Umschlag

Jan Zweyer

Das Haus der grauen Mönche

Im Dienst der Hanse

Historischer Roman

Im Dienst der Hanse ist der dritte Teil der Mittelaltersaga
Das Haus der grauen Mönche:

 

Das Haus der grauen Mönche – Das Mündel, Bd. 1

Das Haus der grauen Mönche – Freund und Feind, Bd. 2

Das Haus der grauen Mönche – Im Dienst der Hanse, Bd. 3

 

 

 

 

Der Autor

Jan Zweyer wurde 1953 in Frankfurt am Main geboren. Mitte der Siebzigerjahre zog er ins Ruhrgebiet, studierte erst Architektur, dann Sozialwissenschaften und schrieb als ständiger freier Mitarbeiter für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Er war viele Jahre für verschiedene Industrieunternehmen tätig. Heute arbeitet Zweyer als freier Schriftsteller in Herne. Nach zahlreichen zeitgenössischen Kriminalromanen hat er sich mit der Goldstein-Trilogie Franzosenliebchen, Goldfasan und Persilschein das erste Mal historischen Themen zugewandt.

www.jan-zweyer.de

Dramatis Personae

(Die mit einem * gekennzeichneten Figuren sind historisch belegt. In einigen Fällen wurde bei ihnen der Vorname Johann geändert, um eine Verwechslungsgefahr mit anderen Figuren zu vermeiden.)

Hattinger Bürger

Jorge von Linden

Hinrick van Enghusen, Patrizier, Kaufmann (Viehhändler), Bürgermeister *

Ella van Enghusen, seine Frau

Berthram von Luitzenrode, Droste und Amtmann

Burg Blankensteins *

Marx Kremer achter der Hallen, Bürgermeister von 1507 bis 1517 *

Bernd, Pastor in Sankt Georg, Hattingen

Lübecker Bürger

Marlein van Enghusen, Freundin Jorges, Tochter Hinricks

Jobst van Enghusen, Kaufmann, Marleins Onkel

Irmla van Enghusen, seine Frau

Albrecht Schulten, Kaufmann und Geschäftspartner Jobst van Enghusens

Clas Wibbeking, Bergmeister a. D., Kaufmann

Konrad Wibbeking, Kaufmann *

Hartwig von Stiten, Bürgermeister von 1502 bis 1511 *

Tidemann Berck, Bürgermeister von 1501 bis 1521 *

Heinrich Witte, Ratsmitglied von 1496 bis 1520 *

Adomeit, Lehrer an der Lübecker Mädchenschule

Sonstige

Brid, Jorges Stiefschwester

Anne, Lautenspielerin

Detlev Wittdorf, Hauptmann der dänischen Armee

Sebolt Vanderbill, Kaufmann aus Danzig

Sievert Spanheim, Kaufmann in Reval

EINE NEUE HEIMAT

April 1506 bis August 1506

1

Lübeck, 6. April 1506

Jorge von Linden stand am Ufer der Trave und strich gedankenverloren über sein Armband. Er hatte das Halsband seines früheren Hundes Cerbus umarbeiten lassen. In dem geheimen Geldfach darin bewahrte er immer noch die Goldmünze auf, die einst sein treuer Gefährte bewacht hatte. Obwohl Jorge mehrmals drauf und dran gewesen war, das Geld auszugeben, hatte er es im entscheidenden Moment dann doch nie über das Herz gebracht und lieber gehungert. Inzwischen war der Goldgulden zu einem Talisman geworden, der für den jungen Mann von so großem ideellem Wert war, dass er seinen materiellen verloren hatte.

Die letzten zwei Jahre waren ereignisreich gewesen. Nie hatte Jorge es länger als einige Wochen an einem Ort ausgehalten. Obwohl er das Lager nicht nur mit Huren, sondern auch mit einigen hübschen Mädchen geteilt und diesen vermutlich das Herz gebrochen hatte, flüchtete er stets Hals über Kopf, sobald die Beziehungen enger zu werden begannen. Er verglich jede der Frauen mit Anne, einer Musikantin, die ihn in die körperliche Liebe eingeführt hatte. Keine seiner Liebschaften konnte gegen die Erinnerung an sie bestehen.

Auf der Trave fuhren einige Segelschiffe sowohl in südliche wie in nördliche Richtung. Noch mehr allerdings hatten am gegenüberliegenden Ufer an den Hafenanlagen angedockt. Die Stadt dahinter lag im Schutze einer hohen Mauer, hinter der die Giebel der dicht an dicht stehenden Häuser hervorlugten. Über ihnen ragten Kirchtürme in den Himmel. Jorge zählte sieben.

Er ging auf eine Brücke zu, die den Fluss überspannte und zu einem Stadttor am gegenüberliegenden Ufer führte. Der Durchgang war in einen rechteckigen Turm eingebaut worden, dessen Spitze vier Türmchen zierten und der im oberen Bereich eine Galerie aufwies, von der aus die davorliegende Brücke überblickt werden konnte. Noch mehr beeindruckte Jorge allerdings das mächtige Tor, welches am diesseitigen Ufer vor der Brücke wachte. Zwischen zwei runden Türmen erhob sich über der eigentlichen Pforte ein Zwischentrakt mit einem Stufengiebel. Waren die Außenwände der beiden Türme nur durch Schießscharten durchbrochen, wies der Mitteltrakt in zwei Reihen jeweils sechs größere und kleinere Fenster auf. Jorge konnte sich ihre Funktion lebhaft vorstellen. Sie dienten nicht etwa dazu, Licht ins Innere fallen zu lassen oder Reisende daraus freundlich winkend zu begrüßen, sondern wohl in erster Linie militärischen Zwecken. Mögliche Angreifer, die das schwere Holztor attackieren wollten, mussten damit rechnen, aus eben diesen Öffnungen beschossen oder mit siedendem Öl übergossen zu werden.

Aber heute stand die Pforte weit offen und wurde nur durch zwei Soldaten bewacht, die ihre Aufgabe anscheinend sehr genau nahmen. Als Jorge vor einem von ihnen stand, musterte der Wächter skeptisch den ungewaschenen Jüngling mit den zerrissenen Kleidern. »Was willst du in Lübeck?«, erkundigte der Mann sich mit strenger Stimme.

Jorge hatte ähnliche Situationen in den letzten Jahren vor fast jeder Stadt erlebt, in die er Einlass begehrt hatte. Deshalb löste er wortlos sein Armband, klaubte den Goldgulden daraus hervor und hielt ihn dem Soldaten unter die Nase. »Ich bin kein Bettler, wenn Ihr das meint.« Dann verstaute er die Münze wieder in ihrem Versteck.

Der Soldat nickte und gab mit mürrischem Gesicht den Weg frei. Jorge durchquerte den Eingang, ging über die Brücke und auf das innere Stadttor zu. Die dortigen Wächter begnügten sich mit prüfenden Blicken auf die Reisenden und gaben dem jungen Mann mit einer gelangweilten Handbewegung zu erkennen, dass er passieren könne.

Er aber sprach einen der beiden an: »Ich suche Clas Wibbeking. Könnt Ihr mir sagen, wo ich ihn finden kann?«

»Wibbeking? Ein Verwandter des Kaufmanns Konrad Wibbeking?«

Jorge zuckte nur mit den Achseln.

Der Soldat schaute den Jüngling kritisch an. »Du siehst nicht aus wie jemand, der den ehrenwerten Herrn Wibbeking kennen könnte.«

Jorge konnte das Misstrauen seines Gegenübers nachvollziehen. »Ich suche Clas Wibbeking«, wiederholte er. »Einen Konrad kenne ich in der Tat nicht.«

Der Soldat gab sich einen Ruck. »Ist ja auch nicht meine Sache«, brummte er. »Soweit ich weiß, wohnt er in der Königsstraße, unweit Sankt Marien. Frag nach dem Weg. Die Familie Wibbeking kennen die meisten hier in Lübeck.«

»Sankt Marien?«

»Der große Turm, der dort links über den Häusern zu sehen ist.«

Jorge bedankte sich und ging in die angegebene Richtung. Tatsächlich konnte ihm schon der erste der Passanten, den er ansprach, den Weg zu dem Haus der Wibbekings weisen.

Jorge hatte noch nie so viele Menschen auf den Straßen gesehen wie in Lübeck. Alle schienen mit irgendetwas beschäftigt. Da schleppten Bauersfrauen in großen Körben auf dem Rücken Heu und Stroh durch die Gassen, auf Eseln wurden Säcke transportiert. Vor jedem zweiten Haus pries ein Handwerker seine Dienste an. Die Fensterläden dieser Häuser waren weit geöffnet, sodass die im Inneren produzierten Waren von dort auf hochgeklappten Brettern auf die Straße verkauft werden konnten. Bettler versuchten, Almosen zu ergattern, Mägde kippten Unrat und Essensreste vor die Türen. Dazwischen spielten Kinder, Schweine und Hühner suchten in dem Gewimmel nach Futter, Gänse liefen schnatternd umher. Dann waren da noch die Pferde, die eine Art Schlitten hinter sich herzogen, auf denen Fässer, Ballen oder Kisten lagerten.

Die Straßen waren überwiegend gepflastert, nur noch an wenigen Stellen dienten schwere Holzbalken als Belag. Der Schmutz, der auf ihnen lag, hatte sie rutschig werden lassen, sodass sie das Gehen mehr erschwerten denn erleichterten. Eine Kakofonie aus menschlichen Stimmen, Anpreisungsrufen der Händler, lautstarken Forderungen der Bettler, Jauchzen der Kinder und Geräuschen der Tiere hing in der Luft. Und über allem lag ein Gestank, der Jorge, der in den letzten Wochen keine Stadt mehr betreten hatte, fast den Atem raubte.

Er blieb an einem der Brunnen stehen, zog den Eimer aus der Tiefe hervor und verzog angesichts der stinkenden Brühe darin das Gesicht. Dieses Wasser taugte noch nicht einmal zum Waschen, geschweige zum Trinken.

»He, mein Freund«, rief ihn ein Mann an, der in der Tür einer Schenke auf der anderen Straßenseite stand. »Das Wasser aus dem Brunnen wird nur zum Gießen der Pflanzen benutzt. Wenn du Durst hast, komm herüber. Ich biete kühles Bier und feine Speise zu guten Preisen.«

Jorge schüttelte nur den Kopf und zeigte auf seinen prall gefüllten Wasserschlauch. Der Wirt zuckte die Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit anderen möglichen Kunden zu.

Die Familie Wibbeking bewohnte ein prachtvolles Haus in der Nähe der großen Kirche. Das Gebäude nahm eine Breite von nur zehn Schritten ein, war dafür aber etwa zweimal so hoch. Den roten Giebel des Wohnhauses über dem dritten Stockwerk schmückten Zinnen aus Ziegeln, Reihen schmaler Fenster erstreckten sich über die gesamte Hausfront. Die Läden im Erdgeschoss standen offen, um Licht hereinzulassen. Scheiben aus Bleiglas dokumentierten den Wohlstand der Bewohner. Auch die Häuser links und rechts wiesen ähnlich imposante Merkmale auf. In dieser Straße wohnte der Reichtum.

Jorge fasste sich ein Herz, griff den gusseisernen Bärenschädel, der als Türklopfer diente, und ließ ihn zweimal gegen das Holz fallen. Es dauerte nicht lange und eine junge Frau, bekleidet mit hellgrauer Schürze, langem blauen Kleid und weißer Haube öffnete.

»Ja, bitte?«, fragte sie spitz und musterte angewidert Jorges Erscheinung.

»Lebt hier Herr Clas Wibbeking?«

»Wer will das wissen?«, fragte sie zurück.

»Jorge von Linden.«

»So, so. Und was will Jorge von Linden von Herrn Wibbeking?«

»Also wohnt er hier?«

»Ja. Aber was willst du?«

»Mit ihm sprechen.«

»Wie kommst du darauf, dass der gnädige Herr sich mit jemand wie dir abgibt?«

Jorge musste sich zusammennehmen, um angesichts der blasierten Hochnäsigkeit der Magd nicht unhöflich zu werden. Es wäre seinem Anliegen bestimmt nicht dienlich, wenn er das Dienstmädchen beschimpfen würde, dieses ihm deshalb die Tür vor der Nase zuschlüge und er sich draußen gedulden müsste, bis Clas Wibbeking endlich auf der Straße erschiene.

»Ich kenne ihn von früher. Aus seiner Zeit in Schneeberg«, setzte er schnell hinzu. »Er hat mir versprochen, dass sein Haus immer für mich offenstünde. Sagst du ihm das bitte?«, meinte er so freundlich wie möglich.

Der Magd war anzusehen, dass sie mit sich rang.

»Er wird dich sicher nicht schelten, wenn du ihm meine Botschaft überbringst, im Gegenteil.«

»Na gut. Aber du wartest draußen.« Sie knallte ihm die Tür vor der Nase zu.

Den jungen Mann störte das nicht weiter. Er hatte auf seiner Wanderschaft schlimmere Abfuhren erlebt.

Jorge hatte in Hattingen das Licht der Welt erblickt und seine Eltern nie kennengelernt. Sie waren einer Intrige zum Opfer gefallen, die ein Hauptmann des Herzogs von Kleve angezettelt hatte, weil er sich dadurch einen rascheren Aufstieg versprach. Jorges Vater starb bei dem inszenierten Überfall, seine Mutter wurde wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Bevor sie zum Galgen schreiten musste, hatte sie ihrem Beichtvater, einem Dominikaner namens Bernardo, das Versprechen auf die Bibel abgerungen, sich um ihr ungeborenes Kind zu kümmern. Der Mönch hatte sein Wort gehalten und die Waise zunächst bei einer Pflegefamilie untergebracht. Von dieser Familie lebte inzwischen nur noch Jorges Nennschwester Brid, die sich als Hübschlerin durchschlug.

Als Siebenjähriger hatte ihn Bruder Bernardo ins Haus der grauen Mönche nach Hattingen geholt, wo er von den Dominikanern lesen, schreiben und rechnen gelernt hatte. Er verlebte unbeschwerte Jahre in der Stadt und freundete sich mit Marlein van Enghusen an, der Tochter eines der einflussreichsten Bürger des Ortes. Aber diese Freundschaft stand unter keinem guten Stern. Marleins Eltern schickten ihre Tochter fort, als sie von der Bekanntschaft mit Jorge erfuhren. Und Marleins Bruder Lucas verfolgte ihn mit seinem Hass.

Dann starb Jorges Mentor und die Dominikaner gaben ihr Haus in der Stadt auf. Die Bitte des Jungen, in das Kloster des Bettelordens in Soest aufgenommen zu werden, wurde durch den dortigen Abt barsch abgelehnt. Und als ihm auch der Hattinger Bürgermeister Hinrick van Enghusen, Marleins Vater, den weiteren Aufenthalt in der Stadt verbot, begab sich Jorge auf Wanderschaft Richtung Polen. Während der Reise traf er durch Zufall auf seine Ziehschwester Brid. Aber sie verweigerten sich seinem Wunsch, mit ihm zu kommen. Also war Jorge allein weitergezogen.

Kurz darauf nahmen ihn Räuber gefangen. Ihrer Bande hatte sich Aron angeschlossen, Jorges ebenfalls aus Hattingen vertriebener jüdischer Freund. Die Gauner hatten einen Kaufmannssohn festgehalten, bei dessen späterer Rettung auch Jorge die Freiheit wiedererlangte. Aron jedoch wurde festgenommen und als Mittäter verurteilt und hingerichtet.

Völlig desillusioniert zog Jorge weiter und folgte schließlich dem Großen Berggeschrey, das überall im Lande hörbar wurde und davon kündete, dass im Osten Silber gefunden worden sei. Über ein Jahr lang hatte er in den Silbergruben in Schneeberg bei Zwickau gearbeitet. Bei einem Steinschlag unter Tage rettete er einem jungen Bergmeister das Leben. Dafür bot Clas Wibbeking, der aus Lübeck stammte, dem jungen Mann die Hilfe seiner Familie an, wann immer er sie in Anspruch nehmen wolle.

Jorges Leben hätte in ruhigen Bahnen verlaufen können, wäre er nicht eine Woche nach dem Unfall auf Lucas gestoßen. Es war zu einem Streit gekommen, bei dem van Enghusen Jorges über alles geliebten Hund Cerbus getötet hatte. In dem sich anschließenden Handgemenge kam sein alter Widersacher durch Jorges Hand ums Leben und der junge Mann musste flüchten. Damit begann seine erneute Wanderschaft.

Er hatte sich mit Gelegenheitsarbeiten von Stadt zu Stadt durchgeschlagen und war immer dann weitergezogen, wenn er genug Geld zusammengekratzt hatte. Konnte er sich sein Essen nicht kaufen, hatte er gestohlen: kein Geld oder andere Wertsachen, sondern das, was auf den Feldern und an den Büschen reifte. Und er ging als Wilddieb auf die Jagd.

Einige Monate lang war Jorge sogar mit einer Gauklertruppe unterwegs gewesen. Sie brachten ihm das Falschspielen bei und der eine oder andere Betrunkene in den Schenken wurde zum Opfer seiner neu erworbenen Kunst.

Sein Pferd hatte der junge Mann im letzten Winter verkaufen müssen. Von dem Erlös konnte er einige Zeit leben, war von da an aber zu Fuß unterwegs. Mehrmals war er nur knapp den Häschern derjenigen Landesherren entgangen, die Umherstreifende wie ihn in die Dienste ihrer Armeen zwingen wollten.

Keine Kirche hatte er besucht, kein Gebet gesprochen, seit er Schneeberg verlassen hatte. Und auch keinen Ablass zur Sündentilgung erworben. Gott hatte ihn nicht dafür gestraft.

Kurz: Jorge war nicht stolz auf das, was er in den vergangenen zwei Jahren getrieben hatte, doch er hatte überlebt.

Er war jetzt fast achtzehn Jahre alt und sein gesamter Besitz passte noch wie damals in seinen Kindertagen in den Beutel, den er auf dem Rücken trug. Sein braunes Haar ließ er nach wie vor bis auf die Schultern fallen, denn seine Ohren standen auch im Alter eines jungen Erwachsenen wie die Segel eines Schiffes ab. Er war kräftig geworden in den vergangenen Jahren und überragte viele um einen Kopf.

Jorge vernahm eilige Schritte aus dem Inneren des Hauses.

Die Tür wurde aufgerissen und Clas Wibbeking stand vor ihm. Der frühere Bergmeister war um die Hüften herum etwas fülliger geworden und trug sein Haar länger als damals. Ansonsten aber hatte er sich kaum verändert.

Prüfend sah Wibbeking den Besucher an, erkannte ihn aber augenscheinlich nicht.

Kein Wunder, dachte dieser. Ich war damals noch ein Junge, heute bin ich ein Mann. »Ich bin es, Jorge«, meinte er. »Ich habe Euch aus dem Berg gezogen und Ihr habt versprochen, mir zu helfen, wann immer ich Hilfe benötigte.«

»Du bist Jorge?«, fragte Clas Wibbeking verwundert.

»Ja. Ich habe damals zugesagt, zu Euch zurückzukehren, und habe mein Wort gehalten. Jetzt bitte ich Euch, ebenso zu verfahren. Es war in Schneeberg, Ihr lagt im Krankenbett in einem Gasthaus. Friedrich Rappolt war dabei. Er …«

Wibbeking zog Jorge an sich und umarmte ihn. »Du hast lange gebraucht, um mir Gelegenheit zu geben, mich erkenntlich zu zeigen.« Er zog ihn an der überraschten Magd vorbei ins Hausinnere. »Hol Wasser«, wies er die Bedienstete an. »Er soll sich waschen.«

Das Mädchen nickte und verschwand.

Jorge, der an die Brühe dachte, die er eben erst weggeschüttet hatte, protestierte. »Das Wasser hier macht nicht sauber, sondern schmutzig.«

Clas lachte lauthals auf. »Da hast du recht. Aber wir haben einen eigenen Brunnen im Hof. Unser Wasser eignet sich zwar auch nicht zum Trinken, ist aber klar genug, um dich wieder in einen Menschen zurückzuverwandeln.« Er sah an Jorge hinunter. »Und andere Kleidung brauchst du auch. Du bist fast ebenso groß wie ich, da könnten dir einige meiner Sachen halbwegs passen.« Er schlug sich auf den Bauch. »Aus einer Zeit, bevor mir diese Kugel gewachsen ist. Und nun reinige dich und zieh dich um. Dann möchte ich dich meinem Bruder vorstellen.«

Die Magd kam zurück und forderte Jorge auf, ihr zu folgen. Sie führte ihn durch die mit Rundsteinen gepflasterte Diele, die sich im hinteren Bereich des Hauses zu einem großen Raum verbreiterte. Dort befand sich die Küche, von der eine Tür in den Hof abging.

Die Bedienstete zog aus einem der Schränke, die sich über die ganze Seitenwand erstreckten, ein Tuch aus grobem Leinen hervor, füllte einen Eimer mit heißem Wasser vom Herd, drückte diesen Jorge in die Hand und zeigte nach draußen auf den Brunnen: »Da kannst du dich waschen. Ich bringe dir gleich die Kleidung des gnädigen Herrn.«

Einige Minuten später geleitete sie Jorge zurück in den vorderen Hausbereich, wo sie unter einer steilen Treppe vor einer Tür stehen blieb. Sie klopfte, öffnete und sagte durch den Spalt: »Euer Besucher ist jetzt bereit.« Dann machte sie Platz und ließ Jorge eintreten.

Unwillkürlich zog dieser den Kopf ein, als er die Stube betrat. Die Zimmerdecke mochte sich nicht viel mehr als eine Handbreit über ihm befinden. Den Raum füllte ein großer Eichentisch, der vor einer fest mit der Wand verbundenen Bank stand, die unter der Sitzfläche mit Schubladen versehen war. Auf dem Tisch lagen in Leder gebundene Bücher, die handschriftliche Eintragungen enthielten, Wachsplatten und ausgebreitete Papiere. Neben dem Tisch stand ein älterer Mann in der Kleidung eines Kaufmanns, der eine starke Ähnlichkeit mit Clas hatte und Jorge neugierig musterte.

An der rechten Wand entdeckte der Jüngling eine mehrere Ellen lange, schwere Holzkiste, deren Deckel offen stand. Darin lagen, soweit er es erkennen konnte, Schriftrollen und Bücher. Zwei weitere, kleinere Bänke befanden sich links und rechts des Fensters, welches zur Straße führte. Darauf lagen Kissen und auch die Rückenlehnen dieser Sitzmöbel waren gepolstert. Auf einer von ihnen saß Clas Wibbeking, der aufblickte, als der Besucher eintrat.

Jorge blieb in der Mitte des Raumes stehen und wartete.

Clas Wibbeking legte das Buch beiseite, welches er in Händen hielt, ging zu seinem jungen Freund und schob ihn ein Stück in die Richtung des anderen Mannes. »Konrad, dies ist Jorge.«

Der Kaufmann machte einige Schritte auf Jorge zu und lächelte. »Clas hat mir viel von deinem Mut erzählt. Sei herzlich willkommen in unserem Haus.«

Erst jetzt bemerkte der junge Mann, dass der ältere Wibbeking seinen Oberkörper seltsam schräg hielt. Das lag an seinem kleinen Buckel, der zwar durch weite Kleidung getarnt wurde, trotzdem aber nicht zu übersehen war. Außerdem zog der Kaufmann das rechte Bein ein wenig nach.

»Danke.« Jorge fühlte sich unwohl in seiner Haut. Jetzt, wo er den Brüdern gegenüberstand und die Kluft des einen trug, war er sich nicht mehr sicher, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, nach Lübeck zu kommen. Was wollte er hier? Und welche Hilfe erwartete er? Den Besucher beschlichen Zweifel, ob es nicht nur die Einsamkeit gewesen war, die ihn in die Hansestadt getrieben hatte.

»Du sprachst eben davon, dass du Hilfe benötigst«, begann Clas. »Wenn du es dir anders überlegt hast und nun doch eine Belohnung möchtest – nur zu. Ich habe sie dir in Schneeberg versprochen und ich stehe zu meinen Zusagen.«

Jorge war beschämt. Diesen Eindruck hatte er nicht erwecken wollen. Deshalb schüttelte er energisch den Kopf. »Nein, das ist nicht der Grund meines Hierseins.«

»Sondern?«, fragte der ältere der Brüder.

Der junge Mann trat verlegen von einem Bein auf das andere. Schließlich konnte er sich zu einer passenden Antwort durchringen. »Ich suche Arbeit, um Geld zu verdienen. Und ich suche ein Zuhause.« Seine Stimme erstarb. »Freunde, die mir beistehen«, sagte er leise. »Vielleicht eine Frau.« Er zögerte ein wenig, bis er den nächsten Satz aussprach. »Ich bin auf der Suche nach einer Heimat.«

Die Brüder schwiegen betreten. Dann erwiderte Konrad: »Arbeit kann ich dir geben. Auch eine Kammer wird sich für dich finden. Freundschaft jedoch musst du dir verdienen. Ob Lübeck deine Heimat wird, liegt nur an dir.«

Jorge nickte.

»An welche Arbeit hast du denn gedacht?«, fragte Clas Wibbeking. »Oder andersherum: Was kannst du?«

»Ich habe vieles auf meiner Wanderung gemacht: Ställe ausgemistet, bei der Ernte geholfen, Kühe gehütet. Einmal habe ich zwei Monate am Bau eines Hauses mitgearbeitet.«

»Was hast du da genau getan?«

»Den Baumeister bei der Abrechnung unterstützt, Warenlisten geführt und natürlich auch Steine und Balken geschleppt. Wenn ich es recht überlege, sogar häufiger Steine getragen als geschrieben.«

»Du beherrschst die Schreibkunst?« Konrad schien verwundert.

»Ja.«

»Was kannst du noch?«

»Lesen natürlich. Deutsch und Latein. Und rechnen.«

»Beherrschst du auch die lateinische Schrift?«

»Ja.« Jorge grinste verlegen. »Vermutlich sogar besser als die deutsche.«

»Wie das?«

»Ich besitze nur eine lateinische Grammatik, keine deutsche. Alles, was ich weiß, habe ich mir aus ein paar Büchern beigebracht.«

Clas ging zum Tisch, griff nach einem Stück Papier und reichte es dem jungen Mann. »Was steht da?«

Jorge studierte die lateinischen Zeilen. »Ein Mann namens Rotolo erklärt, dass er sich verpflichtet, dieses Papier bis zum Ende des Jahres gegen eine Summe von einhundert Goldgulden einzulösen. Er hat unterschrieben. Nur das Wort, welches über seinem Namenszug steht, kenne ich nicht.«

»Das heißt ›Wechsel‹. Das Schriftstück ist eine Art Zahlungsmittel.«

»Wie Münzen?«

»So ähnlich.« Clas sah seinen Bruder an. »Was meinst du?«

»Er soll uns noch eine Probe seiner Rechenkünste geben.« Und zu Jorge gewandt, fragte Konrad: »Wenn ich fünf Ballen Wolle zu je zweihundertfünfzig Lübische Mark kaufen will und der Verkäufer erlässt mir auf den Endpreis zehn vom Hundert, wie viel Mark muss ich dann zahlen?«

Jorge rechnete und nahm seine Finger zur Hilfe. Nach kurzer Zeit nannte er das Ergebnis.

»Das ist richtig.« Konrad Wibbeking schien befriedigt. »Geflunkert hat er jedenfalls nicht«, sagte er zu Clas. »Er beherrscht das, was er vorgegeben hat. Ich denke, wir sollten es mit ihm versuchen.«

Sein Bruder nickte.

»Was wollt Ihr mit mir versuchen?«

»Wenn du willst, kannst du bei uns in der Dornse als Hilfsschreiber arbeiten und in einer Kammer in unserem Lagerhaus am Hafen wohnen. Einverstanden?«

»Natürlich.«

»Willst du nicht wissen, was du verdienen wirst?«

»Ihr werdet mich gewiss angemessen bezahlen. Und wenn nicht, fordere ich das mir Zustehende schon ein.«

»Zumindest scheut er sich nicht, sein Wort zu machen.« Konrad lachte und zückte die Geldkatze.

Jorge winkte ab. »Ich möchte nichts ohne Gegenleistung von Euch.«

»Das sind keine Almosen, Junge. Wenn du bei uns arbeiten sollst, musst du korrekt gekleidet sein. Die Sachen meines Bruders scheinen dir nicht recht zu passen. Die Ärmel sind zu kurz und das Wams ist zu weit. Den Betrag, den ich vorstrecke, werde ich dir in kleinen Raten vom Lohn abziehen. Clas wird dir zeigen, wo du wohnen wirst und wo du dich einkleiden kannst. Akzeptierst du?«

Nach kurzem Zögern antwortete Jorge: »Ja.«

Konrad Wibbeking streckte ihm die Hand entgegen. »Dann schlag ein.«

Sie gaben sich die Hand und bestätigten so den geschlossenen Kontrakt.

»Und nun hole deinen Beutel und lass uns einen Moment allein.«

Als Jorge den Raum verlassen hatte, meinte Clas: »Du willst das Geld nicht wirklich zurückfordern, oder?«

»Doch. Aber ich werde den Betrag vorher zu dem hinzuaddieren, was ich ihm zahlen wollte.«

Clas lachte.

»Der junge Mann scheint mir trotz seines bescheidenen Auftretens zu stolz zu sein, um sich irgendetwas schenken zu lassen«, erklärte Konrad. »Du hast ihm ein Versprechen gegeben. Dazu stehen wir. Denn Wibbekings begleichen stets ihre Schulden, auch wenn der Schuldner gerade keinen Wert darauf legt. Außerdem ist der Junge ein heller Kopf. Und solche Leute können wir immer gebrauchen.«

2

Lübeck, 7. April 1506

Marlein war mit ihren fast fünfzehn Jahren zu einer jungen Frau herangereift. Sie hatte ein anmutiges Gesicht, bewegte sich graziös und trat jedermann freundlich gegenüber. Die roten Haare fielen in weichen Locken auf ihre Schultern. Aber genau wegen dieser Haarfarbe war Marlein in letzter Zeit teils offenen, teils verdeckten Anfeindungen ausgesetzt. Manche tuschelten hinter ihrem Rücken, bei ihrer Geburt sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen und der Teufel habe seine Hände im Spiel gehabt. Ein kleines Mädchen mit roten Haaren wurde toleriert, eine fast erwachsene Frau hingegen nicht. Viele Lübecker unterstellten ihr ein ausschweifendes Leben, obwohl sie noch nicht einmal richtig erwachsen war. Um diesen Vorurteilen keinen Vorschub zu leisten, kleidete Marlein sich besonders züchtig und versteckte ihre Haarpracht unter einer dichten Haube, die eigentlich nur verheiratete Frauen trugen. Aber auch das führte zu Missverständnissen und Gerede. So vermied Marlein fast jede Nähe zu den jungen Männern, die sie trotz oder gerade wegen ihres roten Haares und des damit einhergehenden Rufes umschwärmten.

Ihrem Onkel Jobst war dieses Interesse nicht unangenehm, saß ihm doch sein Bruder Hinrick im Nacken, der aus dem entfernten Hattingen immer stärker darauf drängte, dass seine Tochter endlich einem der jungen und vor allem reichen Kaufmannssöhne versprochen wurde. Aber Marlein widersetzte sich hartnäckig dem Werben der Freier. Sie fühle sich noch nicht reif für eine Heirat, hatte sie ihrer Tante Irmla anvertraut, und diese brachte sogar Verständnis für die Weigerung des Mädchens auf.

Nicht, dass Irmla van Enghusen etwas dagegen hatte, dass ihr Mann sich um die Interessen ihrer Nichte kümmerte. Er war Marleins Vormund an ihres Vaters statt. Und Väter suchten die Ehemänner für ihre Töchter aus, so war es schon immer gewesen und so würde es auch immer bleiben. Nein, Irmla hielt Marlein schlicht für zu jung für eine Hochzeit. Die Bedenken gegen eine schnelle Eheschließung behielt sie jedoch für sich, um ihren Mann nicht gegen sich aufzubringen. Und so lavierte sie zwischen den Fronten und versuchte, ihrem Mann einen Bewerber nach dem anderen madigzumachen, wann immer es die Situation erlaubte. Sie flüsterte ihm ein, dass die jungen Männer, die um Marleins Gunst buhlten, entweder nicht wohlhabend, ihre Familien nicht angesehen oder ihre Absichten nicht ehrenvoll genug seien, um ihrer Nichte den Hof zu machen. Und so kam es, dass sich die Bewerberschar immer stärker ausdünnte.

Nur Thomen Bandetti, ältester Sohn einer vor zwei Generationen aus Venedig zugezogenen Händlerfamilie, ließ sich nicht so leicht abschrecken. Hartnäckig sprach er immer wieder bei den van Enghusens vor, passte Marlein auf ihrem Schulweg ab, um sich mit ihr zu unterhalten und um sie zu werben, machte ihr kleinere Geschenke. Aber die junge Frau blieb stur. Höflich, aber bestimmt wies sie alle Annäherungsversuche des fast zwanzigjährigen Bandetti zurück, sehr zum Unmut ihres Onkels. Dabei ging es Jobst weniger um die Person des Freiers, vielmehr brachte ihn die immer wiederkehrende Ablehnung jedes neuen Werbers durch Marlein langsam aus der Fassung.

Er ärgerte sich mittlerweile heftig darüber, seiner Nichte entgegen allen Regeln aus einer Laune heraus an ihrem vierzehnten Geburtstag versprochen zu haben, dass sie sich ihren Ehemann selbst aussuchen könne. Wann immer er ihr einen Bewerber ans Herz legen wollte, erinnerte sie ihn an diese Zusage. Und Jobst wusste nicht, wie er die Versicherung wieder zurückziehen könnte, ohne sein Gesicht zu verlieren. Also hoffte er, dass sich Marlein möglichst bald eines Besseren besinnen und einen der jungen Männer, die sie umschwärmten, endlich erhören würde.

Dieser Situation war es geschuldet, dass es Jobst van Enghusen recht unangenehm war, als er in einer der Schenken am Markt, deren Nebenzimmer der Schiffergesellschaft als Versammlungsraum diente, zufällig auf Antonio Bandetti traf, den Vater Thomens.

»Herr van Enghusen. Schön, Euch zu sehen.«

Jobst neigte den Kopf und begrüßte den Händler höflich.

Bandetti schaute sich um. »Die Schiffergesellschaft sollte langsam ihre Planungen realisieren und sich ein eigenes Gebäude zulegen«, raunte er. »Ihr trefft Euch in diesem Gasthaus, als ob die Mitglieder Eurer Gemeinschaft gewöhnliche Zecher wären.«

Van Enghusen ärgerte sich über diese Anmaßung. Bandetti war kein Mitglied des Schiffergelags. Er verdiente sein Geld zwar auch im Handel, kaufte und verkaufte aber lediglich das, was Männer wie Jobst und sein Partner Albrecht Schulten auf eigenes Risiko über die Meere heranschafften. Da Bandetti kein eigenes Schiff unterhielt oder an einem beteiligt war, konnte er auch kein Mitglied der Gesellschaft werden.

»Wir werden uns mit dieser Frage befassen«, antwortete van Enghusen ausweichend. Seine tiefe Stimme dröhnte, obwohl er sich bemühte, leise zu sprechen. Freunde neckten ihn häufig damit, er würde brummen wie ein Bär. Wie ein sehr großer, kräftiger Bär allerdings.

»Ein vernünftiges Vorhaben. Lasst Ihr Euch von mir zu einem Becher Wein einladen?«

Jobst konnte dieses Angebot schlecht ablehnen. So wie es aussah, war er der erste Gildebruder, der zum Treffen gekommen war. Es wäre eine Beleidigung, würde er Bandetti ohne guten Grund zurückweisen.

»Gerne«, erwiderte er deshalb.

Sie suchten sich einen Platz im hinteren Teil des Raumes, etwas entfernt von dem fröhlichen Trubel der Gaststätte.

Nachdem die Bedienung einen Krug Wein geholt, zinnerne Becher auf den Tisch gestellt und ihnen eingeschenkt hatte, hob Bandetti sein Trinkgefäß. »Auf unsere Kinder und die uns Anvertrauten.«

Van Enghusen wusste, wen der Händler meinte. »Auf sie«, bekräftigte er und trank.

Dann kam der Kaufmann zur Sache. »Ihr wisst, dass mein Sohn Thomen Eurer Nichte Marlein den Hof macht?«

»Selbstverständlich.«

»Und was würdet Ihr zu einer solchen Verbindung sagen?«

»Ich bin nur ihr Onkel, nicht ihr Vater«, vermied Jobst van Enghusen eine klare Antwort.

»Aber Ihr erfüllt die Rolle Ihres Vormundes, oder?«

»Das schon.«

»Dann habt Ihr ein gewichtiges Wort bei der Auswahl des Bräutigams mitzureden.«

Van Enghusen deutete ein Nicken an.

Bandetti griff erneut zum Becher. »Wie Ihr wisst, laufen meine Geschäfte gut. Meine familiären Bindungen nach Norditalien sind meinen Handelsbeziehungen mehr als dienlich. Ein Bündnis unserer Familien würde uns beiden nur zum Vorteil gereichen. Ich könnte mir in einem solchen Falle vorstellen, Euch beziehungsweise Eurem Bruder bei der Höhe der Mitgift entgegenzukommen.«

»Wie meint Ihr das?«

»Wir könnten enger zusammenarbeiten, vielleicht sogar eine gemeinsame Gesellschaft gründen. Meine Kontakte nach Norditalien und Eure Erfahrung als Schiffer auf der Ost- und Nordsee …« Er ließ den Satz unvollendet.

Nun verstand van Enghusen, was sein Gegenüber meinte. Ein Schiff zu kaufen und vor allem nebst Besatzung zu unterhalten, war ein kostspieliges Unterfangen. Ein, zwei erfolglose Fahrten und dem Eigner drohte der Ruin. Bandetti besaß keine Kogge und erhoffte sich von der Heirat seines Sohnes mit Marlein und dem gemeinsamen Kauf eines Schiffes ohne allzu großes eigenes finanzielles Engagement Zugang zu der exklusiven Schiffergesellschaft. Dafür verzichtete er auch auf einen Teil der Mitgift. Wie großherzig. Natürlich wollte Jobst Marlein verheiraten. Je eher, desto besser. Aber nicht um jeden Preis. Und nicht an den Sohn dieses Mannes. Bandetti war van Enghusen noch nie besonders sympathisch gewesen. Jetzt verhinderte nur Jobsts Höflichkeit, dass er seine Abneigung offen zeigte.

»Die Entscheidung über die Mitgift hat sich mein Bruder vorbehalten«, brummte er kühl. »Meine Geschäfte haben mit den seinen nicht das Geringste zu tun.«

Ob Bandetti den veränderten Tonfall bemerkt hatte, war in seiner Miene nicht auszumachen. »Sicher. Trotzdem wäre eine Heirat Eurer Nichte mit meinem Sohn aus geschäftlichen Gründen sinnvoll.«

»Damit habe ich mich noch nicht beschäftigt. Ich weiß nur, dass meine Nichte keine Absicht hat, Euren Sohn zu ehelichen.«

Bandetti war überrascht. »Ich dachte … Ist sie etwa bereits einem anderen versprochen?«

»Nein.«

Der Händler atmete erleichtert aus.

»Aber ich befürchte, meine Nichte trägt sich nicht mit Heiratsabsichten. Sie fühlt sich noch zu jung für die Ehe. Außerdem möchte sie zunächst ihre Schulausbildung beenden.«

»Ihr solltet Eurer Nichte diese Flausen austreiben, werter Herr van Enghusen. Ein Mädchen entscheidet nicht darüber, ob und wen es heiratet, das tut sein Vater oder Vormund. Und zu jung? Marlein ist doch fast fünfzehn, oder? Was die Schule angeht: Ich habe Euch und die anderen Herren des Schiffergelags nie verstanden. Warum schickt Ihr Eure Töchter auf eine Schule, die Ihr noch dazu selbst bezahlt? Mädchen gehören in die Stube und so schnell wie möglich an die Seite ihres Ehemannes, der dann für sie sorgt und ihnen alle Lasten abnimmt. Frauen haben im Geschäftsleben nichts zu suchen. Eure Nichte lernt Latein oder gar kaufmännisches Rechnen? Der Kopf eines Mädchens ist nicht dazu gemacht, sich mit solch schwierigen Problemen zu befassen. Lasst sie zu Hause und Ihr werdet sehen, sie wird es Euch mit Gehorsam danken.«

Da kennst du aber Marlein schlecht, dachte van Enghusen. Und wenn dein Sohn ähnlich denkt, dürfte eine solche Ehe, käme sie überhaupt je zustande, mit dem Unglück beider enden.

Bevor sich Jobst jedoch eine passende Antwort zurechtgelegt hatte, trat einer seiner Gildebrüder an ihren Tisch und bat ihn um ein kurzes Gespräch unter vier Augen.

Erleichtert über die Gelegenheit, Antonio Bandetti zu verlassen, sprang van Enghusen auf, verabschiedete sich eilig und folgte seinem Kameraden in ihren Versammlungsraum.

3

Hattingen, 8. April 1506

Ella van Enghusen ging es nicht gut. Seit Wochen schon plagten sie Schmerzen in der Brust. Der Bader hatte sie mehrmals erfolglos zur Ader gelassen. Für kurze Zeit linderten Kräuteraufgüsse, die sie trank, ihre Beschwerden. Aber diese Tinkturen halfen nicht dauerhaft. Irgendwann kamen das Stechen im Oberkörper und der hartnäckige Husten unweigerlich zurück.

Ihrem Mann hatte sie ihre gesundheitlichen Probleme bis jetzt verschwiegen. Der hatte ohnehin keine Augen und Ohren für die Sorgen seiner Frau – ihn trieben Tag und Nacht die Geschäfte um.

Der Viehhandel stellte schon lange nicht mehr die Haupteinnahmequelle der Familie dar. Systematisch hatte Hinrick van Enghusen sein Engagement in diesem Bereich verringert. Die Winter waren strenger geworden, das Vieh verblieb länger in den Ställen und musste mit zugekauftem Heu gefüttert werden. Gleichzeitig murrten die Hattinger Bürger über die Fleischpreise und der Rat sah sich zunehmendem Druck ausgesetzt, keine Preiserhöhungen mehr zu billigen. Steigender Kostendruck auf der einen, geringere Erlöse auf der anderen Seite ließen den Viehhandel immer riskanter werden. Van Enghusen hatte diese Entwicklung glücklicherweise kommen sehen und sich rechtzeitig vom Großteil seiner Viehbestände getrennt. Einige der Weiden hatte er verkauft, weitere verpachtet. Nur ausgewählte Zuchttiere hatte er behalten und veräußerte deren Kälber an andere Händler. So minimierte er sein Risiko.

Dagegen hatte sich der Steinbruch als wahre Goldgrube entpuppt. Die Vereinbarung, die van Enghusen mit dem verstorbenen Amtmann und Drosten von Burg Blankenstein, Kracht von Mylendonk, getroffen hatte, wurde auch von dessen Nachfolger Berthram von Luitzenrode getreulich eingehalten. Da hatte sich der Handel mit dem betagten Drosten wahrlich gelohnt. Dabei hatte der Händler seine Felle bereits davonschwimmen sehen, als der Amtmann nur wenige Monate nach der getroffenen Vereinbarung gestorben war. Gut, dass auch sein Nachfolger einem für beide Seiten profitablen Geschäft nicht abgeneigt war.

So lieferte van Enghusen als Einziger sämtliche Steine, die die Stadt Hattingen benötigte und dementsprechend bezahlte. Und da vor allem der aus der immer noch geltenden Kornakzise finanzierte Bau der Befestigungsanlagen der Stadt zügig vorangetrieben wurde, füllten sich die Geldbeutel des Drosten und van Enghusens gleichermaßen.

Schließlich war da noch das Weinhaus, im Herzen der Stadt gelegen. Die darin befindliche Schenke warf ebenfalls einen beachtlichen Gewinn ab. Kurzum: Die Geschäfte des Bürgermeisters gingen glänzend.

Es war fast Mittag. Van Enghusen hatte eine Verabredung mit Evert Kielmann, einem Händler, dessen Haus nicht weit von dem seinen in der Keilstraße stand. In wenigen Gehminuten erreichte der Bürgermeister das Gebäude.

Kielmann hatte um das Gespräch gebeten. Geschäftliches habe er zu bereden, hatte er seinen Wunsch begründet. Eigentlich wäre es an ihm gewesen, van Enghusen aufzusuchen, und nicht umgekehrt. Aber Hinricks Position in der Stadt war angesichts der ständigen Auseinandersetzungen der Vergangenheit über die Fleischpreise geschwächt. Er wurde immer noch mit deren Erhöhung in Verbindung gebracht. Daher erschien es ihm als Bürgermeister sinnvoll, nicht zu sehr auf Rang und Namen zu achten, um nicht als hochnäsig zu gelten. Außerdem war Kielmann erst vor einigen Monaten in den Rat der Stadt berufen worden, hatte sich dort bislang allerdings nicht besonders hervorgetan.

»Werter Herr van Enghusen«, begrüße der Händler ihn sichtlich erfreut. »Ich bin Euch zu Dank verpflichtet, dass Ihr den Weg in mein bescheidenes Haus gefunden habt.« Er geleitete Hinrick in die Stube, wo prasselndes Kaminfeuer behagliche Wärme erzeugte.

Es war zu kalt für Anfang April. Noch im März hatte es heftig geschneit und die Nächte waren frostig. Die Bauern waren mit der Bestellung ihrer Felder in Verzug. Die Ernte würde wie im letzten Jahr unter der schlechten Witterung leiden und die Preise für Lebensmittel, vor allem für Fleisch und Brot, dürften weiter steigen. Van Enghusen beglückwünschte sich erneut zu seinem Entschluss, weitgehend aus dem Viehhandel ausgestiegen zu sein. Der Zorn der Bevölkerung über die Preiserhöhungen traf alle, die in dem Gewerbe tätig waren, und machte auch vor den Mitgliedern des Rates nicht halt. Wer als Bürgermeister wiedergewählt werden wollte – und das war van Enghusens Absicht –, tat gut daran, nicht Ziel dieses Unmutes zu sein.

»Möchtet Ihr etwas essen? Und einen Becher heißen Würzwein vielleicht?«

»Essen? Nein. Aber Wein wäre nicht schlecht. Er vertreibt die Kälte aus den Gliedern.«

Evert Kielmann machte eine auffordernde Handbewegung. Erst jetzt bemerkte van Enghusen Wolf, den jüngeren Bruder des Kaufmanns, der wortlos in einer dunklen Ecke des Raumes gewartet hatte, sich nun tief verbeugte und dann loslief, um den Wunsch des Älteren zu erfüllen.

»Ihr habt doch sicher nichts dagegen, wenn mein Bruder an unserer Unterhaltung teilnimmt? Er ist jetzt sechzehn und ich möchte ihn mehr und mehr in die Geschäfte der Familie einbeziehen. Er kann von einem erfolgreichen Kaufmann wie Euch nur lernen.«

Obwohl van Enghusen sich fragte, weshalb ihm Kielmann schmeichelte, genoss er doch die Anerkennung, die aus dessen Worten sprach. »Natürlich nicht. Der Knabe kann unserem Gespräch beiwohnen.«

Sie tranken den Wein am Tisch vor dem Kamin.

Kielmann kam ohne weiteres Vorgeplänkel zur Sache: »Ich habe gehört, dass Ende Mai in Lübeck der Hansetag beginnt.«

»Das ist richtig.«

»Hattingens Interessen werden von Unna vertreten?«

»Natürlich. Aber worauf wollt Ihr hinaus?«

»Die Stadt Hattingen zahlt für die Gesandtschaftskosten der sogenannten ›vornehmen Stadt‹ Unna, darf aber am Hansetag selbst nicht teilnehmen?«

Es schien, als ob das Ratsmitglied die Antwort auf seine Frage bereits kannte. Trotzdem erwiderte van Enghusen: »Ja. Wir werden aber ausführlich informiert. So steht es in den einschlägigen Rezessen, den Vereinbarungen, die seit Jahrzehnten immer wieder bestätigt wurden.«

»Wer zahlt, sollte auch mitreden und mitentscheiden können, finde ich.«

»Euer Wort in Gottes Ohr. Aber die Vorteile, die wir alle aus der Zugehörigkeit Hattingens zur Hanse ziehen, sind auch so groß genug. Unsere Waren werden in den anderen Hansestädten zollfrei vertrieben. Das verschafft uns einen erheblichen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz. Wir haben Stapelrechte in London und Bergen und können uns der Kontakte der Hanse bedienen, wann immer wir es als sinnvoll erachten.«

»Aber wir entscheiden nicht«, beharrte Kielmann auf seiner Meinung. »Einer der Unseren sollte zum Hansetag reisen.«

»Ein frommer Wunsch, nicht mehr.« Der Bürgermeister griff zum Becher und trank. »Selbst wenn wir beide dieser Auffassung sind, dürfte deswegen die Hanse ihre Regeln nicht ändern«, meinte van Enghusen lächelnd. Die Naivität Kielmanns erstaunte ihn. Obwohl der Mann erst knapp zwanzig Jahre zählte, konnte er doch nicht tatsächlich annehmen, dass die Hanse ein seit Jahrhunderten bewährtes Delegationsverfahren so einfach über den Haufen werfen würde.

»Das tut sie sicher nicht. Aber warum kann nicht einer unserer Bürgermeister mit der Delegation Unnas reisen?« Das Ratsmitglied schaute van Enghusen auffordernd an. »Ihr könntet dieser Mann sein, finde ich.«

Einen Moment war Hinrick verblüfft. Kielmann meinte den Vorschlag wirklich ernst, das sah er ihm an. Konnte das eine denkbare Möglichkeit sein? Natürlich wäre es reizvoll, die Verhandlungen auf dem Hansetag zu verfolgen. Aber noch wichtiger waren die Kontakte zu den führenden Hansestädten wie Köln, Danzig oder selbstverständlich Lübeck, ›Vorstädte‹ genannt, die dort geknüpft werden konnten. Nach kurzem Nachdenken schüttelte van Enghusen trotzdem den Kopf. »Warum sollte Unna einen ihrer Plätze mit einem Hattinger besetzen?«

»Wisst Ihr, dass eine meiner Schwestern mit dem dortigen Bürgermeister verheiratet ist?«

»Nein.«

»Mein Schwager hat in den letzten Jahren einige Schwierigkeiten bei seinen Geschäften gehabt. Er sucht nun nach Partnern, die ihm ein wenig unter die Arme greifen können.«

»Er will Geld?«

»Nein. Er handelt mit Tuch. Und die Hattinger Tuchmacher bieten ihre Waren auch in Unna an und machen ihm heftig Konkurrenz. Wenn er also einen Fürsprecher hier im Rat fände, der sich dafür starkmachte, diese Konkurrenz im Zaum zu halten, wäre er im Gegenzug bereit, Euch als Mitglied der Gesandtschaft Unnas zum Hansetag aufzunehmen.«

»Das dürfte unseren Tuchmachern nicht gefallen.«

»Vermutlich. Aber wenn Ihr im Gegenzug die Marktgebühren für auswärtige Tuchhändler nur ein wenig erhöht, finden die heimischen Hersteller neue Absatzmöglichkeiten, die ihren Verlust in Unna mehr als wettmachen können.«

Van Enghusen schaute den jungen Kaufmann überrascht an. Er hatte ihn unterschätzt. Dieser Vorschlag war mehr als eine Überlegung wert. Nur was hatte Kielmann davon? Hinrick fragte ihn direkt.

»Ganz einfach. Zum einen helfe ich dem Mann meiner Schwester. Das verpflichtet ihn meiner Familie fast noch mehr als eheliche Bande. Zum anderen tue ich auch Euch einen Gefallen. Der Rat und die Unterstützung zweier so einflussreicher Bürgermeister können mir und meinen Geschäften doch nur zum Vorteil gereichen, meint Ihr nicht auch?«

Van Enghusen musste lachen. Kielmann hatte recht. Käme es zu einer solchen Regelung, hätte sie für alle Beteiligten nur Vorteile. Gewiss, der Rat und auch die hiesigen Tuchhändler müssten noch überzeugt werden. Aber gute Argumente hatte ihm Kielmann geliefert.

»Ja, da stimme ich Euch zu«, erwiderte Hinrick deshalb.

4

Lübeck, 8. April 1506

Nach Jahren hatte Jorge endlich wieder einen Ort, den er Heim nennen konnte. Seine Kammer lag direkt unter dem Dach des großen Speicherhauses am Travekai. Neben dem Zimmer lagerten, nur durch eine Bretterwand getrennt, die Waren, mit denen die Familie Wibbeking handelte. Die Ballen, Kisten und Fässer wurden mithilfe einer umsichtig konstruierten Vorrichtung durch große Luken in den Geschossböden auf das Dach gehievt. Auf einer beweglich gelagerten Achse von mehreren Schritten Länge war an einer Seite ein großes Holzrad angebracht, über das ein langes Tau lief. Dieses Seil wurde durch zwei kleine Öffnungen in den Böden bis in die Diele geleitet und seine Enden waren miteinander verknotet, sodass man es zu einem Kreis hätte auslegen können. Das Tau auf der Winde wurde in eine Nut geführt, damit es nicht abgleiten konnte. Die Nut selbst war aufgeraut und mit kleinen Querstücken versehen, um ein Durchrutschen des Seiles zu verhindern. Am anderen Ende der Achse rollte sich ein weiteres Tau, mit dem die Waren transportiert wurden, auf oder ab. Da der Durchmesser des Windenrades fast mannshoch war, der der Achse aber nur eine Handbreit, konnte aufgrund dieser vorteilhaften Übersetzung ein Mann Gewichte nach oben ziehen, für die es sonst die Kraft von mindestens drei Lagerarbeitern gebraucht hätte.

Jorge konnte sich glücklich schätzen. Der gemauerte Kamin führte, aus der großen Diele im Erdgeschoss kommend, durch seine Stube. Das einfache Holzbett stand direkt daneben. Im Winter würde er sich an den durch den Rauch erhitzten Steinen wärmen können. Da das Feuer in der Diele von Oktober bis April quasi ununterbrochen brannte, würde er nicht allzu sehr frieren müssen. Eine einfache Bank und eine Truhe vervollständigten das Mobiliar. Und was am wichtigsten war: Er musste seine Schlafstatt mit niemandem teilen.

Allerdings war der Weg von seiner Kammer zum Abort hinter dem Anbau auf dem Hof recht weit. Aber dafür war dieser überdacht, mit Seitenwänden vor dem Wind geschützt und nur wenige Schritte vom Brunnen entfernt.

Das Kontor der Wibbekings befand sich direkt rechts neben der Eingangstür und grenzte an den Kamin in der Diele. So blieb auch dieser Raum warm. Hier hatte der Schreiber seinen Platz, der samt Familie im Anbau wohnte. Die Diele diente ihnen als Küche und Speisezimmer gleichermaßen. Über dem Rauchfang hingen einige Würste und ein Schinken, um im Qualm des brennenden Holzes geräuchert zu werden. Die Frau des Schreibers achtete mit Argusaugen darauf, dass keiner der Packer oder Träger ihrem Besitz zu nahe kam. Versuchte doch einer, ein Stück Wurst zu stibitzen, musste er damit rechnen, schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Besenstock zu machen, der immer griffbereit neben dem Kamin stand.

Zu den Aufgaben der Schreibersfrau gehörte es, das Feuer in Gang zu halten, den Lagerarbeitern am Mittag einen warmen Brei zu kochen und sie tagsüber mit verdünntem Bier zu versorgen. Die Morgen- und Abendmahlzeiten nahmen die Männer in ihren eigenen Wohnungen ein, wobei diese meistens nur aus einem Kellerraum oder einer Kammer in einem der Ganghäuser bestanden, in denen sie mit ihren Angehörigen hausten.

Jorge hätte es schlechter treffen können. Er hatte gut geschlafen in den ersten zwei Nächten und war nicht von den Albträumen heimgesucht worden, die ihn häufig plagten. Darin durchlebte er immer wieder jene Momente, in denen nicht nur sein Hund, sondern auch Lucas sein Leben lassen musste. Und wenn er dann schweißgebadet aus dem Schlaf hochschreckte, fragte er sich jedes Mal, ob der Streit nicht vermeidbar gewesen wäre. Obwohl er sich einredete, den Tod Lucas’ nicht beabsichtigt zu haben, blieben die Zweifel. Und diese wurden mit der Zeit immer bohrender und verursachten schließlich jenes Schuldgefühl, das auf Jorge wie eine schwere Last lag.

Das Speicherhaus war nur durch die mächtige Mauer vom Kai getrennt. Alle Güter der einlaufenden Schiffe wurden durch ein kleines Tor in die Stadt geschafft. An der Anlegestelle lagen kleinere Koggen und die Schnuten, mit denen die größeren Schiffe, die aufgrund ihres Tiefganges in der Mitte der Trave ankerten, be- und entladen wurden.