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Sunil Mann

Der Kalmar

Kriminalroman

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

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Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/INTERPIXELS (Zürich); iStock/sunjeri (Mann)

Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-89425-796-5

1. Auflage 2022

Sunil Mann wurde als Sohn indischer Einwanderer im Berner Oberland geboren und gilt als einer der renommiertesten und vielfältigsten Autoren der Schweiz. Zwanzig Jahre lang hat er als Flugbegleiter gearbeitet, seit einigen Jahren ist er freischaffender Autor. Er schreibt Kriminalromane, Hörspiele, Kinder- und Jugendbücher. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet.

www.sunilmann.ch

Für Nadine

Freitag, 17:36 Uhr
Langstrasse

»Vaffanculo!« Wütend stiert er dem Mann hinterher, der vor wenigen Sekunden noch neben ihm gesessen hat. Ein dunkler Umriss im Türrahmen, der sich mit dem nächsten Schritt im flirrenden Nachmittagslicht auflöst.

Und mit ihm die einzig saubere Lösung für sein Problem. Unter keinen Umständen hatte er den Auftrag am Telefon besprechen wollen, da er sich nicht sicher ist, ob er abgehört wird. Deshalb die überstürzte Verabredung in dieser Bar. Der Kerl harrte nicht einmal aus, bis er sein Anliegen zur Gänze vorgebracht hat, sondern lehnte umgehend ab und gab sich weder von seinem Flehen noch von der Aussicht auf Verdoppelung des ohnehin mehr als großzügigen Honorars beeindruckt. Mit einem Schnalzen glitt er vom Barhocker und ließ ihn einfach sitzen.

Albanischer Türsteher mit erstaunlich wenig Dreck am Stecken, dafür permanent klamm. Einer, der für Geld alles tut. Er hat sich im Milieu umgehört und dann telefonisch einen Kontaktmann beauftragt, das kurzfristige Treffen zu arrangieren. Aus irgendwelchen Gründen ist das gehörig in die Hose gegangen und um andere Auswege aufzutun, fehlt ihm die Zeit. Bleibt also doch alles an ihm hängen.

»Porca miseria!« Ächzend pult er ein zerknülltes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und deponiert es auf dem Tresen, den Autoschlüssel legt er daneben. Hebt den Zeigefinger, um einen weiteren Chivas zu ordern.

Zwischen den Flaschen hinter der Bar verschwimmt sein Spiegelbild auf schlierigem Glas. Ein Mann im mittleren Alter. Weiche Konturen, die Haut teigig. Der Schweißfilm lässt sein Gesicht speckig glänzen, durch das lichte Haar leuchtet helle Kopfhaut. Er ist untersetzt, isst gern, treibt kaum Sport. Das Familienleben hat ihn lasch werden lassen.

Die Kellnerin wirft ihm einen scharfen Blick zu, dem er ungerührt standhält. Schließlich schnappt sie sich die Whiskyflasche und füllt das Glas zwei Fingerbreit. Ehe er sich bedanken kann, steuert sie auf die beiden jungen Frauen am anderen Ende des Tresens zu.

Zwei Gören, kaum achtzehn, in knappen und teuer aussehenden Kleidern. Sie sind eben erst hereingerauscht, die eine blond, die andere rothaarig. Eiskalte Visagen und diese genervte Was-willst-du-Attitüde, wiegender Hüftschwung und hart auf den Boden knallende Absätze. Jeder Schritt ein Pistolenschuss. Und jetzt sitzen sie aufgedreht kichernd nebeneinander und bestellen Drinks mit bunten Schirmchen. In einem Moment tough bitches, im nächsten feiern sie Kindergeburtstag. Wie Mädchen sind in dem Alter. Vorglühen für eine lange Nacht auf der Zürcher Sündenmeile, nimmt er an, bevor sich seine Gedanken wieder verdüstern.

Acht Jahre, führt er sich vor Augen. Acht friedvolle Jahre. Er hat darauf spekuliert, dass sie ihn vergessen haben, dass sie keine Verwendung mehr für ihn gehabt, ihn womöglich sogar absichtlich übersehen hatten. Wieso auch nicht? Hat es alles schon gegeben. Glück hat viele Gesichter. Dass sie ihn für einen Schwächling halten, stört ihn nicht. Im Gegenteil, in seiner Familie ist das ein Vorteil. Deshalb haben sie ihn bislang nie behelligt. Keine Aufträge, keine Befehle, die als fadenscheinige Bitten daherkommen. Keine ominösen Treffen mit zwielichtigen Gestalten, keine schmutzigen Deals, keine Waffen, Drogen, Leichen im Kofferraum. Acht Jahre lang haben sie ihn in Ruhe gelassen. An guten Tagen hat er geglaubt, es wäre für immer.

Wie sehr er sich geirrt hat, ist ihm am Vormittag klar geworden, als sein Handy die unbekannte Nummer angezeigt hat. Er ist drangegangen, natürlich. Das wird erwartet, solche Anrufe drückt man nicht weg. Gleichzeitig hat er sich verflucht dafür. Noch während er das Telefon an sein Ohr führte, hat er inständig auf eine weibliche Stimme mit Ostblockakzent gehofft, die ihm irgendeine unnötige Versicherungsleistung aufschwatzen wollte. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen sollte.

Loyalität. Vertrauen. Gehorsam. Alles großgeschrieben, in Leuchtbuchstaben, damit sie von der südlichsten Stiefelspitze Italiens bis ins Schweizer Mittelland zu lesen sind.

Er starrt auf sein Glas, den bernsteinfarbenen Whisky. Drei rasch schmelzende Eiswürfel treiben darin, anders bringt er den Dreck, den sie hier anbieten, nicht herunter. Später am Abend werden sie das Zeug flaschenweise verkaufen. Dann werden sie hier tanzen, schwitzende Körper dicht an dicht, flirten und küssen, in ausgelassener Stimmung feiern, als gäbe es kein Morgen. Um diese Zeit ist die Lambada Bar bis auf die drei Frauen und ihn leer.

Vor der Tür hängen wie immer die Zuhälter und Dealer ab, in Stühlen, die an Strandliegen erinnern. Die Jury einer abgehalfterten Castingshow. Überquellende Aschenbecher und halb leere Bierflaschen auf den Tischen, Tattoos auf muskulösen Oberarmen, Zigaretten in Mundwinkeln und träge Blicke, denen nichts entgeht. Er hat ihnen beim Betreten des Lokals zugenickt und sich ihnen abstruserweise für Sekundenbruchteile verbunden gefühlt. Stoische Mienen waren die Antwort, für sie war er nicht von Interesse, in keiner Hinsicht. Einzig ein Latino mit Strohhut senkte zum Gruß das Kinn. Immerhin, ist ihm durch den Kopf geschossen, nachdem er ganz kurz beleidigt gewesen war. Man sieht mir nichts an.

Ein Schluck Whisky, der torfige Geschmack lässt ihn das Gesicht verziehen. Mut antrinken, nüchtern kann er da unmöglich hin. Viel Zeit bleibt ihm nicht.

Er hatte so gehofft, den Auftrag delegieren zu können. Wenn dieser dämliche Stronzo von Türsteher bloß mitgespielt hätte. Barami oder Burani hat der geheißen. Jugo, eindeutig. Der perfekte Typ für seinen Auftrag. Zwischen ihnen hätte keiner eine Verbindung hergestellt.

Bajrami!, fällt ihm plötzlich ein, Bajram Bajrami. Triumphierend schnippt er mit den Fingern, die Kellnerin fährt herum und funkelt ihn an. Sie will keinen Ärger, verständlich, nicht jetzt schon.

Er lässt die Hand sinken und greift zum Tumbler. Leise knackt das Eis, ein beruhigendes Geräusch. Bajram Bajrami. Was für ein bescheuerter Name. Klingt nach Varietékünstler.

Abfällig stößt er die Luft aus und rückt den Barhocker unter seinem Hintern zurecht. Lilafarbenes Licht ergießt sich über den Tresen, die Wände sind mit goldfarbenen Pailletten übersät. Verzweifelt rotiert die Klimaanlage gegen die pampige Hitze an, die durch die offenen Fenster hereindrückt. Das weiße Leinenhemd klebt ihm längst am Rücken, die Flecke in der Achselgegend und unter seiner Brust vergrößern sich zusehends. Als er sich durchs Haar fährt, hinterlassen Pomade und Schweiß einen öligen Film an seinen Fingern.

Acht verdammte Jahre. Er hat wirklich geglaubt, er wäre davongekommen. Hat den Ball flach gehalten, wie sie ihm geraten haben, hat sich bemüht, nicht aufzufallen. Il Calamaro nennen sie ihn, den Kalmar. Ein zehnarmiger Tintenfisch, hochintelligent, der seine Farbe blitzschnell der Umgebung anpassen kann. Auch er hat sich angepasst. Hat die Farblosigkeit der Wohnsiedlung im Niemandsland zwischen Zürich und Bern angenommen, des gutbürgerlichen Lebens, ist unsichtbar geworden, so wie die Familie es verlangt hat. Eine Schweizer Ehefrau, zwei Töchter, Doppelhaushälfte mit Garten, mit den Nachbarn ist man locker befreundet. Gemeinsame Grillabende, Geburtstagspartys, weihnachtlich dekorierte Fenster in der Adventszeit. Für die Gemeindeversammlungen liefert er Häppchen und den Pinot Grigio aus dem Friaul, für die Kundschaft seines Lebensmittelgeschäfts gibt er den italienischen Spaßvogel. Redselig und stets zu Scherzen aufgelegt. Sein gebrochenes Deutsch unterstreicht den südländischen Charme, macht ihn beliebt, macht ihn harmlos. Man kauft gern bei ihm ein, nicht nur wegen der Tomaten, der Pancetta und des aromatischsten Büffelmozzarellas nördlich des Gotthards. Nein, er ist ein Ausländer, wie man sie in der Schweiz mag. Bescheiden, freundlich, angepasst. Arbeitsam. Bieder auch und ein klein wenig unterwürfig. Das gilt hierzulande als Kompliment.

Niemand weiß von den beiden Restaurantbetreibern, von den amerikanischen Touristinnen. Den Schweizer Zeitungen waren sie damals einzig eine Randnotiz wert gewesen. Auf den Zusammenhang wäre eh keiner gekommen.

Er nippt an seinem Glas. Der Geschmack wird nicht besser, der Drink wässriger.

Die Nerven hatten blank gelegen an jenem Nachmittag. Achtunddreißig Grad im Schatten, Sergio und er waren in Sachen Schutzgeld unterwegs, monatliche Routine, das lief normalerweise wie geschmiert. Rein, Umschlag einstecken, raus. Manchmal wurde eisgekühlter Limoncello serviert.

Die Umstände haben sich verändert. Neuerdings geben sich gerade jüngere Polizisten unbeeindruckt von der Macht der Familie, immer häufiger unbeeindruckt von den mit Banknoten vollgestopften Taschen, die irgendwann in den Kofferräumen der schwarzen Alfa Romeos mit dem weißen Carabinieri-Schriftzug liegen und in der Vergangenheit so manche Ermittlung verblüffend schnell ins Leere haben laufen lassen. Man geht investigativ vor, sucht Zeugen, Beweise, Spuren.

»Zu viele amerikanische Filme«, sagt sein Vater bisweilen und wiegt dazu sorgenvoll den Kopf. »Heutzutage will jeder ein Held sein.«

In Ravagnese haben sie einen ganzen Clan festgenommen, ein großzügig bestücktes Waffenlager und ein paar Hundert Kilo Koks ergaben siebzehn empfindlich lange Haftstrafen. Nicht so bei ihnen, da hält sich die ganze Familie an die Omertà, Schweigen ist gleichzusetzen mit Ehre. Ein unerschütterlicher Grundsatz.

Obschon die Bullen im Trüben fischten – die unbeschwerte Stimmung war im Arsch. Die Anspannung stieg.

Und ausgerechnet in dieser Situation stellten sich zwei Restaurantbetreiber quer, Guido und Maurizio Romano, ein Brüderpaar. Fanden die Schutzgeldabgaben überhöht, wollten die Bedingungen neu verhandeln, drohten tatsächlich mit der Polizei. Um unnötige Aufmerksamkeit zu vermeiden, setzte man anfänglich auf Einschüchterung. Die Brüder gaben sich uneinsichtig und beharrten auf ihren Forderungen. Worauf Onkel Elia, der als Capo Crimine für die Planung in der Familie zuständig ist, weniger subtile Maßnahmen anordnete.

Er ging allein mit seinem Cousin Sergio hin, unwillig und nervös. Obwohl es ein simpler Auftrag war und man ihn exakt aus diesem Grund ausgewählt hatte, war er noch nie der Mann fürs Grobe gewesen. Die Faust in der Jackentasche klammerte sich um den Griff einer halbautomatischen Beretta M1935 aus dem familiären Waffenbestand. Seine Handflächen waren bereits verschwitzt, als er die Pizzeria betrat. Ein bei den Touristen beliebtes Lokal am Meer, das zu einem schmucken Hotel gehörte. Der Deckenventilator schleuderte ihnen salzige Luft entgegen, innerhalb von Sekunden klebte seine Haut. Durch die offenen Terrassentüren war das Rauschen der Wellen zu hören, blassblaue Aquarelle an den Wänden, über den körnigen Verputz tanzten Lichtreflexe.

Die Atmosphäre war gereizt. Mit verschränkten Armen und trotzigen Mienen standen die Romanos zwischen ihren weiß gedeckten Tischen und verweigerten erneut jedes Zugeständnis. Machten auf dicke Hose, während sie sich vermutlich gerade zünftig in dieselben machten. Seine Finger zuckten vor Anspannung, der Puls pochte hart in seinen Schläfen, kitzelnd lief ihm der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinab und sammelte sich im Kreuz.

Plötzlich fuhr Maurizio zusammen, eine unerwartet hastige Handbewegung. Reflexartig zog Russo und drückte ab. Drei Schüsse, zwei Treffer. Er war ein mittelmäßiger Schütze. Die Wespe bemerkte er erst hinterher. Die beiden amerikanischen Touristinnen auf der Terrasse ebenfalls.

Vier Leichen an einem sonnigen Nachmittag, von denen zwei unweigerlich das Interesse von Interpol auf sich zogen – das war selbst der Familie zu viel. Er musste auf der Stelle verschwinden. In seinem Fall in ein winziges Nest im Aargau, wo ihn keiner vermutete. Acht Jahre Lebensmittelgeschäft und Gemeindeversammlung und Häppchen und Possen reißen. Aus den Lautsprechern im Laden Eros, Toto Cutugno und Laura Pausini. Und wenn ihn das Heimweh plagt, sogar Pavarotti. Pizza, Pasta, Parmigiano. Er hat sich damit abgefunden. Ab und zu schickt die Familie etwas Geld, will wissen, wie es ihm geht. Dann antwortet er, dass er glücklich sei.

»Porca miseria!«, zischt er, diesmal so leise, dass die Bedienung nichts mitbekommt.

Er hängt an seiner Frau, an den Mädchen. Sofia wird im Herbst sechs, Lara hat erst kürzlich ihren vierten Geburtstag gefeiert. So jäh aus dieser Idylle gerissen zu werden, erfüllt ihn mit Angst und Wut.

Er langt nach dem Whisky, hebt den Tumbler aber nicht an, sondern konzentriert sich auf das kühle Glas zwischen seinen Fingern. Mittlerweile sind sie zu zweit, die beiden jungen Frauen haben das Lokal verlassen. Die eine hat ihn beim Hinausgehen auf diese Art taxiert, die ihn früher in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht hätte. Heute lassen ihn Angebote dieser Art kalt. Na ja, fast. Genau auf seiner Höhe hat sie innegehalten, um am Riemchen ihres Schuhs herumzufummeln, was ihm einen Blick unter ihren kurzen Rock gewährte. Keine Unterwäsche. Er musste einfach hinsehen, er konnte nicht anders.

Er holt tief Luft und verscheucht das Bild. Diesen einen Auftrag wird er ausführen. Muss er ausführen. Weil sie ihm keine Wahl lassen. Familie eben. Danach muss das gleich wieder ein Ende finden, das hat er der Stimme am Telefon versucht klarzumachen. Dass er jetzt ein anderer sei und das Leben, das er zum Schein geführt habe, längst zu seinem eigenen geworden sei. Die Stimme hatte nur gelacht.

Freitag, 17:42 Uhr
Manesseplatz

Belén Vargas zieht die von winzigen Altersflecken gesprenkelte Haut unter ihrem linken Auge straff, setzt den Kajal an und zieht den Lidstrich ein weiteres Mal nach. Noch breiter, noch kräftiger. Grob bohrt sich die Spitze des Stifts in das empfindliche Gewebe. Sie wiederholt das Ganze auf der rechten Seite, überprüft ihr Aussehen. Und schmettert den Stift wütend gegen den Badezimmerspiegel.

»Qué puta mierda!«

Als hätte der letzte Durchgang gar nicht stattgefunden.

»Alles okay?« Die Stimme der Nigerianerin klingt desinteressiert, sie sitzt im Zimmer nebenan.

Wie schafft sie es, stets so teilnahmslos zu wirken?, fragt sich Belén und ruft »Alles gut« Richtung Tür.

Keine Reaktion.

Seufzend lehnt sie sich vor und betrachtet ihr Gesicht aus der Nähe.

Es ist wie verhext. Als würden sämtliche kosmetischen Hilfsmittel versagen. Grundierung, Wangenrouge, Lidschatten, Mascara, jetzt der Kajalstift – die Farben sind überdeutlich, sie hat nicht gespart damit. Andere Frauen macht Make-up in ihrem Alter attraktiver. Es verschmilzt auf vorteilhafte Weise mit ihrem Aussehen, lässt ein paar Jährchen verschwinden und unterstreicht im besten Fall sogar ihre Persönlichkeit. Sie dagegen sieht angemalt aus. Wie ein bizarrer Clown aus einem Horrorfilm. Selbst unter Anwendung einer ganzen Palette von Schönheitsprodukten schafft sie es nicht, sich den leisesten Hauch Glamour aufzupinseln. Dabei hätte sie gerade heute gern hübsch ausgesehen. Doch unter der ganzen Schminke bleibt ihr fades Äußeres sichtbar, die welke Haut, der teigige Teint. Kaum Sonnenlicht, wenig frische Luft, dazu die jahrelange Angst.

Weil ich nicht bloß so aussehe, denkt sie und bückt sich nach dem Kajalstift, der auf der türkisfarbenen Badematte gelandet ist, sondern so bin. So geworden bin. Farblos. Langweilig.

Ein Leben unter dem Radar. Dreiundzwanzig Jahre im Untergrund, dreiundzwanzig Jahre in permanenter Angst, entdeckt zu werden. Das hat Spuren hinterlassen, in ihrem Gesicht und auch sonst.

Damals ist sie als Touristin in die Schweiz eingereist, ohne das Land je wieder zu verlassen. Seit dem Tag, als ihr Visum abgelaufen ist, muss sie darauf achten, nicht aufzufallen.

Seufzend zupft Belén ein Kosmetiktuch aus der Tissuebox, drückt etwas Creme darauf und wischt die Schminke mit energischen Bewegungen ab. Lippenstift und Lidschatten, das muss reichen. Er wird ihr Angebot annehmen, er hat keine Wahl. Und sie die Nase endgültig voll.

Als Illegale kann es ihr schon zum Verhängnis werden, bei Rot über die Straße zu laufen. Sie hat kaum je ein Theater besucht, hat Konzerte und Paraden gemieden, große Menschenansammlungen sowieso, nach Sonnenuntergang geht sie selten raus. Reisen ins Ausland sind unmöglich, wenn sie Zug oder Straßenbahn fährt, dann mit gültigem Billett.

Die Pandemie hatte ihre Lage drastisch verschlimmert. Über ein Jahr lang gab es kaum Arbeit, weder in Restaurants noch in Wäschereien, Putzarbeiten erledigten ihre ehemaligen Auftraggeber plötzlich eigenhändig, da sie eh die ganze Zeit zu Hause saßen. Wo sie auch selbst auf ihre Kinder aufpassten. Es gab Tage, da wusste sie nicht, womit sie ihre Einkäufe bezahlen sollte. Dass es in der Stadt von Polizisten so wimmelte und Passanten zum Teil willkürlich kontrolliert wurden, war ein Albtraum für Menschen in ihrer Situation. Der Weg zum Supermarkt wurde zum Spießrutenlauf, ihre Freundinnen sah sie kaum noch, die Einsamkeit wurde zur ständigen Begleiterin. Hinzu kam die Angst, sich mit dem Virus anzustecken, ernsthaft zu erkranken. Einen Spitalaufenthalt hätte sie sich schlicht nicht leisten können.

Auch wenn sich die Lage etwas entspannt hat, verschanzt sich Belén die meiste Zeit in ihrem Mansardenzimmer am Manesseplatz und verlässt das Haus nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Zwar ist die Wohnlage wegen des Verkehrs ziemlich laut und womöglich zahlt sie eine zu hohe Miete, andererseits hat sie noch nie irgendetwas unterschreiben müssen. Dafür ist sie dem Hausbesitzer sehr dankbar. Er hilft ihr aber auch in anderen Belangen.

Denn das ist ein weiteres Problem in ihrem Leben als Sans-Papiers, als Papierlose. Sie kann keine amtlichen Dokumente unterzeichnen. Denn im Gegenzug müsste sie irgendeine Art von Ausweis vorlegen, der bezeugt, dass sie sich rechtmäßig in diesem Land aufhält. Was eindeutig nicht der Fall ist. Ihr Vermieter hat ein Handy für sie besorgt, für Fernsehen und Internet hat er ebenfalls Lösungen gefunden.

Belén steht auf und geht in den angrenzenden Raum, das Wohn- und Schlafzimmer zugleich ist. Joy sitzt auf dem Bett und ist in die handgeschriebenen Instruktionen vertieft. Sie schaut nicht auf, als Belén den schmalen Wandschrank öffnet.

Die passende Garderobe für den heutigen Anlass ist auf Anhieb gefunden, die Auswahl ist ohnehin nicht groß. Das hochgeschlossene grüne Abendkleid mit dem goldenen Schimmer passt perfekt zum Thema der Party. Und zu ihrem heiklen Vorhaben. Stilvoll und seriös, genau so will sie rüberkommen, er soll sie keinesfalls für eine schmierige kleine Gaunerin halten.

Das Teil ist Belén vor Jahren in einem Secondhandshop ins Auge gestochen. Nachdem sie es anprobiert hatte, hat sie lange vor dem Spiegel in der Umkleide gestanden und sich gefragt, ob sie sich so etwas leisten könnte. Die Gelegenheiten, das Kleid zu tragen, waren rar, sie wurde kaum eingeladen, ihre Kontakte beschränkten sich auf eine Handvoll andere Bolivianerinnen, die meisten davon Sans-Papiers wie sie, ihre Arbeitgeber und die Leute von der Anlaufstelle in der Kalkbreite. Am Ende war es die Verkäuferin, die sie ermunterte zuzugreifen.

»Ein schönes Kleidungsstück. Das macht Sie zu einer ganz neuen Frau«, sagte sie, was Belén pathetisch fand.

Als sie ihr einen großzügigen Rabatt in Aussicht stellte, griff Belén zu.

Eine ganz neue Frau. Wer weiß? Zweimal hat sie das Kleid seither getragen. Sie steigt hinein und stellt zu ihrer Erleichterung fest, dass es noch passt.

Wenigstens das, wenn sie schon ihre Falten nicht mehr überschminken kann und das Fleisch an ihren Armen bei der kleinsten Bewegung wabbelt.

»Was meinst du?«

Joy hebt den Kopf, mustert Belén und nickt kaum merklich.

»Lieb von dir«, sagt Belén trocken.

Ihr Gast reagiert nicht darauf. Ironie ist nicht Joys Ding.

Sie streicht das Kleid glatt und überprüft ihre neue Kurzhaarfrisur im Spiegel. Mittlerweile findet sie, dass ihr das natürliche Grau ausgezeichnet steht. Sie sehe damit aus wie eine altersweise Professorin, sagt ihre Freundin Yoselin, die sich ab und zu als Friseurin versucht und deren Idee der neue Schnitt und das Weglassen der Tönung gewesen ist. Belén wirft einen letzten Blick auf ihr Äußeres. Noch fehlen Schuhe und Handtasche.

Sie setzt sich neben die junge Nigerianerin aufs Bett, vorsichtig, um das Kleid nicht zu zerknittern.

»Hast du dir alles gemerkt?«, will sie wissen.

Joy nickt.

»Für den Notfall kannst du den Zettel mitnehmen. Sollte noch jemand im Büro sein, ist es besser, du tust so, als wüsstest du genau, wo man die Reinigungsmaterialien findet.«

»Okay.«

Manchmal hätte Belén Lust, sie an den Schultern zu packen und zu schütteln, um eine Reaktion zu provozieren. Sie hat Joy und ihre jüngere Schwester Faith auf einer Veranstaltung der Anlaufstelle kennengelernt. Wie viele nigerianische Frauen, die in der Schweiz leben, haben die Schwestern eine anstrengende und lebensgefährliche Reise hinter sich. Aus ihrem Heimatland quer durch Afrika und übers Mittelmeer nach Europa, beide voller Hoffnung auf ein besseres Leben, beide belogen von ihrer Zuhälterin. Joy war zuerst da gewesen und hat einige Jahre als Prostituierte in der Langstrasse gearbeitet. Als ihre Schwester anreiste, ist sie gemeinsam mit ihr abgetaucht. Sehr zum Ärger der Menschenhändler, die ihre Investitionen für den Transport amortisiert sehen wollen und seitdem nach den Frauen suchen. Dass sie sich eine schäbige Kellerwohnung am Stadtrand mit drei weiteren Leuten teilen, weiß nur der engste Bekanntenkreis.

»Vier Stunden?«, fragt Joy.

Belén wiegt den Kopf. »Das hängt davon ab, wie schnell du arbeitest. Normalerweise schaffe ich es, das ganze Büro in der Zeit zu reinigen. Es wäre gut, wenn es bei dir nicht viel länger dauert.«

»Okay.«

Belén kann diese Antwort schwer deuten.

Weil Joy meist »Okay« sagt, egal was die Frage ist. Heute ist sie froh um ihre Hilfe, dass sie so kurzfristig für sie einspringt.

Belén geht in die winzige Küche und macht den Kühlschrank auf.

»Willst du auch ein Bier?«, ruft sie.

»Okay.«

Belén öffnet zwei Flaschen und setzt sich wieder neben sie.

»Eine Party?«, erkundigt sich Joy.

»Bei Herrn Eschmann, dem die Anwaltskanzlei gehört, putze ich auch zu Hause. Seine Frau Marianne wollte mich unbedingt dabeihaben. Weshalb, ist mir nicht ganz klar. Ich habe den Verdacht, dass sie mich für eine gute Freundin hält.«

»Und das bist du nicht?«

»Nein. Sie gibt Befehle, ich gehorche. Sie bezahlt, ich putze. So funktionieren Freundschaften meiner Ansicht nach nicht.«

»Wieso meint sie dann …?«

»Ich höre ihr zu. Das interessiert mich zwar alles nicht, aber was soll ich machen? Ich kann nicht weglaufen. Sie folgt mir auf Schritt und Tritt, während ich das Haus reinige, und redet dabei ununterbrochen. Erzählt weiß Gott was. Klatsch über ihre Bekannten, Privates. Lästert über Schwiegereltern und Nachbarinnen, schimpft über ihren Mann. Als hätte sie keinen, dem sie sich anvertrauen könnte.«

Joy nickt und nimmt einen Schluck Bier. »Reiche Leute haben manchmal niemanden zum Reden. Das war mit einigen Freiern nicht anders. Früher. Schnell fünf Minuten ficken und den Rest der gebuchten Zeit reden.«

»Psychotherapie.«

»Massenhaft Geld, leider keine Freunde.«

»Freunde kann man nicht kaufen.«

»Reiche Leute können alles kaufen. Auch Menschen.«

Freitag, 18:03 Uhr
Langstrasse

Das Gefühl, ihm würde mit Wucht ein verschwitztes Kissen aufs Gesicht gedrückt. Taumelnd bleibt er vor dem Eingang der Lambada Bar stehen, den dritten Whisky hat er ohne Eis heruntergestürzt. Er ringt um Atem. Seit Wochen wabert eine zähe Feuchtigkeit durch die Gassen der Stadt, in der Nacht sind heftige Regenfälle niedergegangen, wie so oft in diesem missratenen Sommer.

Als er sich von der Bar entfernt, kann er die Blicke der Dealer und Zuhälter in seinem Rücken spüren. Dass die Rechte in der Tasche seiner Sommerjacke fest den Griff einer Pistole umfasst, gibt ihm ein Gefühl von Überlegenheit. Von Macht. Eine SIG P220, wie sie in der Schweizer Armee benutzt und landesweit in Kellern und auf Dachböden gelagert wird, da die Armeeangehörigen ihre Waffen samt Munition mit nach Hause nehmen dürfen. Als er losgefahren ist, hat sie im Handschuhfach seines Wagens gelegen, zusammen mit einem matt schimmernden Schalldämpfer. Die Familie sorgt für alles, schnell und unauffällig.

In die Bar hat er die Knarre mitgeschleppt, weil er nicht wusste, ob der Stronzo von Türsteher selbst eine besitzt. Hätte er sich sparen können, wie sich schnell herausgestellt hat. Genau wie die Sommerjacke, die er einzig für den diskreten Transport der Pistole angezogen hat. Sie ist aus leichtem Stoff, trotzdem schwitzt er jetzt darunter, als trüge er einen Pelzmantel.

Der Geruch von heißem Asphalt, billigem Parfüm und Abgasen erfüllt die Luft. Über die Langstrasse kriecht eine endlose Autokarawane, Ellenbogen ragen ins Freie, zwischen Fingerspitzen qualmen heruntergebrannte Zigarettenstummel. Musik plärrt aus offenen Fenstern, vor den Kneipen Klapptische, Männer mit desillusionierten Mienen halten sich an Biergläsern fest. In den Seitengassen drängen sich die Nutten wie betäubt unter Markisen.

Schimpfend stolpert ein Junkie zwischen zwei Fahrzeugen über die Straße, in der knisternden Plastiktüte klacken Bierdosen im Rhythmus seiner Schritte aneinander. Gelbstichige Polaroidaufnahmen, die Zeit steht still, bis sich die Kolonne ein paar Zentimeter vorwärtsschiebt. Hin und wieder gleitet mit einem flüsternden Rauschen ein blau-weißer Stadtbus auf der gesperrten Fahrbahn vorbei. Früher Freitagabend.

Er hat den Wagen in der Nähe geparkt. Jetzt da Reisen wieder erlaubt sind und viele die gelockerten Bestimmungen für einen Urlaub im Ausland nutzen, findet man mit etwas Glück sogar eine Parklücke, ohne stundenlang durchs Quartier kurven zu müssen. In zwei Wochen wird das wieder unmöglich sein. Er biegt links ab, geht an einem ehemaligen Pornokino vorbei, das jetzt für Kulturveranstaltungen genutzt wird. Endlose Häuserzeilen, Graffiti an den Wänden, die Luft staubig in der Abendsonne. Hier wirkt das Viertel wie ausgestorben, es gibt kaum Autoverkehr.

Ein Gefühl der Beklemmung erfasst ihn. Hätte er eine Wahl, würde er in seinen daytonagrauen Audi Q7 steigen und auf schnellstem Weg nach Hause rasen, um den Abend mit seiner Ehefrau und den Mädchen zu verbringen. Grillplausch und Planschbecken. Ein Glas Rotwein, später irgendetwas Belangloses im Fernsehen, früh ins Bett. Unsichtbar werden, was er so gut kann, damit sie ihn nicht finden. Mit seiner Umgebung verschmelzen wie ein Kalmar. Eine kindliche Vorstellung, sie hätte ihn womöglich erheitert, würde sich seine Beklemmung nicht zunehmend in Panik verwandeln.

Der Kalmar. Die süditalienische Presse hat ihn nach dem Vierfachmord so betitelt, weil die Amerikanerinnen bei ihrem gewaltsamen Tod eine große Portion Calamari Fritti vor sich hatten. Seine Neffen und Cousins haben den Spitznamen begeistert übernommen. Das macht ihm nichts aus. Es ist ihm sogar wesentlich lieber, als würden sie ihn Herbert rufen. Herbert Russo. Sein richtiger Name.

Seine Mutter hat ihn gegen alle Widerstände der Familie so getauft, weil sie während der Schwangerschaft Das Boot im Kino gesehen hat – U-Boot 96 wie der Streifen auf Italienisch heißt – und vom Hauptdarsteller tief beeindruckt gewesen ist. Nur ein Machtwort seines Vaters verhinderte, dass er heute Jürgen heißt, nach Jürgen Prochnow. Das könne in Kalabrien kein Mensch aussprechen, argumentierte er, ja, im ganzen Mittelmeerraum niemand. Worauf seine Mutter dem Schein nach klein beigab, um kurz darauf den Namen eines Nebendarstellers ins Spiel zu bringen: Herbert. Grönemeyer mit Nachnamen. In der Zwischenzeit angeblich ein erfolgreicher Sänger in seiner Heimat, in Italien kennt den keiner. Wenigstens haben sie im Dorf die Aussprache halbwegs korrekt hingekriegt, trotzdem klang es herablassend, wenn die Jungs auf dem Fußballfeld nach ihm riefen und dazu dieses maliziöse Grinsen aufsetzten.

Russo erreicht eine Straßenkreuzung, in jeder Ecke ein Lokal, Bartische auf dem Trottoir, Bossa Nova hallt über den Platz. Fünfzig Metern weiter vorne biegt er in die Magnusstrasse ein – und erstarrt. Im ersten Moment begreift er nicht, es ergibt überhaupt keinen Sinn. Sein Blick fliegt zum Straßenschild, streift hektisch über die Hausfassaden ringsum. Alles korrekt. Russo erinnert sich genau an das taubenblaue Schild der Bauspenglerei in dem länglichen zweistöckigen Gebäude, an den Laden gegenüber, auf dessen Schaufenster Internet Planet steht, ein Globus zwischen den beiden Wörtern. Keuchend lässt er sich gegen die nächste Wand fallen und stützt die Hände auf den Oberschenkeln ab, als wäre er den ganzen Weg gerannt. Schweiß tropft ihm von der Stirn. Sein Augenmerk bleibt auf den Parkplatz gerichtet, auf dem er seinen Audi Q7 vor rund einer Stunde zurückgelassen hat. Der hellblaue VW Käfer steht immer noch an Ort und Stelle, der resedagrüne BMW E30 ebenfalls, beide Autos sind ihm im Gedächtnis geblieben. Nur da, wo er seinen Wagen geparkt hat, klafft eine sechs Meter lange Lücke.

Freitag, 18:05 Uhr
Wiedikon

Marisa Greco öffnet die Kühlschranktür. Eier, ein Becher Sahne, hauchdünn geschnittene Pancetta in Wachspapier, die sie am Vortag bei Fulvi, der italienischen Metzgerei im Kreis 4, gekauft hat. Zwiebeln, Knoblauch und Parmesan gehören zur Grundausstattung ihrer Küche, im Vorratsschrank findet sich stets eine Auswahl an verschiedenen Pastasorten. Alles da, um einen Neunjährigen glücklich zu machen. Auch wenn ihr bewusst ist, dass die Nonna ihr die Ohren langziehen würde, erführe sie, dass ihre Enkelin Sahne unter die Carbonarasoße mischt. Luca mag sie nun mal lieber so. Marisas Mutter wäre es egal, die ist zwar eine passable, aber sicher keine leidenschaftliche Köchin. In den Augen der Großmutter ist das hingegen ein Kapitalverbrechen, das mindestens mit Daumenschrauben und Streckbank bestraft werden muss, die italienische Originalversion wird ohne Rahm zubereitet. Die Nonna würde anstelle von Pancetta garantiert auch Guanciale verwenden, luftgetrocknete und nicht geräucherte Schweinebacke. Denn für sie kommt Kochen gleich nach der Religion, weder in der Küche noch in der Kirche erlaubt sie sich ein Abweichen von den strengen Regeln. Du lebst zu lange in der Schweiz, würde sie vermutlich zu Marisa sagen und verächtlich mit der Zunge schnalzen. Der Einfluss tut dir nicht gut.

Daher hat Marisa ihren Sohn schon früh instruiert, nicht herumzumosern, wenn die Nonna bei ihren Besuchen in Italien seine Lieblingspasta nur mit Eiern, Speck und Parmesan serviert.

Marisa schnappt sich die angefangene Flasche Pinot Grigio aus der Kühlschranktür, füllt ein Glas zur Hälfte und setzt sich an den Küchentisch. Nachdem sie einen Schluck genommen hat, rückt sie die grün gerahmte Brille zurecht, die perfekt zu ihren kupferroten Locken passt. Inzwischen muss sie mit Haarfarbe nachhelfen, noch ist sie nicht bereit, darauf zu verzichten. Dass sie Ende vierzig ist, fällt ihr in manchen Momenten schwer zu glauben, denn innerlich fühlt sie sich – manchmal zumindest – zwanzig Jahre jünger. Einzig die kleinen Gebrechen, die sich in letzter Zeit häufen, führen ihr deutlich vor Augen, dass sie sich zwar etwas vormachen kann, nicht aber ihrem Körper.

Flüchtig geht Marisa die Post durch, sortiert die Werbung aus, registriert besorgt die vielen Rechnungen. Die Hälfte des Nachmittags hat sie bei einem Kunden der Agentur für unliebsame Angelegenheiten verbracht. Mittlerweile nehmen ihr Geschäftspartner Bashir Berisha und sie jede Art von Auftrag an, ihnen bleibt keine Wahl. In der Pandemie ist ihr neu gegründetes Unternehmen, das sich auf Anliegen spezialisiert hat, die ihre Klientel selbst ungern erledigt, in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Sogar jetzt da sich die Situation allmählich normalisiert, kämpfen sie um das Überleben der Agentur, lukrative Anfragen bleiben aus. Marisa muss jedes Mal lachen, wenn sie in der Zeitung liest, wie hoch der Schweizer Durchschnittslohn angeblich ist. Davon sind Bashir und sie meilenweit entfernt. Es reicht knapp zum Überleben, die Freiberuflichkeit ist ihnen wichtiger als ein geregeltes Einkommen, das momentan nur mit einer Festanstellung zu erreichen wäre. Was zwangsläufig bedeuten würde, dass sie sich einem Vorgesetzten unterordnen müssten, wogegen sie beide heftige Aversionen hegen.

Zwei Stunden hat sie an diesem Nachmittag, auf einem harten Stuhl neben dem Bett sitzend, Salvatore Peruzzi aus alten Briefen vorgelesen. Auf Italienisch. Er besitzt ganze Packen davon, gerettet aus dem Wohnhaus seiner Eltern in Oliveto, ehe es von den neuen Besitzern von Grund auf renoviert wurde und jetzt als Bed and Breakfast genutzt wird. Briefe seiner Mutter an den Vater und umgekehrt, berührende Zeitzeugnisse des Lebens während des Zweiten Weltkriegs, in dem der Vater gekämpft hat. Die Landung der britischen Armee in Reggio Calabria wird erwähnt, ebenso Mussolinis Absetzung und nachfolgende Verbannung, erst auf die Insel Ponza, dann ins Hotel Campo Imperatore im Gran-Sasso-Massiv, wo er gut zwei Wochen später von deutschen Fallschirmjägern befreit wurde und kurz darauf als Staatsoberhaupt nach Italien zurückkehrte, bevor er anderthalb Jahre später von den Partisanen hingerichtet wurde. Auch Nachrichten von entfernten Verwandten finden sich darunter, an die sich Peruzzi teilweise in allen Details, teilweise vage erinnert. Dreiundachtzig ist der Mann, ehemaliger Schuhmacher mit eigenem Geschäft, mehr als zwei Drittel seines Lebens hat er in Zürich verbracht. Mitte der Fünfzigerjahre wanderte er wie viele Italiener aus dem strukturschwachen Süden in die Schweiz ein, arbeitete als Gastarbeiter im Straßenbau, bevor er 1964 im Zuge des Italienerabkommens eine reguläre Aufenthaltsbewilligung erhielt und in der Folge seine junge Frau und den kürzlich geborenen Sohn nachkommen ließ. Das alles hat er Marisa während der nachmittäglichen Lesungen erzählt. Seit ein paar Wochen besucht sie ihn regelmäßig im Quartieraltersheim Aussersihl im einstigen Arbeiterviertel, in dem er lange gewohnt hat, ehe die rasant steigenden Mietpreise in dem plötzlich als trendig deklarierten Stadtteil ihn und viele andere Alteingesessene zum Wegzug zwangen. Nach dem Tod seiner Frau ist er zurückgekehrt.

Marisa nimmt einen Schluck Weißwein und schaut auf die Uhr. Luca ist bei seinen Großeltern zu Besuch, sie werden ihn erst gegen halb acht zurückbringen. Genügend Zeit, um abzuschätzen, wie viel Arbeit da unten tatsächlich auf sie wartet. Allein bei dem Gedanken, in den Keller hinabzusteigen, wird ihr bange. Andererseits hat sie lange genug gewartet. Die Wunden sind nicht verheilt, vielleicht verheilen sie nie. Aber sie hat gelernt, mit dem Verlust zu leben. Mit den Schuldgefühlen und all den offenen Fragen. Beinahe drei Jahre sind seit Antonios Unfalltod vergangen. Ein Autounfall auf der vereisten Straße von Arosa nach Chur. Drei Jahre. Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen.

Freitag, 18:09 Uhr
Manesseplatz

Belén wartet auf der untersten Treppenstufe vor dem fünfstöckigen Geschäftshaus am Manesseplatz, das sie mit seinem leicht gekrümmten Grundriss und den dicht aneinandergereihten Fenstern an das Facettenauge eines Rieseninsekts erinnert. Ehe sie zusammen mit Joy die Mansarde verlassen hat, ist sie mit ihr noch einmal die wichtigsten Punkte des Putzauftrags durchgegangen, damit alles wie gewünscht erledigt wird. Nun ist die junge Nigerianerin unterwegs zur Minervastrasse. Englischviertel, ein exklusives Wohnquartier, Schauspielhaus und Kunsthaus sind fußläufig erreichbar. Eine hervorragende Adresse für eine Anwaltskanzlei.

Belén steckt sich die Kopfhörer in die Ohren und dreht die Lautstärke leiser, bevor sie das Video auf YouTube startet. Auch wenn sie Gewissensbisse verspürt, Joy die Reinigung des Büros zu überlassen, freut sie sich auf den Abend. Sie ist seit Jahren nicht mehr ausgegangen, die Essen mit ihren bolivianischen Freundinnen ausgenommen. Aus Sicherheitsgründen fanden die immer bei jemandem zu Hause statt. Unbekümmertes Feiern geht anders.

Deswegen ist der heutige Anlass eine unerwartete Abwechslung. Die Einladung von Marianne Eschmann hat sie gerührt. Belén fühlt sich willkommen, etwas, das sie nicht oft erlebt hat, seit sie in der Schweiz ist. Als gleichwertiger Gast unter einer illustren Schar von Freunden, Bekannten und Geschäftspartnern des Ehepaars Eschmann bei der jährlichen Party dabei sein zu dürfen, ist etwas Besonderes. Seit neun Jahren arbeitet sie für die Familie. Pierre Eschmann entlohnt sie fair, bezahlt die vorgeschriebenen Sozialabgaben, behandelt sie anständig. Und das, obwohl er und seine Frau von Beléns Status wissen.

Illegal. Sans-Papiers.

Ihr Brandzeichen.

Belén konzentriert sich auf das Video, das auf ihrem Handy startet. Wie immer läuft italienischer Schlager im Hintergrund, der Mann ohne Kopf lacht, während er in einer geräumigen modernen Küche einen Fenchel in hauchdünne Scheiben schneidet. Mit bloßen Händen vermischt er anschließend das Gemüse in einer Schüssel mit zerdrückten Sardellen, Zitronensaft, schwarzem Pfeffer und Olivenöl. Il Cuoco Caputo, eine der momentan beliebtesten Kochsendungen im Internet, benannt nach dem berühmtesten Pizzamehl Neapels. Dass das Gesicht des Kochs auf den Aufnahmen nie zu sehen ist, verleiht der Sendung etwas Mysteriöses und befeuert Mutmaßungen unter den Fans, um wen es sich handeln könnte. Manche glauben, hier ginge ein italienischer Schlagerstar seinem Hobby nach, andere sind überzeugt, dass sich ein Politiker dahinter versteckt. Dafür spricht, dass der Koch tadellos gekleidet ist, meist trägt er Hemd und Anzughose, selten eine Küchenschürze. Allerdings achtet er peinlich genau darauf, dass in den Videos kein Hinweis auf seine Person zu finden ist. Keine Spiegelungen in der Backofentür oder im Küchenfenster, Schmuckstücke wie Ehering oder Halskette trägt er nicht und selbst in hektischen Momenten rutscht die Kamera nie höher als bis zum Hals. Ein einziges Mal ist dem Cuoco Caputo ein Fehler unterlaufen, eine winzige Unachtsamkeit, die er bei der Nachbearbeitung des Filmmaterials übersehen haben muss. Als er sich nämlich in Folge achtundzwanzig über eine Parmigiana beugt, einen Auberginenauflauf mit Tomaten und Mozzarella, ist dank des offen stehenden Hemdkragens kurz die Brusttätowierung zu erkennen: ein von einem grasgrünen Pfeil durchbohrtes rotes Herz, aus dem anstelle von Blut eine Träne tropft.

Was in der Folge zu noch wilderen Spekulationen geführt hat. Plötzlich fielen Namen von Rockstars, andere vermuteten, dass der Cuoco Caputo ein Zuhälter sei, der unerkannt bleiben möchte. In letzter Zeit verdichten sich die Hinweise, dass es sich bei dem Koch um einen untergetauchten und international gesuchten Mafioso handelt.

Belén gibt wenig auf die Mutmaßungen, obschon sie den Kitzel, sich seine Show anzuschauen, wesentlich erhöhen. Die Vorstellung, dass diese wohlgeformten Hände mit den perfekt gefeilten Fingernägeln, die im Video mit einem scharfen Messer elegant Zwiebeln in Scheiben schneiden und Fleischstücke tranchieren, womöglich mit einem ebenso scharfen Messer Kehlen durchgeschnitten haben, verleiht der Sendung einen besonderen, wenn auch makabren Kick.

Unbestritten ist und bleibt seine Kochkunst. Der Cuoco Caputo bereitet beliebte Gerichte, aber auch weniger bekannte Spezialitäten aus den verschiedenen Regionen Italiens zu und kommentiert jeden Arbeitsgang nachvollziehbar und launig.

»… ein ganz einfacher Salat, meinen viele Leute. Doch für das, was geschieht, nachdem Sie Ihren Partner, Ihre Partnerin an einem lauen Sommerabend mit dieser Köstlichkeit verwöhnt haben, übernehme ich keine Garantie …«

Normalerweise verfolgt Belén gebannt jede neue Sendung. Heute schafft sie es nicht, sich auf das Rezept zu Insalata di finocchi, arance e noci zu konzentrieren, ihre Gedanken schweifen immer wieder ab.

Seit ein paar Monaten fühlt sie sich erschöpft und ausgelaugt, die kleinste Aufgabe erscheint ihr unüberwindbar. Das jahrelange Versteckspiel fordert seinen Tribut, die Angst begleitet sie fast ihr gesamtes Leben.

Hier in der Schweiz ist es die permanente Angst vor Entdeckung und der nachfolgenden Ausweisung. Davor ist es die Angst vor ihrem Mann gewesen, der wegen der schwierigen Wirtschaftslage mit seiner einst angesehenen Baufirma in Konkurs gegangen ist. Als schlecht bezahlte Kinderärztin musste sie in Bolivien allein für den Unterhalt der Kleinfamilie aufkommen. Dass Marcelo das kaum ertragen hat, erwischte sie kalt. Mit der Arbeitslosigkeit kamen der Alkohol, grundlose Streitereien, die Hand, die ihm immer häufiger ausrutschte. Dann die Diagnose, die ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Bei ihrem gemeinsamen Sohn Leyton wurde Leukämie festgestellt.

Die horrenden Rechnungen für die Behandlung konnten sie bald nur noch bezahlen, indem sie Verwandte und Freunde um Geld anbettelten. Die permanente Belastung setzte ihrer Ehe zu, Belén reichte die Scheidung ein und übernahm nach der Trennung Sonderschichten im Spital, bis sie zusammenbrach und krankgeschrieben wurde. Als eine Freundin sie auf eine Bekannte hinwies, die in Zürich als Kindermädchen arbeitete, sah Belén das als Wink des Schicksals. Mit ihren letzten Ersparnissen kaufte sie sich ein Flugticket und reiste in die Schweiz, wohl wissend, dass sie Leyton, den sie in der Obhut ihrer Mutter zurückließ, vermutlich für Jahre nicht mehr sehen würde.

Nach ihrer Ankunft stellte sie erstaunt fest, wie gut die bolivianische Diaspora vernetzt und organisiert war. Eine der Frauen bot ihr sofort eine Unterkunft an. Zwar nur eine Kammer in einer Wohnung, in der bereits fünf Leute lebten, aber das war besser als nichts. Eine andere stellte sie ihrer Arbeitgeberin vor, einer Schauspielerin, und eine Woche nach ihrer Ankunft hatte Belén sowohl ein bezahlbares Dach über dem Kopf als auch einen Job bei der pflegebedürftigen Mutter der Aktrice.