Leitung eines Einsatzteams übernehmen würde, ebenfalls aufgrund Mangels an Beamten, war sein Bedarf an Menschenansammlungen für die nächste Zeit gedeckt.

Gunther zuckte mit den Achseln. »Außer einigen Prügeleien, weil den Leuten die Hitze zu Kopf steigt, kann ich dir höchstwahrscheinlich nichts Spektakuläres bieten.«

Matthias blickte ihn schief an. »Wie kommst du darauf, dass ich etwas Spektakuläres erwarte?«

»Einsatzwagen drei-null-vier. Bitte kommen«, unterbrach die Stimme aus dem Funkgerät ihre Unterhaltung.

»Einsatzwagen drei-null-vier«, meldete sich Matthias eilig, »was gibt’s?«

»Es wurde uns gerade eine häusliche Schlägerei gemeldet. Wo befinden Sie sich?«

»Auf der Karlsruher Straße Richtung Rohrbach«, antwortete Matthias in ruhigem Tonfall.

»Eine Nachbarin hat angerufen. In der Wohnung nebenan würde ein Mann seine Frau misshandeln. Scheint wohl nicht zum ersten Mal auffällig zu sein. Die Wohnung befindet sich in der Freiburger Straße, Hasenleiser.« Die Beamtin nannte ihm die Hausnummer und das Geschoss, in dem sich die Wohnung befand.

»Wir sind schon auf dem Weg dorthin. Melden uns, sobald wir Näheres wissen«, erklärte Matthias, während Gunther den Blinker setzte und rechts abbog.

»Und Action«, presste er grimmig zwischen den Zähnen hervor.

»Freiburger Straße?« Matthias sah ihn fragend an.

»Bildungsferne Schichten«, informierte ihn sein Kollege, während er mit der rechten Hand Anführungszeichen in die Luft malte. »Arbeitslose, prekäre Familienverhältnisse und viele Mitbürger mit Migrationshintergrund.«

»Da ist es.« Matthias zeigte auf einen zehnstöckigen Wohnblock auf der rechten Straßenseite. Gunther parkte den Streifenwagen am Fahrbahnrand und stieg hastig aus.

Da Matthias bei der Kripo arbeitete, trug er im Gegensatz zu seinem uniformierten Kollegen Zivilkleidung: Jeans, Turnschuhe und ein weißes Hemd. Als sie auf den Hauseingang zusteuerten, holte er seinen Ausweis aus der Hosentasche hervor.

»Lass stecken.« Gunther winkte sofort ab. »Die Leute hier interessieren sich nicht für Formalien. Halt dich lieber bereit.«

Obwohl Matthias sofort verstand, was sein Kollege meinte, blickte er ihn überrascht an. Die eigene Ehefrau zu verprügeln und ein gewaltsamer Angriff auf Polizeibeamte, das waren immer noch zwei Paar Schuhe, aber da er schon einige Jahre nicht mehr auf der Straße ermittelte, vertraute er Gunther, steckte den Ausweis wieder weg und legte stattdessen die Hand auf seine Dienstwaffe.

Nachdem sie bei der Nachbarin geklingelt hatten, die den Vorfall der Zentrale gemeldet hatte, ertönte eine krächzende Stimme aus der Gegensprechanlage: »Ja?«

»Polizei. Machen Sie bitte die Tür auf«, erwiderte Gunther, während er Matthias anblickte.

Der Summer ertönte und die beiden Beamten traten in einen dunklen, nach Schweiß und Müll riechenden Flur ein.

»Fünfter Stock«, raunte Matthias und zeigte auf den Fahrstuhl. Ungeduldig warteten sie, bis der Aufzug endlich im Erdgeschoss ankam.

»Wir versuchen, die Ehefrau vom Täter zu trennen. Wir brauchen unbedingt ihre Aussage«, erklärte Gunther leise.

Matthias nickte schweigend. Aus seiner Zeit als Streifenpolizist waren ihm noch genug Fälle bekannt, bei denen Ehefrauen grün und blau geschlagen worden waren, nur um dann bei der polizeilichen Befragung anzugeben, die Treppe hinuntergestürzt oder gegen die Tür gerannt zu sein, sich versehentlich beim Kochen mit einem Messer oder an einer heißen Herdplatte verletzt zu haben. Er presste seine Lippen aufeinander. Wenn die Frauen keine Hilfe annehmen wollten, waren den Polizisten meistens die Hände gebunden.

Natürlich gab es Wiederholungstäter, bei denen es keiner Aussage des Opfers mehr bedurfte. Aber da der Großteil der Fälle nicht gemeldet wurde, kamen viele gewalttätige Ehemänner straffrei davon, da es sich um sogenannte Einzeltaten handelte, die nur geahndet werden konnten, wenn das Opfer Anzeige erstattete.

Wenn sich eine der Frauen doch einmal zu einer Aussage überwand, widerrief sie diese meist spätestens am nächsten Tag, nachdem der Täter sie so stark unter Druck gesetzt hatte, dass sie sich vor lauter Angst nicht mehr traute, ihre Anzeige aufrechtzuerhalten. Oder sie glaubte ihrem Ehemann, der ihr zum hundertsten Mal versprach, sich zu ändern. Wollte ihm glauben.

Matthias verzog unmerklich sein Gesicht. Er konnte niemanden schützen, der seinen Schutz nicht annehmen wollte. Zu dieser Erkenntnis war er nach fünfzehn Jahren Polizeiarbeit gelangt.

Die Beamten stiegen aus dem Fahrstuhl. Eine rundliche Frau mit strähnigem Haar stand in einer der unzähligen Wohnungstüren und starrte wie gebannt in ihre Richtung.

»Frau Städtler?« Matthias nickte ihr kurz zu. Sie blickte erst ihn misstrauisch an, bevor sie sich an Gunther wandte, der ihr aufgrund seiner Uniform anscheinend seriöser erschien. Matthias passierte es öfter, dass er sich ausweisen musste, da die Leute ihm den Hauptkommissar nicht abkauften. Seine dichten dunklen Locken, die ihm widerspenstig ins Gesicht fielen, und sein gebräunter Teint, den er seiner französischen Mutter verdankte, verliehen ihm eher das Aussehen eines Surflehrers.

»Ich bin Polizeihauptmeister Leidig«, stellte sich Gunther vor, bevor er auf Matthias zeigte, »und das ist mein Kollege, Hauptkommissar Sommer.«

»Kommissar«, flüsterte die Frau ehrfürchtig und hielt sich ihre Hand vor den Mund.

»Sie haben uns angefordert.« Matthias versuchte, der Nachbarin den Grund ihres Besuchs in Erinnerung zu rufen.

Sie nickte und zeigte auf die Wohnungstür nebenan. »Bei denen«, sie schluckte, »bei den Özcals kommt es immer wieder zu Streitigkeiten, Rumgebrüll …« Sie zögerte, bevor sie ihren Kopf senkte und noch leiser weitersprach: »Die wohnen hier seit einem halben Jahr, es ist eine Katastrophe. Normalerweise kümmere ich mich nicht um die Angelegenheiten anderer Leute …« Wieder brach sie ab.

Matthias warf Gunther einen kurzen Blick zu, schwieg jedoch.

»Aber vorhin«, fuhr Frau Städtler fort und kämmte mit den Fingern durch ihr ergrautes Haar, »vorhin hat die Frau geschrien, als ob …« Sie suchte nach Worten. »Als ob er sie abschlachten würde.«

»Er?«, hakte Matthias nach.

»Na, ihr Mann. Hockt den ganzen Tag nur zu Hause.« Sie nickte bekräftigend. »Oder bekommt Besuch von …«, sie schielte zu der nächsten Wohnungstür, »… von anderen Ausländern.«

»Aber im Moment ist nichts zu hören«, warf Gunther ein.

»Vielleicht hat er sie umgebracht.« Sie blickte von ihm zu Matthias, bevor sie mit der flachen Hand an ihrem Hals entlangfuhr.

»Gut, Frau Städtler, wir werden bei Ihren Nachbarn klingeln und nachschauen, ob alles in Ordnung ist«, erklärte ihr Matthias in beruhigendem Tonfall. »Es ist für uns sehr hilfreich, dass es so aufmerksame Mitmenschen wie Sie gibt.« Mit diesen Worten wandte er sich der danebenliegenden Tür zu.

Da die Nachbarin jedoch keine Anstalten machte, den Flur zu verlassen, wurde Gunther deutlicher: »Bitte gehen Sie in Ihre Wohnung, es könnte gefährlich werden.«

Mit beleidigter Miene und ohne ein weiteres Wort zu sagen, knallte die korpulente Frau die Tür zu.

Matthias sah kurz zu Gunther, der unmerklich nickte und seine Hand demonstrativ auf das Waffenholster legte.

Nur wenige Sekunden nach dem ersten Klingeln wurde die Tür geöffnet und eine junge Frau Mitte zwanzig stand vor ihnen.

Der Anblick der Türkin versetzte Matthias sofort in Alarmbereitschaft. Aus dem Augenwinkel erkannte er an Gunthers angespannter Körperhaltung, dass es seinem Kollegen genauso ging.

Die Frau trug ein blaues geblümtes Kopftuch, das nur ihr Gesicht unbedeckt ließ. Aber die Verletzungen, die man trotz der kleinen Fläche erkennen konnte, verdeutlichten Matthias und Gunther, dass Frau Städtler mit ihrem Anruf genau das Richtige getan hatte. Die Wangen der jungen Türkin waren über und über mit kleinen Brandverletzungen übersät, als ob jemand ihr mehrfach eine brennende Zigarette ins Gesicht gedrückt hatte.

Obwohl Matthias sich sicher war, dass er mit seiner Vermutung recht hatte, bemühte er sich um eine unbeteiligte Miene. »Frau Özcal?«

Die Frau nickte scheu.

Matthias zückte seinen Ausweis und stellte Gunther und sich vor. »Wir haben einen Anruf erhalten, dass es in Ihrer Wohnung zu Problemen kam.«

»Probleme?« Die Türkin sah ihn aus großen Augen an.

»Streit, Gebrüll, Verletzungen?« Er deutete auf ihr Gesicht.

»Ah, Feuer.« Die Frau bemühte sich um eine entschuldigenden Gesichtsausdruck. »Kochen … nicht aufpassen.«

Matthias’ Miene versteinerte.

Gunther machte einen Schritt nach vorn. »Frau Özcal, wir würden gern mit Ihrem Mann sprechen. Sicher kann er uns helfen zu klären, woher Ihre Verletzungen kommen.«

Sie schüttelte hektisch den Kopf. »Nein, nein, Mann nicht zu Hause.« Sie hob ihre Hände und versuchte, Matthias und Gunther abzuwimmeln. »Allein«, murmelte sie verlegen, »ich verletzen.«

»Frau Özcal, wir müssten wirklich dringend mit Ihrem Mann sprechen. Wir möchten uns gern kurz in Ihrer Wohnung umschauen«, knurrte Gunther hörbar ungehalten, während er die Frau vorsichtig zur Seite schob und über die Türschwelle trat. Matthias folgte ihm eilig und zog vorsorglich seine Waffe. Als die Türkin diese erblickte, schrie sie voller Angst hysterisch auf.

Matthias wollte sie gerade beruhigen, als plötzlich eine Gestalt aus der Küche gestürmt kam und sich ohne Vorwarnung auf Gunther stürzte.

Entsetzt wirbelte Matthias herum, um seinem Kollegen zu Hilfe zu kommen. Doch Gunther lag bereits am Boden, ein riesiger dunkelroter Blutfleck breitete sich in Windeseile in Brusthöhe auf seiner Uniform aus. Der Angreifer stand reglos in der Küchentür und blickte erschrocken zu Matthias. Ohne zu zögern, zielte er mit seiner Waffe auf den Täter.

»Lassen Sie das Messer fallen. Sofort«, schrie er Özcal an, während er mit der anderen Hand hastig sein Handy aus der Hosentasche angelte. »Los, auf den Boden. Hände über den Kopf«, brüllte er weiter, während der Türke widerstandslos seine Anweisungen befolgte.

Ohne den Täter aus den Augen zu lassen, tippte Matthias die Notrufnummer in sein Handy. »Ich brauche dringend einen Krankenwagen, Hauptmeister Leidig ist schwer verletzt.« Er nannte die Adresse und beendete das Gespräch. Weiter mit der Waffe auf den Täter zielend, kniete er sich neben den Verletzten und beugte sich über ihn. »Scheiße, Gunther. Halt durch. Der Krankenwagen kommt gleich.« Er tätschelte ihm leicht die Wange. »Nicht einschlafen, bleib bei mir.« Er warf Özcal, der noch immer regungslos am Boden kniete, einen zornigen Blick zu. »Scheiße.« Gunther musste einfach überleben, Matthias durfte nicht schon wieder einen Kollegen verlieren.

4

»Wie geht es Ihnen heute, Herr Melchior?« Marlene schloss mit ihrem Fuß die Tür hinter sich, während sie das Frühstückstablett in beiden Händen hielt.

Balthasar Melchior saß in einem verschlissenen Lehnstuhl direkt vor dem großen Panoramafenster. Sein Appartement war eines der teuersten im Bodelschwingh-Heim, einem exklusiven Altenpflegeheim am Rande des Schlossparks. Marlene mochte den alten Mann, der trotz seiner neunundachtzig Jahre geistig noch vollkommen klar war. Wenn es ihre Schicht und ihre Zeit erlaubte, leistete Marlene ihm bei seinen Mahlzeiten gern ein wenig Gesellschaft.

»Ein wunderbarer Tag«, erwiderte der alte Mann und zeigte auf die Rheinebene, die sich vor ihm erstreckte. »Wenn ich fünfzig Jahre jünger wäre, würde ich Sie heute zu einem netten kleinen Ausflug einladen, Fräulein Ruf.« Er lächelte verschmitzt.

Sie stellte das Tablett auf dem Esstisch ab und half dem Heimbewohner, vorsichtig aus dem Stuhl aufzustehen und sich an den Tisch zu setzen.

Nachdem Herr Melchior auf eine Scheibe Schwarzbrot zeigte, bestrich Marlene sie mit Leberwurst. »Wo würden Sie denn mit mir hinfahren?« Sie genoss die Gesellschaft des älteren Herrn, der sich seinen Charme und Humor über all die Jahrzehnte seines Lebens bewahrt hatte.

»Ach, Fräulein Ruf, ein Ausflug ins romantische Heidelberg, eine Wanderung nach Buchklingen oder auch eine Fahrradtour an der Weschnitz entlang, mit anschließendem Picknick im Grünen.« Er seufzte, während er jede ihrer Bewegungen verfolgte.

»Das hört sich alles wirklich sehr verlockend an, Herr Melchior. Sie würden mir die Wahl nicht leicht machen«, erwiderte sie lächelnd, während sie ihm seinen Teller hinüberschob.

Balthasar Melchior bestand darauf, dass er sämtliche Handgriffe, zu denen er noch in der Lage war, selbst ausführte. Selbstständig essen gehörte für ihn ebenso zu einem würdevollen Leben, wie eigenständig auf die Toilette zu gehen.

Marlene wusste, dass er früher als Geschäftsführer bei einer großen Druckmaschinenfirma in Heidelberg gearbeitet hatte, bevor er sich mit einem eigenen Unternehmen selbstständig machte, das ihm nach anfänglichen Startschwierigkeiten über die Jahre einen gewissen Wohlstand ermöglicht hatte. Seine Frau war vor mehr als fünfzehn Jahren verstorben. Seine Tochter hatte jeden Kontakt zu ihm abgebrochen, seit sie, wie Melchior Marlene schon des Öfteren erzählt hatte, in falsche Kreise geraten war. Der alte Mann war ein herzensguter Mensch, durch und durch anständig, weltoffen und tolerant. Marlene war der Tochter noch nie begegnet. Sie konnte jedoch in keiner Weise nachvollziehen, wie man sich mit einem derart umgänglichen Menschen wie ihm so überwerfen konnte.

»Noch zwei Tage, dann geht es wieder los«, ergriff Melchior das Wort und zeigte in Richtung Innenstadt.

»Ja, es wird schon kräftig aufgebaut«, erzählte Marlene, während sie ihm Kaffee nachschenkte. »Das Riesenrad steht bereits.«

»Das gab es früher nicht«, erwiderte der alte Mann mit wehmütiger Stimme.

»Ich weiß, das haben Sie schon einmal erwähnt.«

Marlene war erst vor sechs Jahren aus dem Ruhrgebiet nach Weinheim gezogen, um ihre Ausbildung zur Altenpflegerin hier im Bodelschwingh-Heim zu beginnen. Natürlich hätte sie auch in ihrer Heimat eine Lehrstelle gefunden, aber nach der Schule hatte sie aus unterschiedlichen Gründen dringend einen Tapetenwechsel benötigt. Dass ihre Wahl auf Weinheim gefallen war, war reiner Zufall gewesen. Sie hatte im Fernsehen einen Bericht über die Rhein-Neckar-Region gesehen, über die Mandelblüte an der Bergstraße, der frühesten in der ganzen Bundesrepublik. Die ›Toskana Deutschlands‹ hatte der Sprecher das Gebiet damals genannt. Acht Wochen später war Marlene zu einem ersten Bewerbungsgespräch in dem Altenheim eingeladen und hatte sich bei ihrem Besuch auf Anhieb in die Stadt verliebt. Der mediterran angehauchte Marktplatz, das romantische Gerberbachviertel mit seinen kleinen Fachwerkhäusern und engen, verwinkelten Gassen. Und nicht zuletzt die Einrichtung selbst, die mit dem Versprechen warb, älteren Menschen einen Lebensabend in Würde zu bieten. Bis heute hatte Marlene ihre Entscheidung keinen Tag bereut. Weinheim war zu ihrer zweiten Heimat geworden. Als sie vor drei Jahren Markus kennengelernt hatte, machte seine Liebe ihr Glück perfekt.

»Ich kenne die Kerwe nur in ihrem jetzigen Erscheinungsbild. Das Riesenrad stellt für mich das Herzstück dar. Merkwürdig, sich das Fest ohne die Hauptattraktion vorzustellen.«

Balthasar Melchior nickte bedächtig. »Ja, die Zeiten haben sich geändert.« Er lächelte gedankenverloren. »Die vier Tage im August waren früher immer der Höhepunkt des Jahres.« Er führte seine Kaffeetasse mit zittriger Hand an seine Lippen und trank einen kleinen Schluck. »Sie müssen wissen, ich war nicht immer so.« Er zeigte an sich hinunter. »Ganz im Gegenteil: Ohne angeben zu wollen, aber ich war ein ganz schön fescher Bursche.« Er verzog seine Lippen zu einem angedeuteten Grinsen.

Das glaubte Marlene ihm sofort. Selbst jetzt in seinem hohen Alter strotzte er trotz seiner Gebrechen vor Energie und Lebensfreude. Er haderte nicht mit seinem Zustand wie andere ältere Patienten, die sie kannte.

»Das kann ich mir wahrlich vorstellen«, entgegnete Marlene lachend. »Sicher haben Sie damals reihenweise die Frauenherzen Weinheims gebrochen.«

»Ich war immer eine ehrliche Haut«, widersprach er mit Nachdruck. »Meiner Hiltrud war ich über fünfzig Jahre lang treu.«

Marlene blickte aus dem Fenster. Fünfzig Jahre, eine unendlich lange Zeit. Ob sie dieses Glück wohl ebenfalls erleben würde?

»Heutzutage gibt es das ja gar nicht mehr«, fuhr Melchior, der nichts von ihren Gedanken ahnte, fort. »Es wird überstürzt geheiratet, um sich dann genauso eilig wieder scheiden zu lassen.« Betrübt schüttelte er seinen Kopf. »Für mich kam nie eine andere als Hiltrud infrage. Als ich sie das erste Mal gesehen habe, wusste ich sofort, dass ich mit dieser Frau mein Leben verbringen wollte.«

»Wie romantisch«, erwiderte Marlene verzückt, doch Melchior schüttelte seinen Kopf.

»Ein halbes Jahrhundert, das war oft überhaupt nicht romantisch, sondern viel Arbeit und Anstrengung. Aber auch viel Freude und Sonnenschein.«

Beide hingen einen Moment ihren Gedanken nach.

»Ihr Freund kann sich glücklich schätzen, Sie zu haben«, ergriff Melchior schließlich wieder das Wort.

»Das hoffe ich.«

»Gehen Sie auch gemeinsam auf die Kerwe?« Er blickte sie aus müden Augen an.

»Am Freitag«, antwortete Marlene. »Samstag ist dann Mädelsabend.«

»Dann arbeiten Sie dieses Wochenende wohl nicht«, folgerte der ältere Mann leise.

»Nein, aber bis Freitag bin ich noch da.« Sie versuchte, ihn aufzumuntern. »Und am Montag erzähle ich Ihnen alles bis ins kleinste Detail und bringe Ihnen eine Packung gebrannte Mandeln mit.«

Seine Augen glänzten verdächtig, als er seine Hand ausstreckte und auf ihre legte. »Sie sind ein guter Mensch, Fräulein Ruf.« Seine Lippen zitterten.

»Sie auch«, erwiderte sie gerührt, bevor sie aufstand und seinen Teller auf das Tablett zurückstellte, da noch andere Patienten auf sie warteten.

5

Die Außenstelle der Kriminaldirektion Heidelberg befand sich im zweiten Stock des Polizeireviers Weinheim, direkt gegenüber des Bahnhofs. Aufgrund der Polizeireform waren die Tage der Weinheimer Kripobeamten gezählt, da die Behörde umstrukturiert wurde und die Außenstellen in die Hauptzentrale in Heidelberg integriert werden sollten. Im Moment war jedoch noch nicht klar, wann Sina Engel mit ihrem Team würde umziehen müssen. Unabhängig davon hatte die Hauptkommissarin sowieso gerade ganz andere Sorgen.

»Verdammter Mist! Das darf doch nicht wahr sein.« Wütend warf Sina die Zeitung auf die Tischplatte vor sich. Eigentlich hatte sie ihre Mitarbeiter zu einer Lagebesprechung zusammenrufen wollen. Als Sebastian Ihrig, mit seinen sechsundzwanzig Jahren der Jüngste im Team, ihr jedoch den heutigen Artikel in der Rhein-Neckar-Zeitung vorgelegt hatte, war Sinas Laune, die ohnehin schon nicht die beste war, in den Keller gesackt.

»Weinheim trotzt dem Kerweschlitzer«, presste Sina aufgebracht zwischen ihren Zähnen hervor. »Wer denkt sich nur so einen Haufen Dreck aus?«

Erst vor zwei Tagen hatte sie eine Anfrage von Roman Heiden, dem Redakteur der Rhein-Neckar-Zeitung, der für Weinheim zuständig war, abgelehnt. Er hatte sie zu dem bevorstehenden Volksfest und den beiden Mordfällen der letzten Jahre befragen wollen. Da Sina dem Täter, der sich noch immer auf freiem Fuß befand, jedoch keinerlei Angriffsfläche bieten, ihn weder provozieren noch herausfordern wollte, war sie zu dem Schluss gekommen, je weniger im Vorfeld über die Morde geschrieben würde, desto größer wäre die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Fest ereignislos verliefe.

Der Artikel, eine ganze Seite mit Fotos der beiden Opfer, Zitaten von Sina aus den letzten Pressekonferenzen sowie einer detaillierten Beschreibung der Morde war nun das Resultat ihrer Ablehnung. Sie kochte innerlich. Im gleichen Moment legte sie instinktiv die Hand auf ihren Bauch und überlegte. Sie musste unbedingt Schadensbegrenzung betreiben. Wenn der Kriminalrat den Artikel erst zu Gesicht bekam …

Polizeiobermeister Gerhard Runz, der dienstälteste Beamte der Außenstelle, erschien im Türrahmen. »Sina?«

Genervt hob sie ihre Hände. »Bitte keine weiteren Hiobsbotschaften.«

»Ich fürchte doch«, entgegnete er vorsichtig. »Gerade kam ein Anruf aus Heidelberg. Gans kommt heute Nachmittag, er möchte dringend mit dir sprechen.«

Fassungslos starrte Sina ihren Mitarbeiter an. »Das darf doch alles nicht wahr sein. Was will er denn persönlich hier?«

Klaus-Peter Gans war eigentlich der Kriminalrat, hatte aber seit dem Selbstmord des vorherigen Dezernatsleiters der Direktion Heidelberg übergangsweise auch dessen Stelle inne, bis ein Nachfolger gefunden wurde.

Rudolf Mattner war neunundvierzig Jahre alt gewesen, als man ihn vor drei Monaten erhängt in seiner Wohnung in Dossenheim gefunden hatte. Mattner war ein Einzelgänger gewesen, im Job kompetent und sachverständig, aber menschlich eine absolute Katastrophe. Sina war in den letzten Jahren mehr als einmal mit ihm aneinandergeraten. Trotzdem hatte sein Tod die ganze Direktion in eine Art Schockstarre gestürzt, von der sich die Beamten erst nach und nach wieder erholten.

Sein Nachfolger hingegen war ein umgänglicher Vorgesetzter, der für seine Mitarbeiter auch in stressigen Situationen stets ein offenes Ohr hatte. Sina hatte nach Carlos Tod öfter mit ihm zu tun gehabt und seine verständnisvolle und empathische Art sehr zu schätzen gelernt. Wenn Gans sich nun aber persönlich nach Weinheim bemühte, hatte das sicher nichts Gutes zu bedeuten. Was wollte er bloß hier? Sina befürchtete, dass er mit dem Gedanken spielte, ihr den Fall zu entziehen.

»Vielleicht will er dir ja nur Unterstützung anbieten?«, versuchte sich Gerhard an einer schwachen Erklärung.

»Und deshalb kommt er selbst?« Sina schüttelte ihren Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Eine hochschwangere Kommissarin ist denen doch seit Monaten ein Dorn im Auge.«

»Ach komm, Sina, du machst einen Superjob. Das hat doch nichts mit deiner Schwangerschaft zu tun.« Gerhard kratzte sich am Kinn.

»O doch, Gerhard, das hat es. Was habe ich denn schon vorzuweisen? Zwei tote Frauen, vom Täter weit und breit keine Spur. Wenn er noch mal zuschlägt …« Sie ließ den Satz unbeendet und verzog ihr Gesicht.

»Das wird er nicht.« Gerhard versuchte, seine Chefin zu beschwichtigen. »Diesmal sind wir vorbereitet.«

Sina nickte. Er hatte recht. Nach dem ersten Mord vor zwei Jahren hatte niemand ahnen können, dass es sich um die Tat eines Serienmörders handelte.

Obwohl die Beamten letztes Jahr in Alarmbereitschaft versetzt worden waren, hatte doch keiner ernsthaft mit einem weiteren Mord gerechnet. Erst als am Morgen des Kerwesonntags ein Spaziergänger mit seinem Hund die Leiche des zweiten Opfers am Rand des Weges zur Burg Windeck hinauf gefunden hatte, war ihnen klar geworden, mit was sie es hier zu tun hatten.

Sina schüttelte hastig den Gedanken daran ab. Beide Frauen waren grauenhaft zugerichtet gewesen, aufgeschlitzt und jämmerlich verblutet. Höchstwahrscheinlich hatte der Täter ihr Leiden mitangesehen und die Macht über seine Opfer auf perverse Art genossen.

»Was ist, wenn wir die Besucher nicht schützen können?« Mit besorgtem Blick fixierte sie ihren Mitarbeiter.

»Wir werden sie schützen«, erklärte Gerhard bestimmt. »Jede Frau, die auf die Kerwe geht, wird wohlbehalten nach Hause zurückkehren, zu Mann, Freund, Kindern.« Er machte eine Pause. »Ihrer Familie.«

Sina schloss für einen Moment die Augen. »Ein weiterer Mord wäre eine Katastrophe. Wenn Carlo noch leben würde …«

»Wenn Carlo noch leben würde, wäre der Stand der Ermittlungen genau derselbe, Sina«, unterbrach Gerhard sie barsch und sah sie finster an. »Und das weißt du auch.«

Überrascht öffnete sie wieder ihre Augen. »Aber er …«

»Wir haben keinerlei verwertbare Spuren«, fuhr ihr Kollege ungehalten fort. »Auch Carlo könnte ohne Anhaltspunkte keinen Täter präsentieren.«

»Wir waren ein gutes Team«, sinnierte Sina wehmütig.

»Ja, das wart ihr. Aber der letzte Mord geschah sechs Monate vor Carlos Tod. Denkst du wirklich, er hätte so lange nach der Tat noch irgendeine Spur gefunden, der wir nicht bereits nachgegangen sind?«

Oberhauptkommissar Carlo Reinhardt hatte gemeinsam mit Sina die Kerwemorde untersucht. Nach dem Fund der ersten Leiche hatte Mattner entschieden, Carlo solle das Weinheimer Team bei den Ermittlungen verstärken.

Zum damaligen Zeitpunkt hatten Sina und Carlo ihre Beziehung vor den Kollegen noch geheim gehalten. Erst einige Monate später waren sie in eine gemeinsame Wohnung gezogen.

Obwohl Mattner die Zusammenarbeit der beiden nach Bekanntwerden ihres privaten Verhältnisses damals argwöhnisch beäugt hatte, entschied Kriminalrat Gans entgegen der Empfehlung seines Untergebenen, die Ermittlungen bei ihnen gemeinsam zu belassen, ungeachtet ihrer persönlichen Beziehung.

»Nein, du hast natürlich recht«, stimmte Sina Gerhard zu. »Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist.« Müde massierte sie ihre Schläfen.

»Du vermisst ihn. Und du bist nervös wegen Samstag. Das ist doch verständlich. Aber wir werden unseren Job machen, und zwar gut. Vertrau uns, Sina.«

Nachdem Gerhard in das Großraumbüro zurückgekehrt war, zog Sina die Fallakten der beiden Morde zu sich heran. Olivia Bertram und Lotta Sagewitz. Zwei junge Frauen, die nicht mehr lebten. Zwei Schicksale, von denen lediglich die Umstände ihres Todes in den Köpfen der Öffentlichkeit hängen blieben. Doch Sina wusste, dass die Ermordung der beiden Opfer deren Familien und Freunde für immer prägen würde.