Umschlag

H. P. Karr, Herbert Knorr & Sigrun Krauß (Hg.)

Jubiläumsmorde

Mord am Hellweg X

Kriminalstorys

Herausgegeben von H. P. Karr, Herbert Knorr und Sigrun Krauß im Auftrag des Westfälischen Literaturbüros in Unna e. V. und der Kreisstadt Unna, Bereich Kultur für die Veranstaltergemeinschaft Mord am Hellweg, Europas größtem Krimifestival.

»Mord am Hellweg X« ist ein Projekt der Kulturregion Hellweg mit oder in den Kreisen, Städten und Gemeinden Ahlen, Bad Sassendorf, Bergkamen, Bönen, Dortmund, Erwitte, Fröndenberg, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Holzwickede, Iserlohn, Kamen, Lüdenscheid, Lünen, Schwerte, Selm, Soest, Unna, Unna (Kreis), Werl, Wickede (Ruhr), Witten und in Kooperation mit dem Kulturring Erwitte e. V., HanseTourist Unna, dem Bürger- und Kulturzentrum »Rohrmeisterei Schwerte«, dem Tagungs- und Kongresszentrum Bad Sassendorf und MELANGE (Gesellschaft zur Förderung der Salon- und Kaffeehauskultur e. V.) unter Federführung des Westfälischen Literaturbüros in Unna e. V. (Dr. Herbert Knorr) und der Kreisstadt Unna, Bereich Kultur (Sigrun Krauß M. A.).

Inhalt

Jubiläumsmorde. Leichen pflastern die Region

Friedrich Ani:
Der Tod kommt heim nach Werl

Gisa Pauly:
Achtsam in Bad Sassendorf

Jürgen Kehrer:
Bergkamen darf nicht sterben

Volker Kutscher:
Dortmund, Weiße Wiese

Andreas Gruber:
Lauter nette Menschen in Hamm

Doris Gercke:
Erwitte erinnern

Die Krimi-Cops:
Das Chamäleon von Fröndenberg

Bernhard Aichner:
Zeppelinallee 32a – 45879 Gelsenkirchen

Katja Bohnet:
Roxanne. Hagen sehen und sterben

Carsten Sebastian Henn:
Tod & Soest & Pumpernickel

Jens Henrik Jensen:
Engel über Unna

Ralf Kramp:
Herr Müller kommt nach Lüdenscheid

Horst Eckert:
Das Holzwickede-Komplott

Krischan Koch:
Das Skelett von Iserlohn

Antti Tuomainen:
Kamen est omen

Elisabeth Herrmann:
Der Lünen-Code

Benedikt Gollhardt:
Horrido, Bönen!

I. L. Callis:
Das Judengrab von Selm

Ben Aaronovitch:
Die kleinen Häuschen von Schwerte

Jan Costin Wagner:
Opherdicker Spiegelbilder

Edith Kneifl:
Die Ahlener West Side Story

Sven Stricker:
Jagdszenen aus Wickede

Christof Weigold:
Die Toten und die Roten von Unna

Melanie Raabe:
Endstation Witten

 

Und dann hörst du die Worte: »Isser tot?«

Volker Kutscher, aus »Dortmund, Weiße Wiese«

Wenn es Mord war, ist er nicht besonders achtsam geschehen.

Gisa Pauly, aus »Achtsam in Bad Sassendorf«

Jubiläumsmorde

Leichen pflastern die Region – die »Mord am Hellweg«-Krimianthologie feiert ihr zehntes Erscheinen

Nun liegt er endlich vor, der zehnte »Mord am Hellweg«-Storyband, unsere Jubiläumsanthologie, parallel herausgegeben zur ebenfalls zehnten Ausgabe von Europas größtem Krimifestival. Bedingt durch die Pandemie mit einem Jahr Verspätung, aber vielleicht gerade deshalb umso spannender, weil lange erwartet!

Das hiermit vorgelegte Buch reiht sich nahtlos ein in die seit 2002 anlässlich von »Mord am Hellweg« erscheinenden Sammlungen anregender, lustiger, ergreifender, mitreißender, verruchter, mysteriöser, mitunter gar anrührender Kriminalgeschichten. Die Anthologie zum Festival (wie auch das Festival selbst) ist ein Markenzeichen der Hellweg-Region geworden, die – zwischen Hamm, Dortmund, Schwerte und Unna gelegen – auch gern als die mörderischste Region Europas bezeichnet wird.

»Mord am Hellweg« wollte von Anfang an nicht einfach nur ein x-beliebiges Krimifestival sein, sondern exklusive Internationalität mit bodenständiger Regionalität verbinden und beides gegenseitig in Spannung versetzen. Da lag es nahe, in den Städten und Gemeinden des Hellwegs literarische Tatorte zu schaffen und ihnen jeweils ihren ganz persönlichen (auch internationalen) »Auftragsmörder« zu vermitteln. Mindestens ein Mord pro Geschichte und Ort ist seit jeher Pflicht, auch muss der Name der Kommune im Storytitel erscheinen! Ganz ehrlich, wir haben aufgehört zu zählen, wie viele Leichen den Hellweg inzwischen pflastern.

Anlässlich des aktuellen Festivaljubiläums erinnern wir uns gern daran, welche Autor*innen der nationalen wie internationalen Krimilandschaft bereits für »Mord am Hellweg« die Region bereist und ihre Geschichten darüber geschrieben haben, darunter auch zahlreiche Mehrfachtäter. Mit Peter James, Yrsa Sigurdardóttir, Jussi Adler-Olsen, Edith Kneifl, Petros Markaris, Bernhard Aichner, Maj Sjöwall, Andrej Kurkow, Taavi Soininvaara, Thomas Raab oder Helene Tursten seien stellvertretend einige europäische Spitzenautor*innen genannt, die wir anwerben konnten. Namen wie Ingrid Noll, Sebastian Fitzek, Oliver Bottini, Volker Kutscher, -ky, Sabine Deitmer, Rita Falk, Jacques Berndorf, Nina George, Gabriella Wollenhaupt, Jan Costin Wagner, Friedrich Ani, Heinrich Steinfest, Horst Eckert, Jan Eik, Ralf Kramp, Tatjana Kruse, Doris Gercke oder Klaus-Peter Wolf stehen repräsentativ für eine deutsche Krimi-Elite, die unsere Anthologien seit jeher bereichert(e), gleichsam ein »Who’s who« der Kriminalliteratur der letzten zwei Jahrzehnte. Mit den vierundzwanzig Storys des aktuellen Bandes lieferten bis heute rund hundertsiebzig Autor*innen (!) definitiv zweihundertvierundzwanzig Geschichten ab! Darunter auch phantasievolle Quereinsteiger*innen wie Marie-Luise Marjan, René Kollo, Erwin Grosche oder Joe Bausch.

Alle Beteiligten schrieben für uns exklusive Krimis mit so wunderbaren Titeln wie »Letzte Ausfahrt Schwerte«, »Die Hünen von Lünen«, »Bitter Blues Bergkamen«, »Der Schlachter von Wickede«, »Bönen sehen und sterben«, »Muttertag in Fröndenberg«, »Die Bluteiche von Oelde«, »Der Bulle von Gelsenkirchen«, »Dirty Talk Bergkamen« oder »Kopflos in Unna«. Die komplette Liste der bisher beteiligten Autor*innen und die Titel ihrer Storys finden Sie auf unserer Website www.mordamhellweg.de.

So enthält auch der vorliegende Band wieder ein breites Spektrum an Geschichten, das alle Spielarten des Genres abdeckt, von der klassischen Ermittlerstory über den literarischen, historischen und phantastisch-bösen bis hin zum skurril-humoresken Krimi oder zu einer spannenden Mystery-Story. Lehnen Sie sich entspannt zurück und genießen Sie, was die von uns bestellten Expert*innen an unterschiedlichen Mordphantasien und -gelüsten präsentieren.

Liebe Leser*innen, in diesen Zeiten tut es gut, sich von Krimis »verführen« zu lassen oder gar schmunzelnd den*die »Mörder*in« in sich zu entdecken. In die Realität zurückgekehrt, können Sie sich beglückt eingestehen, dass Sie so etwas Böses selbst doch niemals … aber auch wirklich nie tun würden! Oder etwa doch?

Gute Unterhaltung bei der Jubiläumslektüre wünschen

H. P. Karr, Herbert Knorr und Sigrun Krauß

Nach Diktat im Jubiläumstrubel untergetaucht

Friedrich Ani

Der Tod kommt heim nach Werl

Die Kälte war schneller als der Tod. Er spürte sie in den Augen; für ein paar Sekunden, vielleicht sogar Minuten, lenkten ihn die Stacheln des Windes vom flammenden Schmerz in seiner Brust ab. Er musste so heftig blinzeln, dass er sich einbildete, Blitze zu sehen, grotesk verschleierte Gestalten, die wie durch einen roten Sandsturm irrten. War er das? Nein; sie waren zu zweit, der riesige Nils und der andere, dessen Name ihm nicht einfiel, obwohl er ihn seit Ewigkeiten kannte.

Wieder krümmte er sich auf dem Asphalt. Über die Bewegungen seines Körpers hatte er keine Kontrolle mehr, schon seit … Als bräuchte er dringend Klarheit darüber, schätzte er den Weg ab, den er zurückgelegt hatte; knapp zwei Kilometer müssten es gewesen sein. Sofort loderte die Wunde in seinen Eingeweiden auf; er stieß einen Schrei aus. Das bildete er sich bloß ein; sein Atem brachte keine Stimme mehr zustande, nicht einmal einen Schmerzenslaut; sein Wimmern ein dürftiges Kräuseln von Luft im Hals.

Henning Schultheiß, zweiundvierzig, eins einundsiebzig, achtundachtzig Kilo, fehlte jegliche Vorstellung von seiner Gegenwart. Gekrümmt, blutverschmiert, seine schrundige Wildlederjacke durchtränkt von Blut und vollends ruiniert von den Stürzen auf den Bürgersteig, seine blonden, gewöhnlich streng gegelten Haare ein strohiges Nest, das fleischige Gesicht steingrau – so lag er wie ein hingeworfenes Bündel neben seinem Restaurant, das er von den Eltern geerbt hatte, heimgesucht von unaufhörlich rotierenden Gedanken, die ihn daran hinderten, das Bewusstsein zu verlieren und zu sterben.

Er wusste, dass der Schuss tödlich sein würde. Er wunderte sich, dass er nicht längst tot war. Der Idiot hätte besser zielen müssen, dachte er vage und sah ihn plötzlich, wie leuchtend von fluoreszierendem Licht, vor sich, in voller Größe, den Kragen seines angeberischen Ledermantels hochgeschlagen, in der Hand, am lässig baumelnden Arm, die Pistole, auf die er so stolz war: Nils Balken, noch keine vierzig, eins dreiundneunzig, knapp achtzig Kilo, ein seit jeher durchtrainierter Kerl mit roten Haaren und lächerlichen Sommersprossen mitten auf der Stirn – einer, den niemand mochte und dem trotzdem alle hinterherliefen. Er nicht, Henning, er bestimmt nicht mehr.

Oder?

Oder was?

Er war hier geboren, der nicht; er stammte aus der Gastro, der nicht; er hatte schon Verantwortung übernommen, da verscherbelte der andere noch Klappstühle beim Meckler; zu ihm kamen die Leute bis aus Paderborn und Bochum, die Wallfahrer und Touristen, treue Gäste; in der abgewrackten Kneipe von dem, gleich beim Lippstädter Bahnhof, hingen Verlierer rum, Junkies und Hartzer, solche und sonst niemand; sein Lokal hieß »Sälzerhof«, die Kaschemme in Lippstadt »Corleone«; das sagte alles.

Die Eltern von dem waren aus Berufsgründen aus dem Ruhrgebiet nach Werl gezogen; Lehrersöhnchen, dachte Henning. Seit ihrer ersten Begegnung nannte Nils ihn Schulti, was Henning zum Kotzen fand. Aus irgendeinem Grund hatte er es nie geschafft, sich den Namen zu verbitten. Wieso eigentlich nicht?, fragte er sich, sogar jetzt, in diesem erbärmlichen Zustand. Zu feige? Wieso? Nur weil der Ruhrpottler fast zwei Köpfe größer war als er? Und angeblich in der Kung-Fu-Akademie trainierte?

Daran wollte Henning nicht denken. Er wollte überhaupt nicht denken, sondern aufstehen und klingeln und seine Eltern wecken. Krampfhaft überlegte er, wie spät es sein mochte. Mitten in der Nacht, oder war es einfach immer noch dunkel und schon gegen fünf? Dann würde sein Vater gleich aufwachen; kurz darauf duftete das ganze Haus nach frischem Kaffee und … Und sein bester Freund Theo hatte bei ihm übernachtet; auf dem Weg zur Schule würden sie den Autofahrern auf der Hammer Straße zuwinken, die in Richtung Autobahn unterwegs waren, und bei Frau Friedl in der Steinerstraße zwei Brezeln kaufen und …

Und das war doch nicht wahr! Du wirst nie wieder eine Brezel kaufen, sagte die Stimme in ihm, die früher einmal die seine gewesen war und jetzt zu einem Leichnam gehörte.

Er war noch nicht tot.

Oder doch?

Ihm kam es vor, als wäre er eingebunkert in einen Kühlschrank, mit offenem Gefrierfach, und seine Hände klebten an den Wänden fest. Die eisgekühlten Ouzogläser bei Nikos, er sah sie vor sich, aufgereiht zwischen ihnen – ihm, Nils, Jan und Theo; und dann auf ex; anschließend schnippte Nils mit dem Finger. Maria, die Wirtin, hasste das; sie brachte eine neue Runde und sagte zu Nils, er möge das lassen. Was?, fragte er, und sie sagte, frag nicht so dumm, und er: Trink was mit uns. Sie ging weg. Beim nächsten Mal schnippte er wieder; sie sagte nichts; beim übernächsten Mal sagte sie zaghaft, er möge das bitte nicht mehr machen, das sei unhöflich. Und er: Was denn? Und sie? Ging weg, wortlos.

Fast hörte er ihre Stimmen wieder. Auch bemerkte er die Blicke seines Freundes Theo. Er nickte ihm zu und zeigte mit der Spitze des Steakmessers, mit dem er das Fleisch jedes Mal in quadratische Stückchen teilte, zur Tür, unbemerkt von den anderen. Wahrscheinlich wollte Theo ihm bedeuten, zu verschwinden und die Situation nicht eskalieren zu lassen. War’s so? So war’s. Oder verwechselte er den Tag, den Monat? Er war dann tatsächlich rausgegangen, auf den Parkplatz …

In seinem Kopf, glaubte Henning, bildeten sich Eisschollen. Er musste schneller denken, herausfinden, was passiert war. Wieso hatte die schöne Maria den Angeber weiter bedient, anstatt ihn endlich rauszuschmeißen? Sie war die Wirtin, sie hatte das Recht dazu; sie traute sich nicht; wieso nicht?

Und wieso hatte Nils auf ihn geschossen?

Wo? Nicht im Lokal, das stand fest. Wie war er vom »Nikos« durch die Fußgängerzone bis in die Hammer Straße gelangt? Das war unmöglich. Nils hatte ihn erschossen.

Nein.

Er atmete doch noch.

Mit immenser Anstrengung hob Henning Schultheiß den Kopf – oder er bildete es sich ein – und horchte; wie von selbst öffnete sich sein Mund; staubiger, körniger Wind wehte hinein; so borgte Henning sich Atem aus der Luft und fächelte gleichzeitig das Feuer in ihm. Unbestellte Erinnerungen verstörten ihn.

In so manch kreiselnder Nacht war er aus dem »Nikos« getorkelt – vielleicht nach einem Abschiedskuss von Maria –, auf der Suche nach der ihm gemäßen Richtung; wie ein abgefüllter Kanadier in der Nachkriegszeit, der vor seinem Stammlokal in der Krämergasse Ausschau nach seinem Camp im Stadtwald hielt, drehte Henning sich am Ende der Melsterstraße im Kreis, bis er nach Gutdünken übers Kopfsteinpflaster schlurfte und alle fünf Meter an ein Schaufenster klopfte. Was er damit bezweckte, blieb ihm ein Rätsel. Befand er sich in Begleitung seines besten Freundes Theo, klopften sie beide an die Scheiben, abwechselnd oder synchron; sie trommelten einen Rhythmus, der gelegentlich zu wütenden Protesten aus der Nachbarschaft führte; unmusikalische Anwohner rissen die Fenster auf und schrien nach Ruhe.

Sie haben geschrien, sagte die Stimme in ihm, sie haben sich getraut. Wir nicht, Maria und ich, wir haben Nils Balken kein einziges Mal in die Schranken gewiesen. Schon damals nicht, als er aus lauter Überdruss und Gehässigkeit und im Vollrausch ein Fenster in einem der letzten Erbsälzerhäuser einschlug und einen selbst gebastelten Molotowcocktail reinwarf; die Mieter, das hatte er erfahren, hielten sich zu dem Zeitpunkt an der Ostsee auf. Was er nicht wusste, war: Das Ehepaar hatte der fünfundsechzigjährigen Schwester der Frau die Wohnung überlassen; sie war eine passionierte Wallfahrerin; zum ersten Mal besuchte sie die päpstliche Basilika mit der aus dem zwölften Jahrhundert stammenden Marienstatue, zu der jedes Jahr Hunderttausende Menschen pilgerten. Die alte Dame erstickte im Rauch. Keine Zeugen – abgesehen von denen, die Jahre später in einem griechischen Lokal einen Stammtisch bildeten, gemeinsam mit dem Mörder: Jan Gödde, Theo Baum, Henning Schultheiß.

War was, Schulti?, fragte Nils einen Monat später, nachdem die Ermittlungen zu keinem Ergebnis geführt hatten und Anita Glaubert, das Opfer, in ihrer Heimatstadt Nürnberg beigesetzt worden war.

Niemand hatte geredet. Wir müssen endlich die Wahrheit sagen, dachte Henning, und dann: Das hab ich doch getan! Wann? Heute! Gestern?

Auf dem Rücken liegend, starrte er in den schwarzen Himmel, seine Hände, über Kreuz auf dem Bauch, fühlten sich nass und klebrig an; Hagel prasselte auf ihn nieder. Im nächsten Moment begriff er: Das war kein Hagel, das mussten die gefrorenen Fäuste des Windes sein; eine andere Erklärung gab es nicht; die Fäuste trommelten auf ihn ein, so, wie er als Betrunkener an die Schaufenster der Geschäfte getrommelt hatte, an die Metzgerei vom Lugauer, an das Bekleidungsgeschäft der Familie Kopeck, an die Marien-Apotheke, an die Tür der Bäckerei Friedl. Und wie einst, so scheuchte er auch jetzt, in dieser gottverfluchten Januarnacht, von irgendwoher Leute auf; unsichtbar, unüberhörbar schrien sie auf ihn ein, das Lügen sein zu lassen, das von Grund auf verkehrte, lächerliche Leben.

Am Ende eines lächerlichen Lebens wollte er nicht sterben.

Er wollte, dass das Leben richtig gewesen war, bevor er sterben durfte.

Zu spät, dachte er, maßlos verwirrt über seinen nächsten Atemzug.

Für Nils Balken war die Sache ein Versehen. Weiterführende Gedanken über den Gesundheitszustand seines Partners machte er sich auf dem Weg zurück ins Lokal eher weniger. Partner? Das hatte sich anscheinend erledigt. Blöder Hund, dachte Nils. Er steckte die Glock 22 mit dem angeschraubten Schalldämpfer zurück in die Innentasche seines Ledermantels; das war ein Partner, auf den Verlass war, Tag und Nacht, jederzeit; zu Hause durfte er nicht vergessen, das Magazin nachzufüllen; er hatte es gern, wenn er wusste, dass er im Notfall fünfzehn Schüsse abgeben konnte und keine Patrone fehlte. Superdepp, dachte er und sog die kalte Nachtluft ein, die ihn erfrischte und seinen Kopf durchpustete.

Die eine Sache und die andere.

Als er sich an der Hintertür des Lokals noch einmal umdrehte, schaute er in verlassenes Dunkel. Na also, dachte er, tschüssi, Schulti; der würde den Heimweg schon finden, trotz seines Vollrausches; oder auch nicht; immerhin hatte der Schlumpf eine Kugel im Bauch; oder auch nicht; womöglich war die Kugel hinten ausgetreten, wer wusste das schon, bei dem Fett, das der mit sich rumschleppte …

Wieso verschwendete er überhaupt noch einen Gedanken an die treulose Kröte? An den Verräter? An diesen Schwachkopf, der immer schon ein Schwachkopf war und ein Schwachkopf bleiben würde – falls er am Bahnübergang nicht von der Eurobahn überrollt wurde. Aus lauter Wut zündete Nils Balken sich eine Zigarette an und begann auf dem Parkplatz, auf dem nur eine einzige Kiste stand, Marias roter Schrottopel, auf und ab zu gehen – mit ruckenden Schultern und, je länger er den Abend Revue passieren ließ, mit zunehmend verbiesterter Miene.

Vom ersten Getränk an lag eine miese Stimmung in der Luft. Er fragte sich, wer mit dem Gequatsche angefangen hatte; Theo wahrscheinlich; erst Theo, dann dessen Kumpel Schulti. Im Grunde, überlegte Nils und inhalierte den Rauch bis in die letzten Winkel seiner Lungenflügel, waren die beiden ein kompletter Fehleinkauf; niemals hätte er sie in das Gesamtprojekt mit einbinden dürfen, schau die doch an: zu weich, zu spießig, zu feige, zu fett, zu klein. Mein Gott, Schulti …

Nils spuckte aus und schlug mit ausgestrecktem Arm durch die Luft. Ministrant auf Lebenszeit, das wär deine Bestimmung gewesen, den Pilgern den Weihrauch um die Ohren wedeln, das Glöckchen klingen lassen, solche Sachen; aber nicht im großen Stil Geldgeschäfte abwickeln. Und Theo, dieser Gesamtdilettant – das Einzige, was der halbwegs hinkriegte, war, Würste zu grillen und in seiner Billigkneipe ahnungslose Touristen mit Billigbier abzufüllen. Wieso, fragte sich Nils und hätte die Worte beinah quer über den Parkplatz gebrüllt, wieso hatte er die zwei Schrottschädel überhaupt in sein Konzept eingeweiht? Wie konnte das passieren? Wie?

War schon klar, wie. Lag auf der Hand, dass es so laufen würde.

Echt?

Nils schnippte die Kippe über den Asphalt, schüttelte den Kopf, warf einen Blick zur Rückseite der Kneipe, zu den drei Tonnen, aus denen der Müll quoll, und drehte eine neue Runde.

Schon klar: Sie hatten damals die Klappe gehalten, alle; nicht nur sein Freund und Gewährsmann Jan, auch die Schrumpfköpfe Theo und Schulti; nichts zu meckern. Wär auch übel gewesen, wenn sie ihn hingehängt hätten; er war sechzehn und betrunken und bekifft, und wie hätte er ahnen sollen, dass in dem Haus jemand … Wie denn? Die Mecklers, er und sie, waren in Urlaub auf Rügen, oder sonst wo da oben; bei ihrer Abreise hatte er sie zufällig am Bahnhof getroffen, wo er nach der Schule abhing; alles klar; der alte Meckler meinte noch, er, Nils, könne nach Abschluss der Mittleren Reife im Sommer gern mal bei ihm durchklingeln, junge, engagierte Leute fänden in seinem Möbelhaus immer einen Platz; machte er dann auch; ging schief; sie kamen ihm drauf wegen der Scheine, die er abgezwackt hatte, er hätte sie zurückgelegt, schwor er; hätte das Geld dringend für bestimmte lebenswichtige Anschaffungen benötigt; Schnee von vorgestern. Aber dass er das gewesen war mit dem brennenden Molli in ihrem elenden Steinhaus, kriegten sie zum Glück nie raus, bis zu ihrem Tod bei einem Flugzeugabsturz auf Bali nicht.

Hab auch ein paar Vaterunser in der Basilika runtergeleiert, dachte Nils Balken belustigt, hab der Madonna die Umstände erklärt. Hundert Jahre her.

Was er wollte, war, den Jungs was Gutes tun, sich revanchieren für ihr Stillhalten in der Feuersache, zeigen, dass Freundschaft ihm was wert war. Also hatte er ihnen bei einem ihrer Stammtische den Plan seines Arbeitgebers unterbreitet. Eines Abends, als er gerade seinen Dienst als Wachmann im »Blue Jasmin« antrat, war Eddy auf ihn zugekommen und hatte ihn um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Am Ende meinte Nils, die Sache gehe klar, er kenne zuverlässige Leute, die würden ihn unterstützen, rückhaltlos. Das Wort war ein Zitat, und zwar von Ewald »Eddy« Klüwer; er benutzte es, wann immer er Gefolgschaft in schwierigen Angelegenheiten erwartete – entweder im Zusammenhang mit seinem florierenden, aber ständig unter staatlicher Beobachtung stehenden Laufhaus in Dortmund-Hörde, dem »Blue Jasmin«, oder im Umfeld seiner »Geschäfte auf dem freien Markt«, wie er sich ausdrückte, beim Kauf osteuropäischer oder asiatischer Frauen oder von beliebten Betäubungsmitteln. Wer dabei nicht »rückhaltlos« hinter ihm stand, wurde ausgemustert, was hin und wieder unterirdisch endete. Damit hatte Nils nichts zu tun; er war – bis zu jenem Abend in Eddys Büro – ausschließlich für die Sicherheit der Mädchen zuständig.

In diesem Moment überkam ihn eine brennende Sehnsucht nach Brigitta, die im Nachtgeschäft Gloria hieß; sie war neu und neunzehn, eine Madonna, für die man barfuß und auf Reißnägeln von Much nach Werl laufen würde, bloß, um vor ihr niederzuknien und sie um Erlösung anzuflehen. Für seine treuen Dienste und rückhaltlose Unterstützung in den vergangenen elf Jahren hatte Eddy sie ihm vor Kurzem ein Wochenende lang überlassen, kostenlos und in Nils’ Privatwohnung in der Werler Bäckerstraße. An den zwei Tagen und in den beiden Nächten – der Spiegel log nicht – hatte er sichtbar an Gewicht verloren. Beim nächsten Mal würde er sie bezahlen müssen; das würde er auch tun, den doppelten, den dreifachen Preis, wenn’s sein musste.

Jemand rief seinen Namen.

In der von mickrigem Licht beleuchteten Tür war ein Mann aufgetaucht; er trug einen gemusterten Rollkragenpullover und eine grüne Wollmütze; sein Gesicht wirkte bleich und schwammig; er schwankte leicht und stützte sich mit der rechten Hand am Türrahmen ab.

»Hau ab«, rief Nils ihm zu und zündete sich die nächste Zigarette an.

Schwerfällig und mit taumelnden Schritten bewegte Theo Baum sich über den Parkplatz; er kniff die Augen zusammen und beugte sich tiefer; zwei Schritte von Nils entfernt kniete er sich mit einem Bein hin und wischte über den Boden. »Da ist Blut. Wo ist Henning?«

»Gegangen.«

»Warum?«

»Er hat eine mit mir geraucht, dann ist er weg.«

»Da ist noch mehr Blut, eine Blutspur. Was hast du getan?«

»Nix. Was ist? Sollen wir die Bullen gleich anrufen oder erst morgen früh, jetzt, wo ihr aussteigen wollt, Schulti und du?«

»Wo ist Henning?«

»Hatte es plötzlich eilig.«

Theo stieß sich vom Boden ab, streckte den Rücken und schlug Nils mit beiden Händen gegen die Brust. Ohne einen Anflug von Überraschung oder Gegenwehr ließ Nils weitere Schläge über sich ergehen; Schritt für Schritt wich er rückwärts auf die Hauswand zu, beinah tänzelnd, den Mund hämisch verzogen.

»Wir haben stillgehalten«, sagte Theo Baum und boxte gegen den Ledermantel. »Wie lang? Elf Jahre? Brav sind wir gewesen, so brav, für dich und deinen Oberboss, den Zuhälter. Ja, stimmt, wir haben dabei was verdient, gar nicht so wenig, über die Strecke betrachtet; wir waren fleißig; und gewieft; und vorsichtig; und gierig waren wir auch. Das passiert von selbst, nicht? Du denkst nur noch ans Geld, an die Scheine, an das, was am Ende für dich hängen bleibt. Ist was hängen geblieben, wie gesagt, wir waren gut. Henning hat das dreckige Geld deines Zuhälters in seinem meist überfüllten Restaurant gewaschen, ich in meiner Kneipe und an meinem Stand, wenn Markt war, Kleinvieh macht auch Mist. Und Jan hat alles noch mal in seiner Sparkasse im Schleudergang gesäubert. Und du? Was hast du zu der ganzen Aktion beigetragen? Du hast die Kohle wieder eingetrieben; damit dein Boss keinen Ärger macht und du weiter umsonst an die Frauen ran darfst. Ist schon in Ordnung. So hat jeder was davon gehabt. Die Leute haben nichts mitgekriegt, niemand, kein Besucher während der Michaeliswoche oder auf dem Siederfest oder auf dem Münzfest wär auf die Idee gekommen, dass er an einer groß angelegten Waschaktion teilnimmt. Oder, Nils? Jetzt hab ich den Namen deines Chefs vergessen. Gustav? Hubert?«

»Ewald«, sagte Nils und schlug so unvermittelt zu, dass Theo ihn noch verdattert anstarrte, als er bereits auf dem Boden lag und sich vor Schreck die Wange rieb. »Ihr wollt also raus, du und Schulti, und mich und Jan in den Knast bringen. Wie viel habt ihr verdient in den elf Jahren? Sag’s noch mal, wir haben’s drin auf den Zettel geschrieben. Wie viel? Eine halbe, dreiviertel Million? Jeder. Kann sein, du was weniger; kein Finanzamt in ganz NRW wird euch jemals einen Cent Steuern dafür abknöpfen. Ist doch ein schönes Leben. Nicht zu vergessen: die Damen. Die habt ihr auch gekriegt, für einen Spottpreis, eine Geste von Eddy, der eure Arbeit immer geschätzt hat; er hat euch vertraut, rückhaltlos, verstehst du, Theo? Dieser Mann hat euch Provinzeumeln sein Geld anvertraut, jahrelang, und hat euch ehrenwert für euren Aufwand und eure Treue finanziell entschädigt. Ihr durftet an was Großem schnuppern, an einer Welt, die ihr euch sonst nie im Leben leisten könntet. Und das wollt ihr hinschmeißen? Wegen dem alten Mann aus der Krämergasse? Dieser Mann, mein Freund, dieser Geldsack, der sich vor sein kotzhistorisches Fachwerkhaus stellt, wenn die Touristen kommen und den Malerwinkel rauf und runter fotografieren, dieser Mann will mir die Zukunft zerstören. So was darf man nicht zulassen, kapierst du das nicht, so was …«

»Das ehemalige Kanadier-Lokal gehört ihm …« Sich immer noch das schmerzende Gesicht reibend, stemmte sich Theo Baum – vom Alkohol innerlich zerknüllt – in die Höhe; er wankte stärker als zuvor und keuchte zwischen den Sätzen. »Der Herr Wilke kann mit seinem Besitz machen, was er will. Und er will kein Rotlicht in seiner Immobilie und in der schönsten Ecke der Stadt, da gehört so ein Schuppen nicht hin.«

»›Schuppen‹? Du nennst mein Entertainment-Center ›Schuppen‹? In welchem Jahrhundert bist du denn stehen geblieben?«

»Du hast ihn nachts überfallen und abgestochen wie ein Vieh, du Sau …«

»Er liegt im Krankenhaus, er lebt, was willst du denn?«

»Du Sau.« Theo stolperte an Nils vorbei durch die offene Tür.

Nils griff in die Innentasche seines Mantels und tastete nach der Pistole. Die Sache mit Schulti war ein Versehen, dachte er wieder, und die Sache mit dem tatterigen Wilke war aus dem Ruder gelaufen, kommt vor in der Hitze des Gefechts. Nils Balken sah auf seine vergoldete Armbanduhr; zwei Uhr achtzehn; der gebrauchte Tag von gestern war überstanden; hoffentlich wäre der neue Tag echt neu und frisch, so neu und frisch und zum Niederknien wie Gloria, die einzig wahre Madonna.

Neununddreißig Sekunden später kniete er nieder, unfreiwillig.

»Das war für den wehrlosen Herrn Wilke«, rief Theo Baum. Er zog das Steakmesser, das er aus dem Lokal mitgenommen hatte, aus dem Körper seines ehemaligen Geschäftspartners und holte zum zweiten Stich aus. »Und das ist für den lieben Henning …« Er stach Nils schräg von oben in den Hals. »Und das …« Beim dritten Mal stach er in dieselbe Wunde. »… ist für die arme, alte Frau Glaubert.«

»Wer?« Blut blubberte im Rachen von Nils Balken; das Wort ging darin unter.

Drinnen hatte Theo seine Daunenjacke angezogen; jetzt schloss er den Reißverschluss und machte sich auf den Weg. Als der Sparkassenangestellte Jan Gödde aus dem Lokal auf den Parkplatz gerannt kam, übergab er sich knapp neben seinem besten Freund Nils, dessen Geruchssensoren nicht mehr funktionierten.

»Weit haben wir es ja nicht bis zum Gefängnis«, sagte Theo Baum. An die Hauswand gelehnt, den Kopf des toten Freundes auf seine Beine gebettet, blickte er über die stille, menschenleere Straße. »Als wir Ministranten waren, weißt du noch, haben wir immer zur Trösterin der Betrübten gebetet, wir wollten, dass sie uns verzeiht, weil wir beim Patronatsfest wieder die Pilger beklaut hatten; die haben nie was gemerkt, weil sie so in sich versunken oder vom langen Weg völlig erschöpft waren, vor allem die, die an drei Tagen hundertfünfzig Kilometer durchs Land gewatschelt sind. Wer macht so was? Wir nicht. Die Madonna hatte Nachsicht mit uns, ich glaub schon.« Er strich seinem Freund über den Kopf. Dann nahm er seine Mütze ab und streifte sie Henning behutsam über.

»Du bist noch tapferer als die mit ihren hundertfünfzig Kilometern. Du hast dich im Todeskampf von der Melsterstraße bis zu deinem Zuhause geschleppt, dafür vergibt dir die Madonna die Sünden des ganzen Lebens. Warum hat niemand dich gesehen? Warum hat niemand dir geholfen und dich ins Krankenhaus gebracht? Warum war niemand da in der Nacht für dich? Leben in dieser Stadt nur Tote?« Er lächelte zu seinem Freund hinunter.

»Heut Nacht schon. Heut spaziert der Tod durch Werl und winkt den Einwohnern, und wir erwidern seinen Gruß und rufen: Willkommen, du hast es geschafft, du bist am Ziel deiner Pilgerreise durch die Jahrtausende. Knie nieder und bekreuzige dich und danke dem Herrn für seine Güte. Küsse das Gnadenbild der heiligen Maria und tue Buße für deine Verbrechen, so wie wir büßen für unsere verderbten Taten. Amen.«

Theo Baum stieß einen Seufzer aus, betrachtete seinen Freund – ein Geldwäscher wie er selbst –, senkte den Kopf und küsste Henning Schultheiß auf die Stirn. »Weißt du, was ich denke? Ich denke, es genügt, wenn Jan Gödde allein ins Gefängnis geht, Sparkasse oder Knast, was soll’s? Warte auf mich.«

Mit diesen Worten holte er das Steakmesser aus seiner Jackentasche, umklammerte mit beiden Händen den Kunststoffgriff, streckte die Arme aus und richtete die Messerspitze auf die Höhe seines Herzens. Der Gedanke, dass die Klinge rostfrei war, zauberte ein verhuschtes Lächeln auf sein Gesicht. Dann stach er zu.

Gisa Pauly

Achtsam in Bad Sassendorf

»Mensch, Papa!«

So begann eigentlich jeder Tag. Seine Tochter war ständig mit ihm unzufrieden. Sie schlug die Augen auf … und fand etwas zu beanstanden. Und der Schuldige war immer er. Was war das doch für eine herrliche Zeit gewesen, als er sich über die Wiege gebeugt und allein dadurch ein Lächeln seiner Kleinen geerntet hatte! Das war doch erst sechzehn Jahre her. Wo war die Zeit geblieben?

»Was ist jetzt schon wieder los?«

»Du kriegst es echt nicht gebacken.«

»Was kriege ich nicht gebacken?«

Eine Antwort auf diese Frage gönnte ihm seine Tochter nicht. Schiller sah an sich herab. Er trug saubere Jeans und ein Shirt von einem angesagten Designer, nur bei den Sneakern hatte er mehr auf Bequemlichkeit als auf Coolness geachtet. Aber machte Sarah es etwa anders? Was sie nun schon wieder zu meckern hatte, verstand er einfach nicht.

»Entspann dich endlich, Papa. Hast du noch nie was von Achtsamkeit gehört?«

Frisches Holz riecht gut. Eiche und Lärche, sie kann nicht genug davon bekommen. Vor allem nachts geht sie gern zum neuen Gradierwerk, den Weg dahin kennt sie im Schlaf. Tief atmet sie durch, wie immer. Frisches Holz riecht nach Wald, nach Tannenzapfen, nach Advent, nach Schulausflug, nach selbst gebauter Kommode, nach Opas Werkstatt und nach allem, was neu ist und nicht neu bleiben wird. Noch aber ist es neu, noch riecht das Holz gut. Ein bisschen auch nach Rosenau. Und nach Schwarzdorn natürlich. Der Geruch der Sole wird noch kommen, das Gradierwerk ist ja noch nicht fertig. Aber der Duft des frischen Holzes wird noch eine Weile dominieren. Wie damals bei dem großen Küchentisch, der noch lange so gerochen hat wie die Späne in Opas Werkstatt.

Schiller hätte gern in Ruhe sein Müsli genossen und über alles, was Sarah von sich gab, hinweggehört. Vor allem, weil er das alles schon so schrecklich oft gehört hatte. Er rauchte, er trank, er aß zu fett. Was Frauen anging, hatte er einen unmöglichen Geschmack, und sein Beruf war ja so was von peinlich. Nun also etwas Neues. Achtsamkeit!

»Was genau meinst du damit?«, fragte er vorsichtig.

»Achtsamkeit ist heilsam«, dozierte sein Töchterchen. »Mit Achtsamkeitsübungen kann sogar Krebs geheilt werden. Depression, Suchtverhalten, Essstörungen sind durch Achtsamkeit zu vermeiden.«

Schiller versuchte, interessiert auszusehen, was ihm aber nicht gelang. Er litt nicht unter Depressionen, an Essstörungen schon gar nicht, und dass Sarah ihm Suchtverhalten vorwarf, nur weil er Abend für Abend zwei bis drei Biere trank, hatte er bisher in ein Ohr herein- und aus dem anderen herausrauschen lassen.

»Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion! Denk da mal drüber nach.«

Schiller ging kurz in sich. Stress? Hatte er eigentlich nicht. Warum also mit achtsamkeitsbasierter Reduktion gegen etwas ankämpfen, was ihn nichts anging?

»Achtsamkeit ist das neue Yoga. Meine Yogalehrerin bietet jetzt auch Achtsamkeitskurse an. Wer Yoga bei ihr macht, bekommt die Kurse zum halben Preis. Sie sagt, schon durch bewusstes Atmen kann man viel verändern. An ihr kannst du dir ein Beispiel nehmen. Die ist sogar noch älter als du.«

Schiller zog überrascht die Augenbrauen hoch. Noch älter? Dabei war er in Sarahs Augen doch schon so alt wie Methusalem und hatte keine Ahnung von moderner Musik, modernen Klamotten und moderner Lebensart. Erstaunlich, dass diese Frau trotz ihres Alters einen solchen Einfluss auf seine Tochter hatte. Vielleicht sollte er mal mit dieser Dame reden und sich beraten lassen.

Der Schrei rüttelt sie auf. Menschen schreien, wenn sie sich freuen, wenn sie überrascht werden, wenn sie aus guten oder weniger guten Gründen außer sich sind – und wenn sie Angst haben. In Todesangst schreien sie anders. Nicht schrill, nicht kreischend, auch nicht überkippend. Nein, dann schreien sie dunkler, verhaltener, kürzer, sogar gefasst, in der Sekunde, in der sie begreifen, dass nichts sie mehr retten kann. Dies ist so ein Schrei. Er ist ganz unvermittelt entstanden. Wer so schreit, ist nicht einmal zum Luftholen gekommen, die Angst hat ihn völlig unerwartet getroffen. Bis zu diesem Augenblick ist er voller Vertrauen gewesen, aber dann …

Sarah hatte ihn, bevor sie das Haus verließ, noch ermahnt, mal wieder etwas zum ersten Mal zu tun: »Bei dir passiert ja ständig dasselbe. Du musst Neuland betreten, Papa! Auch das ist Achtsamkeit.«

Sein Vorschlag, sie könne ebenfalls mal Achtsamkeit beweisen, indem sie Neuland betrete und das Badezimmer aufräume, bevor sie zur Schule aufbrach, war nicht gut angekommen. Schiller war mal wieder ein altmodischer Vater mit altmodischen Vorstellungen, der sich modernen Erkenntnissen verschloss und sich einfach nicht ändern wollte.

Dass er danach tatsächlich gezwungen wurde, Neuland zu betreten, bekam Sarah nicht mehr mit. Schiller musste nämlich etwas tun, was nicht zu seinen Gewohnheiten gehörte: Dienstbeginn ohne Frühstück. Und das sollte Achtsamkeit sein?

Dem Mörder, der in der Nacht zugeschlagen hatte, war jedenfalls noch nie etwas von Achtsamkeit zu Ohren gekommen. Sonst hätte er Vera Sieberding am Leben gelassen oder, wenn das nicht möglich gewesen war, seine Untat Schillers Dienstzeiten angepasst. Beides war jedoch nicht gelungen. Vera Sieberding war mausetot und Schiller so schnell zum Tatort gerast, dass absolut keine Zeit mehr für sein Müsli geblieben war.

Vera Sieberding war ihm bekannt. Eine Frau von Mitte sechzig, in Bad Sassendorf geboren und auch dort aufgewachsen. In der evangelischen Kirche am Kirchplatz war sie die Ehe eingegangen und hatte Jahre später ihren Mann auf dem Friedhof am Lerchensteg begraben. Ein Schicksal, das in Bad Sassendorf nicht selten war: hier geboren, hier gelebt und hier alt geworden. Vor allem Letzteres. Was das Altwerden anging, befand sich Vera Sieberding in guter Gesellschaft. In Bad Sassendorf war der Anteil der über Fünfzigjährigen überdurchschnittlich hoch, insbesondere, wenn der Kurbetrieb in vollem Gange war. Daran, dass Vera Sieberding mal jung gewesen war, konnte sich Schiller nicht erinnern. Zwar hatte er sie schon gekannt, als er als Schüler in dem Laden ihrer Mutter Salinenbonbons kaufte, aber auch da war sie ihm schon alt vorgekommen. Vera Sieberding war scheinbar alt zur Welt gekommen. Jetzt, lang ausgestreckt am Fuß des Gradierwerks liegend, sah sie jünger aus als zu ihren Lebzeiten, entspannt, ohne den verkniffenen Zug um den Mund, der so typisch für sie gewesen war.

Sie lag auf dem Rücken, der Kopf in einer Blutlache, die Arme weit von sich gestreckt, die Beine unnatürlich verrenkt, direkt neben einem der Betonstiefel, in denen die Holzpfeiler steckten, die den großen Balkon im ersten Obergeschoss trugen. Darüber, im zweiten Geschoss, gab es einen kleineren Balkon, nur halb so groß wie der im ersten. Von dort musste Vera Sieberding herabgestürzt sein, von der Sonnenterrasse, wo die Gäste später entspannen und die Aussicht genießen sollten.

Schiller blickte nach oben, über sich der Kopfteil des neuen Gradierwerks, das noch nicht ganz fertiggestellt war. Was passiert war, ließ sich sogar von unten erkennen: Das provisorische Geländer war durchbrochen worden. Obwohl das Betreten der oberen Etage verboten war und obwohl es eine Absperrung gab, die Leichtsinnige zurückhalten sollte, musste Vera Sieberding es geschafft haben, hinaufzusteigen. Oder war sie gezwungen worden?

Der Rechtsmediziner, groß, hager und wie immer schlecht rasiert, zuckte die Achseln. »Da hilft die ganze Achtsamkeit nichts. Und Yoga auch nicht.«

Schiller runzelte die Stirn. Achtsamkeit? Yoga? War denn mittlerweile ganz Bad Sassendorf verseucht von diesen blöden Ideen?

»Meiner Frau hat sie eingeredet, sie brauche neuen Mut.« Dr. Kant verdrehte die Augen und ahmte Vera Sieberdings Stimme nach: »Mut ist eine kostbare Hilfe, mit sich selbst Freundschaft zu schließen.« Seine Stimme wurde wieder tief und brummig. »Angeblich ein tibetanisches Sprichwort. Meine Frau hat doch glatt den Mut aufgebracht, meinen Wagen in die Garage zu fahren. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, wie mein linker Kotflügel jetzt aussieht.«

»Du meine Güte!« Schiller tat erschüttert.

»Die Sieberding plante schon seit Längerem – das hat meine Frau mir erzählt – bei Nacht auf die obere Etage des Gradierwerks zu klettern und ganz nah an den Rand zu gehen. Um sich so mit ihrer Höhenangst auseinanderzusetzen.« Dr. Kant tippte sich an die Stirn. »Toller Mut! Was hat sie nun davon gehabt?«

Schiller war froh, dass seine Tochter nicht miterleben musste, wie lang er für die Erkenntnis brauchte, wer Vera Sieberding gewesen war: die Yogalehrerin seiner Tochter.

Der Chef der Spurensicherung Kommissar Meiser, ein kleiner Mann mit Halbglatze, unterbrach seine Gedanken. Er hatte nichts gefunden, was auf eine Gewalttat hindeutete. Komisch seien nur die vielen Schuhspuren einer zweiten Person und der Besen, der in einer Ecke lehnte. »Die Zimmerleute sind bereits befragt worden, sie haben ihn noch nie gesehen und sind sicher, dass er am Vormittag nicht dort gestanden hat.«

Den Laden ihrer Mutter am Karl-Volke-Platz hatte Vera Sieberding weitergeführt, aber sie beschäftigte eine Verkäuferin, die sich darum kümmerte. Die schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Frau Sieberding ist tot? Wie entsetzlich! Wo sie doch gerade eine so wunderbare neue Geschäftsidee hatte! Sie war sicher, dass der Laden endlich eine Goldgrube werden würde.«

Vera Sieberdings Geschäft war nämlich bisher alles andere als das gewesen. Klein, dunkel, altmodisch, voller Nippes und Geschmacklosigkeiten, alles nur schwer an den Mann zu bringen. Dass die Inhaberin mit einem Mal eine moderne Marketingstrategie entwickelt haben sollte, wunderte Schiller sehr.

»Achtsamkeit!«, schleuderte ihm die Verkäuferin entgegen. »Und zwar handgestickt.«

Schiller verzog das Gesicht. Erstens weil er das Wort nicht mehr hören konnte, zweitens weil er nicht glauben wollte, dass etwas Handgesticktes diesen Laden zu einer Goldgrube machen konnte. Handgestickt war out, da mochte Achtsamkeit noch so in sein.

Die Verkäuferin interpretierte sein Schweigen falsch. »Haben Sie etwa noch nie von dem neuen Trend gehört?« Sie stellte sich in Positur, wie es Leute gern tun, die von einer Meinung überzeugt sind, die aber wissen, dass noch viel zu tun sein wird, um Gleichgesinnte zu rekrutieren. »Wir werden hier demnächst kleine Leinenbeutel anbieten, gefüllt mit dem Salz der Salinen und bestickt mit den Worten ›Achtsam in Bad Sassendorf‹. Frau Sieberding wird natürlich auch ein kleines Infoblatt über ihre Yogastunden und ihr Achtsamkeitstraining in die Beutel stecken.« Die Verkäuferin strahlte. Diese Marketingstrategie erschien ihr offenbar außerordentlich pfiffig. »Eine solche Werbung ist auch eine Form der Achtsamkeit.« Dann fiel das Strahlen schlagartig von ihr ab, als ihr klar wurde, dass aus den Plänen ihrer Chefin nichts mehr werden konnte. »Oder glauben Sie etwa nicht?«, fügte sie mit tränenerstickter Stimme an.

Schiller weigerte sich, darauf zu antworten. Er wollte auch nicht wissen, was es mit dieser handgestickten Achtsamkeit auf sich hatte. Ihn interessierte nichts anderes als der Tod von Vera Sieberding, nicht ihre Marketingkenntnisse und auch nicht ihre geschäftlichen Pläne. Wie war sie zu Tode gekommen? Das war alles, was er wissen wollte.

»Es war nicht besonders achtsam«, sagte er schärfer, als er eigentlich wollte, »aufs Gradierwerk zu klettern. Auf die obere Ebene, wo das Betreten verboten ist. Noch dazu bei Dunkelheit.«

»Sie hat dort ihren Mut gesucht.« Diese Antwort war mit einem Maß an Stolz gekommen, als hätte die Verkäuferin selbst versucht, sich Mut zu beweisen. Keine Frage, sie war von den Achtsamkeitstheorien ihrer Chefin durchdrungen. »Frau Sieberding hatte sich das schon oft vorgenommen. Sie hat dann immer einen Satz von Buddha zitiert: ›Gehe ganz in deinen Handlungen auf und denke, es wäre deine letzte Tat.‹«

Schiller nickte. »Das war es dann ja auch.« Er betrachtete eine Weile die Salzfässchen aus lackiertem Holz, die Salzkristalle aus Plastik und die Süßigkeiten, die alle das Wort »Saline« auf dem Etikett stehen hatten. Dann fiel ihm ein kleiner Besen auf, mit dem eine übereifrige Hausfrau – vermutlich besonders achtsam – die Krümel von der Tischdecke fegen konnte. Er erinnerte sich an den Besen, der auf dem Gradierwerk gefunden worden war. »Könnte es sein, dass Frau Sieberding einen Besen dabeihatte, als sie aufs Gradierwerk kletterte?«

Die Verkäuferin war empört. »Sie wollen behaupten, sie sei eine Hexe gewesen? Nur weil sie den Sinn des Lebens erkannt hat? Oh nein! Das ist keine Zauberei, das ist …«

»… Achtsamkeit, ich weiß.«

Die Schritte nähern sich vorsichtig. Kaum wahrnehmbar. Vermutlich glaubt da jemand, sie höre ihn nicht. Aber sie hat ein gutes, ein sehr gutes Gehör. Seit es dunkel geworden ist, vernimmt sie jedes kleinste Geräusch. So wie jetzt. Der Kies knirscht, ein Zweig bricht, Blätter rascheln. Klar, das könnte auch der Wind sein. Aber sie weiß genau, dass die Schritte des Windes leichter sind, dass er ihr unachtsamer folgt, dass er nichts vom Anschleichen versteht. Und der Wind riecht anders. Was sich ihr nun nähert, ist der Geruch der Angst. Angstschweiß riecht so. Er ähnelt dem Geruch der Rosenau, manchmal etwas faulig, oft aber auch bitter, wenn der Bach, seit er renaturiert worden ist, den Geruch des Holzes weiterträgt, das für das neue Gradierwerk verwendet worden ist. Sie riecht es ganz deutlich. Und jetzt hört sie auch den flachen Atem hinter sich …

Die Spurensicherung hatte den Tatort mittlerweile gründlich abgesucht.

»Wenn es Mord war«, sagte Kommissar Meiser, »ist er nicht besonders achtsam geschehen.«

Wie Schiller dieses Wort mittlerweile hasste! Nun konnte sogar schon achtsam gemordet werden!

»Wer Vera Sieberding vom Gradierwerk gestoßen hat, konnte nicht sicher sein, dass sie stirbt. Zehn Meter sind zwar kein Pappenstiel, aber man kann so einen Sturz überleben. Sie hätte mit mehr oder minder schweren Knochenbrüchen davonkommen können. Dann hätte sie schon im Krankenwagen den Namen des Täters genannt.«

»Oder ein Selbstmord?« Doch das hielt Schiller eigentlich für ausgeschlossen. Wer sich umbringen wollte, achtete darauf, dass er schnell und sicher starb. Also ein Unfall!

Zu spät! Sie ist wie gelähmt, unfähig, sich umzudrehen und sich der Gefahr zuzuwenden. Die Angst nagelt sie auf den Fleck. Flucht würde ja doch nichts nützen, sie würde nur zwei, drei Schritte weit kommen. Zu spät! Sie weiß ja nicht einmal, in welche Richtung sie fliehen könnte. Sie kennt nur die Geräusche und die Gerüche, keinen Fluchtweg. Zu spät! Als die Hände sich um ihren Hals legen, will sie schreien, schafft es aber nicht mehr. Zu spät …

Sarah hatte natürlich schon vom Tod ihrer verehrten Yogalehrerin und Achtsamkeitstrainerin gehört. Die Titelzeile im Soester Anzeiger, den Schiller neben dem Frühstücksteller liegen hatte, konnte sie daher nicht mehr erschrecken. »Mensch, Papa!« Ihre Empörung hätte nicht größer sein können, wenn ihr Vater selbst an der Tragödie schuld gewesen wäre. »Wieso sperrt man das Gradierwerk nicht ab, solange es noch nicht fertig ist?«

Schiller reagierte gereizt. »Es war abgesperrt. Aber leider gibt es Menschen, die sich darüber hinwegsetzen. Sag du mir lieber, warum eine Frau, die einerseits Achtsamkeit predigt, andererseits so nahe an den Rand des Balkons geht, dass sie über die Brüstung stürzt. Sie musste doch merken, dass es sich um ein provisorisches Geländer handelte.« Er wurde jetzt so zornig, dass er seiner Tochter vorwarf: »Macht Achtsamkeit etwa dumm? Oder warum hat sie das Schild nicht gelesen, das vor dem Betreten der oberen Terrasse warnt?«

Sarah atmete in den Bauch, blieb ganz ruhig, wohl deswegen, weil für sie die Sache längst klar war. »Sie wurde gestoßen.«

Schiller fragte sich, warum er überhaupt auf die Idee gekommen war, mit Sarah über Vera Sieberdings Tod zu reden. Mühsam beherrscht erklärte er ihr, warum er eher von einem Unfall und nicht von Mord ausging.

Sarah sah ihn verächtlich an. »Mensch, Papa! Vera hat natürlich meditiert. Ich denke, sie stand an der Brüstung, mit geschlossenen Augen, ganz entspannt … Wahrscheinlich hat sie Augen- und Ohren-Yoga gemacht. Aber klar! Davon hast du keine Ahnung!«

Schiller verzichtete darauf, sich erklären zu lassen, worum es dabei ging. »Wenn man so was macht, merkt man aber trotzdem, wenn sich jemand anschleicht.«

»Nicht, wenn der Täter auf Abstand bleibt!« Sarah drehte eine Weile an ihrem Nasenpiercing herum. »Er hat vermutlich etwas benutzt, um sie zu stoßen. Ehe sie ihn bemerkte und sich umdrehen konnte …«

Der Besen! Schiller machte auf dem Absatz kehrt. So eilig, so unachtsam, dass er auf der Schwelle stolperte, nach vorn taumelte und schmerzhaft mit dem Kopf gegen die gegenüberliegende Wand prallte.

»Jetzt bewusst atmen, Papa!«, riet seine Tochter. »Deine Umgebung bewusst wahrnehmen. Mach dir ganz bewusst klar, wie es dir gerade geht …«

»Beschissen«, knurrte Schiller und zog sein Handy aus der Jackentasche, das gerade zu klingeln begann.

»Eine Leiche im Holzschuppen von Hof Hück«, meldete Kommissar Meiser.

»Das Restaurant in der Nähe des Gradierwerks?«

»Genau. Ein Kellner hat sie gefunden. Eine Frau, lag schon fast zwölf Stunden da, muss in der vergangenen Nacht umgebracht worden sein. Der Todeszeitpunkt: etwa der gleiche wie bei Vera Sieberding. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang?«

Als Schiller am Hof Hück eintraf, hatte die Ermittlungsarbeit bereits begonnen. Der Chef der Spurensicherung empfing ihn neben einem riesigen Busch stammloser Tannen. Er wies auf eine Schleifspur, die bis zum Hof führte.

»Sieht so aus, als wäre sie hier erwürgt und dann über die Wiese zum Holzschuppen gebracht worden.«

»Eine Augenzeugin?«, überlegte Schiller. »Hat sie vielleicht den Tod von Vera Sieberding beobachtet und musste deswegen sterben?« Er schloss die Augen, atmete bewusst, nahm seine Umgebung sehr bewusst wahr … dann ärgerte er sich. Die Gesetze der Achtsamkeit waren anscheinend wie eine ansteckende Krankheit.

Er riss die Augen wieder auf und sagte: »Dann war Vera Sieberdings Tod also doch kein Unfall. Sie wurde mit dem Besen vom Gradierwerk gestoßen und hat den Sturz nicht überlebt. Und diese Frau scheint den Mörder gesehen zu haben.« Er atmete in den Bauch, ohne es zu merken, andernfalls hätte er schon wieder Grund gehabt, sich zu ärgern. Sarah hielt ihm ja ständig vor, dass er falsch atmete, und forderte ihn dann auf, seine Hand auf den Bauch zu legen und zu spüren, wie der sich durch seine Atmung hob. Tatsächlich legte er seine Rechte auf die Stelle unter dem Bauchnabel, als er sich fragte: Warum ist sie dann nicht abgehauen? Oder hat den Notruf gewählt?

Der Rechtsmediziner traf ein. »Kennen Sie die Frau? Eine Bad Sassendorferin?«