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Hanna Zimmermann

Tanz in die Angst

Thriller

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt von der Verlagsagentur Lianne Kolf, München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/chaoss (Regentropfen), MikeDotta (Frauenkopf)

Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-89425-763-7

1. Auflage 2020

Nach ihrem Studium der Germanistik und Wirtschaftswissenschaften arbeitete Hanna Zimmermann zunächst in der Automobilbranche als Referentin im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Seit 2018 ist sie für eine internationale Netzwerkagentur als PR-Beraterin für Kunden aus der ganzen Welt tätig. Ihr Herz und ihre Leidenschaft gehörten aber schon immer dem Schreiben und Erzählen von Geschichten.

 

Für Mama und Philip

Teil 1

Erschrecken

Doch Dämonen, schwarze Sorgen,
Stürzten roh des Königs Thron. –
Trauert, Freunde, denn kein Morgen
Wird ein Schloß wie dies umlohn!
Was da blühte, was da glühte
– Herrlichkeit! –
Eine welke Märchenblüte
Ist’s aus längst begrabner Zeit.

Edgar Allan Poe,
»Das Geisterschloß«

»Alle haben geschrien und alle haben geweint. Das machen brave Mädchen so, sie zieren sich ein bisschen. Ich weiß, dass du es auch tun wirst, meine kleine Ballerina. Weil du weißt, was sich gehört. Und bald bin ich bei dir. Nicht mehr lange, meine Kleine. Dann gehörst du mir.«

Er schloss die Datei, nachdem er die letzten Worte getippt hatte, und machte sich auf den Weg.

1

Der Tag, an dem sie ihre Seele verlor, war ein Mittwoch.

Sophie lächelte, als sie die Haustür öffnete. Sie betrat das Treppenhaus und ließ die Tür ins Schloss fallen, ohne sich umzudrehen. Warum sollte sie auch?

Mit dem Fahrstuhl fuhr sie die drei Stockwerke bis in ihre Wohnung hinauf, warf ihren roten Wollmantel über die Garderobe, zog sich aus und stieg unter die Dusche.

Als sie zwanzig Minuten später in Shorts und mit der neuesten Ausgabe der »InStyle« auf dem Sofa saß, schreckte sie ein lautes Geräusch aus der Küche auf. Ihr Körper spannte sich instinktiv an, die kleinen Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf. Sie lebte allein. Wer sollte dort also etwas fallen lassen? Doch genau danach hatte es sich angehört.

Beruhige dich!

Die Küche lag auf dem Weg zur Tür. Sie musste an ihr vorbei, um aus der Wohnung zu kommen.

Du spinnst doch, dachte sie. Niemand bricht in den dritten Stock eines Altbaus ein und wirft dann deine Sachen durch die Gegend.

Sie lockerte ihre steifen Muskeln, wickelte die Zeitschrift in ihrer Hand zu einer festen Rolle und ging langsam auf die Küchentür zu. Als sie die Klinke drückte und blitzschnell nach dem Lichtschalter tastete, fragte sie sich für den Bruchteil einer Sekunde, was sie denn tun würde, wenn sich wirklich jemand hinter der Tür befand. Ihn mit der »InStyle« verprügeln?

Das Licht erhellte den kompletten Raum innerhalb einer Sekunde und zu erkennen war – nichts. Weder in der Ecke noch unter dem Tisch. In der Dunkelheit vor dem Fenster spiegelte sich lediglich ihr eigenes Gesicht.

Erleichtert atmete Sophie aus, als sie endlich entdeckte, was sie so erschreckt hatte: Im Waschbecken lag die Spülbürste, die sie gestern Abend mit einem Saugnapf an den darüberliegenden Kacheln befestigt hatte. Sie hatte sich gelöst und war ins Becken gefallen, so simpel.

»Und du machst dir beinahe in die Hose«, sagte sie laut zu sich und lachte auf.

Um weitere Panikattacken zu vermeiden, beschloss sie, die Bürste liegen zu lassen, und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Erst unterwegs fiel ihr ein, dass ihre Wäsche noch in der Maschine im Keller lag.

Sie hatte keine große Lust, sich um diese Uhrzeit darum zu kümmern, doch was blieb ihr schon anderes übrig, wenn sie morgen früh frische Unterwäsche tragen wollte?

Sie zog sich rasch ein Paar Nikes über die nackten Füße, schnappte sich ihr Handy und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten.

Die Enge in der kleinen Metallkabine war ihr noch nie geheuer gewesen und besonders in der Nacht kam ihr das kaltweiße Licht der Fahrstuhllampe vor wie die Beleuchtung in einem Leichenschauhaus. Nicht dass sie je in einem gewesen wäre, aber sie hatte genug Filme gesehen, um eine Vorstellung davon zu haben.

Sie hielt ihr Handy fest in der Hand, wie eine Notfallversicherung, falls der Fahrstuhl stecken bleiben würde. Ihre Beine froren in den knappen Shorts und sie freute sich darauf, bald wieder in eine Decke gewickelt auf ihrem Sofa liegen zu können.

Der Fahrstuhl kam im Erdgeschoss zum Stehen. Schnell huschte sie durch den Flur zur Kellertreppe – doch auf halbem Weg blieb ihr Blick an der Haustür hängen.

»Das gibt’s doch nicht!«, fluchte sie leise, während sie die Tür ins Schloss drückte. Seit Wochen gab es schon Probleme damit, sie würde morgen noch einmal den Hausmeister anrufen müssen.

Schon als Kind waren Keller für sie gruselige Orte gewesen: Ein paar Stufen nach unten brachten sie in einen Raum, der fernab der restlichen Welt zu liegen schien. Dort war jeder Besucher auf sich gestellt und niemand wusste, was hinter der nächsten Ecke lauerte. Ein Gefühl, das sie auch als Erwachsene nicht losgelassen hatte.

Sie öffnete die schwere Tür des Waschraums und ärgerte sich wie jedes Mal, dass sie durch einen speziellen Mechanismus nicht offen stehen blieb, sondern automatisch zufiel. Ein Unding, das dem Brandschutz geschuldet war.

Sie ging bis zur Mitte des Raumes, wo sich die Anschlüsse für ihre Wohnung befanden, und beobachtete dabei nervös die zweite Tür an der rückseitigen Wand, die tiefer in die Kellergänge hineinführte.

Du benimmst dich wie ein Kind. Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Wer sollte denn bitte in ihrem Keller sitzen und darauf warten, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt herunterspaziert kam und ihre Wäsche holte?

Sie kniete sich vor die Maschine und begann die nassen Sachen in einen Korb zu legen, als ein Geräusch von links sie zusammenschrecken ließ. Langsam drehte sie den Kopf zur Tür. Sie war verschlossen, nichts rührte sich.

Du schnappst langsam über, dachte sie und wollte gerade den Rest ihrer Wäsche einsammeln, als sie erneut etwas vernahm.

Das zweite Geräusch war noch bedrohlicher und realer als das erste: der Klang eines Scharniers, das sich langsam bewegte.

Sophie hielt die Luft an, als sie ihren Kopf ein zweites Mal nach links wandte. Die hintere Tür war halb geöffnet. Dunkelheit drang durch den Spalt.

In Sekundenschnelle suchte ihr Gehirn nach einer rationalen Lösung dafür. Die Tür war eben noch verschlossen gewesen, das hatte sie genau gesehen. Und wäre sie schon vorher offen gewesen, woher kam dann das Geräusch?

Plötzlich machte es klick in ihrem Verstand. Ein Gefühl, als wäre die Temperatur im Raum um zehn Grad gefallen, überrollte sie. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, warum die Tür nicht geschlossen war: Jemand stand auf der anderen Seite und hielt die Klinke fest.

Sie sprang auf, wobei ihr Handy zu Boden fiel, und lief in Richtung Ausgang. Aus den Augenwinkeln nahm sie entsetzt wahr, wie der Durchgang zu den hinteren Räumen aufgerissen wurde und eine Gestalt in den Waschraum kam. Eine große, schnelle Gestalt … Wesentlich schneller als Sophie, die viel zu lange brauchte, um die rettende Tür zu erreichen.

2

Ein Tag zuvor

Sophie Finke war von klein auf lebhaft gewesen. Sie war im Grunde glücklich, auch wenn das Leben ihr in den vergangenen neunundzwanzig Jahren schon den ein oder anderen Stein in den Weg gelegt hatte. Manche Steine waren kleiner gewesen, wie das Abitur, das sie erst im zweiten Anlauf geschafft hatte. Manche Steine waren aber auch größer gewesen, wie der Tod ihrer Mutter, als sie noch ein Baby gewesen war. Doch wer bekam schon immer, was er wollte?

Dass es ihr trotz allem besser ging als vielen anderen, verdankte sie ihrem Vater.

Peter Finke war Inhaber einer erfolgreichen Werbeagentur in Mannheim, wo Sophie seit zwei Jahren in einem schicken Altbau lebte. In Hofheim, einem idyllischen Vorort, hatte sie ihre Kindheit verbracht. Seit sie ihr Germanistikstudium beendet und begonnen hatte, in der Agentur ihres Vaters als Texterin zu arbeiten, betrat sie ihr Elternhaus, das ihr als Kind immer wie ein Schloss vorgekommen war, nur noch als Besucherin. Als eine Fremde, die Zuflucht an einem vertrauten Ort suchte. Das Haus gehörte zu der scheinbar perfekten Welt, in der sie aufgewachsen war.

Sophie lag im Bett und lauschte dem Verkehr vor ihrer Wohnung. Die Frage, warum ihr diese Kindheit überhaupt so perfekt vorkam, schlich sich dabei nicht zum ersten Mal in ihren Kopf.

Es gab viele Dinge, die schiefgelaufen waren. Ihr Vater hatte hart arbeiten müssen, um sein Geschäft aufzubauen, und war oft unterwegs gewesen. Sie erinnerte sich an viele wichtige Momente und an lange Zeitabschnitte, in denen ihre Oma Erika allein mit ihr in dem großen Haus gelebt hatte. Sie waren ein unschlagbares Team gewesen. Keine ihrer Freundinnen hatte eine Oma gehabt, die zu Weihnachten so gute Plätzchen backen konnte.

Doch sobald ihr Vater das Haus nach einer durchgearbeiteten Nacht oder einem Wochenende auf Geschäftsreise betreten hatte, war er der Held gewesen. Er war der König und Sophie die Prinzessin.

Wenn er abends spät nach Hause kam, blieb sie wach und sprang aus dem Bett, kaum dass sie die Haustür hörte. Und egal, wie müde er war – er erzählte ihr jedes Mal eine Geschichte. Ihr Zimmer mit der roten Erdbeer-Tapete wurde zu einem Piratenschiff voller Abenteuer, zu einer Burg, aus der eine Prinzessin gerettet werden musste, oder zu einem fernen Planeten, auf dem ein kleiner Junge eine Schlange traf, die einen Elefanten verspeist hatte. Ihr Vater hatte alles getan, um auszugleichen, was mit ihrer Mutter geschehen war. Er hatte ihr die beste Kindheit ermöglicht, die es für ein Mädchen ohne Mutter geben konnte.

Sophie seufzte und nahm ihr Handy in die Hand. Sie beschloss, dass das genügend trübsinnige Gedanken für eine Nacht waren. Ein kurzer Blick auf Instagram würde sie bestimmt ablenken.

Mitten in der Nacht, dachte sie, erinnerst du dich manchmal an längst vergessene Dinge, die just wieder wahnsinnig wichtig werden. In der Regel hält das nur bis zum nächsten Morgen an, wenn Kaffee, Arbeit und die Frage, wie lange du das Wäschewaschen noch aufschieben kannst, Platz eins in deinem Kopf einnehmen.

Sie schmunzelte bei dem Gedanken. Kurz darauf schlief sie traumlos ein.

Der Wecker klingelte wenige Stunden später. Sophie lugte mit verkniffenem Gesicht unter der Decke hervor, kletterte seufzend aus dem Bett und schaltete ihren geliebten Kaffeevollautomaten ein.

Mit einer dampfenden Tasse betrat sie das Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Das dichte honigblonde Haar und die blauen Augen hatte sie von ihrer Mutter. Je älter sie wurde, desto ähnlicher sah sie der Frau, die sie nur von alten Fotos kannte. Das behauptete zumindest ihre Oma Erika.

Wie jeden Morgen vergaß sie die halb leere Kaffeetasse auf dem Fenstersims ihres Badezimmers, machte sich fertig, stellte im Keller den Timer ihrer Waschmaschine ein und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Es war Mitte September und die Sonne versteckte sich noch hinter dem künstlichen Licht der Straßenlaternen.

Ihr Büro lag in einem mehr als einhundert Jahre alten Gebäude an einer der Haupteinkaufsstraßen. So früh war Sophie meist der erste Mensch dort. Vor neun Uhr morgens schlief die Welt der Agenturen noch, sodass sie in Ruhe abarbeiten konnte, was sie am Vorabend hatte liegen lassen.

Sie hatte gerade ihren ersten Text für die neue Kampagne eines Kompaktpuder-Herstellers geschrieben, als Vicky durch die Bürotür kam. Vicky war ihre Kollegin und gleichzeitig beste Freundin. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und eine der hübschesten Frauen, die Sophie je gesehen hatte. Ihr langes braunes Haar war zu einem hohen Zopf gebunden und ihre stahlblauen Augen leuchteten über ihren vom Herbstwind geröteten Wangen. Als wäre das alles noch nicht genug, war sie auch noch der liebenswerteste Mensch, den Sophie kannte.

Allerdings traf sie nicht immer die klügsten Entscheidungen. Patrick, der erst seit ein paar Wochen in der Agentur arbeitete, lief nicht nur direkt hinter ihr, sondern trug auch noch ihre Laptoptasche um die Schulter. Er war frisch von der Uni gekommen und gehörte zu diesen wahnsinnig netten Kerlen, die für die meisten Frauen nie mehr als gute Freunde sein würden.

Sophie schüttelte den Kopf. Es war Zeit für eine kleine Pause. Unter einem Vorwand zog sie ihre Freundin in die Kaffeeküche.

»Vicky, du weißt, ich mag dich, aber damit tust du dir gerade echt keinen Gefallen.« Sie gab sich Mühe, so streng wie möglich auszusehen, doch als Vicky schelmisch zu grinsen begann, musste sie vor Lachen losprusten.

»Schon klar.« Vicky räusperte sich, offensichtlich in der Bestrebung, sich das verräterische Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. »Er hat gestern noch mal bei mir gepennt. Wir saßen über einer Präsentation und ich brauchte ein bisschen Abwechslung. Du weißt genau, ich bin nicht gern einsam. Ich tue es auch nie wieder, großes Ehrenwort.«

»Das hast du schon öfter gesagt.« Sophie zog demonstrativ ihre Brauen nach oben – ein weiterer Versuch, Vicky ein schlechtes Gewissen zu machen – und fuhr dann schmunzelnd fort: »Im Grunde kann es mir ja total egal sein. Aber ich sage dir, der arme Kerl ist drauf und dran, sich in dich zu verlieben, und du weißt ja, wie kompliziert so was werden kann.«

»Tja, vielleicht verknalle ich mich ja auch in ihn«, entgegnete Vicky, doch der Klang ihrer Stimme verriet, dass sie selbst nicht daran glaubte.

»Dazu müsste er nur noch zwanzig Zentimeter wachsen, sich ein paar Muskeln zulegen und schnell den Motorradführerschein machen. Hast du ihm das schon gesagt?« Sophie wusste genau, auf welchen Typ Mann Vicky stand, und der schmal gebaute, freundliche Patrick passte leider nicht in dieses Schema.

»Ich brech ihm schon nicht sein kleines Herz, keine Sorge. Und jetzt lass mich endlich an die Kaffeemaschine, sonst schlafe ich noch im Stehen ein.«

Zwischen neuen Texten, Meetings und einem schnellen Mittagessen mit ihren Kollegen verging der restliche Tag wie im Flug. Es hatte sich so viel Arbeit angestaut, dass Sophie gar nicht merkte, wie spät es wurde. Erst gegen neunzehn Uhr fuhr sie ihren Laptop herunter, zog ihren roten Wollmantel über und verließ das Gebäude.

Es war mittlerweile dunkel geworden, doch auf der belebten Straße war so viel los, dass es Sophie nichts ausmachte. Im Gegenteil, allein an den beleuchteten Geschäften und an all den Menschen vorbeizulaufen, gab ihr eine gewisse Souveränität. Sie kümmerte sich um sich selbst, passte selbst auf sich auf – ein Gefühl, das ihr schon immer wichtig gewesen war.

Unwillkürlich machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Hätte sie gewusst, dass jemand dieses Lächeln beobachtete, wäre es mit Sicherheit schnell erstorben.

3

Der Mann im Keller packte sie von hinten und riss sie von den Füßen. Sie stöhnte vor Schmerz, als er ihren Körper mit seinem Gewicht auf den Boden presste. Panik durchdrang sie und unterdrückte jeden klaren Gedanken.

Er war so schwer, dass es Sophie die Luft aus den Lungen quetschte. Sein Keuchen dröhnte in ihren Ohren. Er küsste ihren Hals – nein, er leckte ihn ab wie ein wild gewordener Hund. Sein Atem roch abgestanden, wie altes Fleisch.

Dann hob er den Kopf. Erst da wurde ihr klar, dass er eine Maske trug. Das weiße Latexgesicht eines Clowns starrte ihr entgegen. Überdimensionale Lippen und zwei schwarze Kreuze bildeten eine Fratze wie aus einem Horrorfilm. Die leuchtend roten Haarbüschel wirkten fast surreal.

Unter den Ausschnitten für Mund und Augen lauerten trübe Pupillen und ein hämisches Grinsen. Wie Teile eines Raubtiers, das auf seine Beute wartete. Ein Kichern drang unter der Maske hervor. Sein Klang ging ihr durch Mark und Bein. Die Welt um sie herum verschwamm. Angst war alles, was sie noch spürte.

Sie wollte schreien, doch die Panik schnürte ihre Kehle zu. Der Mann begann sie zu würgen. Verzweifelt versuchte sie, seine riesige Pranke von ihrem Hals zu ziehen, während sich seine andere Hand zwischen ihren Beinen zu schaffen machte.

Der Fremde sagte nichts, nur sein heftiges Atmen und Stöhnen waren zu hören. Speichel lief aus seinem Mund und verlieh den roten Clownslippen einen abstoßenden Glanz. Sophie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde explodieren, und die Angst, keine Luft mehr zu bekommen, ließ ihren Leib bis in die Zähne erzittern.

Mit aller Kraft zerrte sie weiter an seiner Hand, doch es gelang ihr nicht, sie von ihrem Hals zu lösen. Egal, wie fest sie zog, er drückte nur noch mehr zu. Was sie auch tat, er war überall, presste jeden Zentimeter ihres Körpers entweder nach unten oder hielt ihn fest.

Als sie spürte, wie der Stoff ihrer Shorts über ihren Hintern nach unten glitt, glaubte sie, sie würde zu einem einzigen harten Stück Eis erstarren, während ihr Puls im Inneren nach Hilfe schrie. Tränen der Verzweiflung flossen über ihr Gesicht. Das durfte einfach nicht passieren, sie musste es verhindern!

In ihrer Panik riss sie beide Arme nach oben und schlug auf die Schläfe ihres Angreifers ein. Er ließ ihren Hals los, um die Schläge abzuwehren. Endlich drang wieder Luft in ihre Lungen. Reflexartig richtete sie ihren Kopf auf und biss ihm mit aller Kraft in die Nase. Das Latex der Maske und der Knorpel gaben unter ihren Zähnen nach, sie schmeckte das Blut, das innerhalb von Sekunden auf ihre Lippen tropfte.

Der Mann schrie vor Schmerz auf und ließ für den Bruchteil einer Sekunde von ihr ab. Blitzschnell wandte sie sich zur Seite, doch schon im nächsten Moment bekam sie einen heftigen Schlag ins Gesicht. Der Fausthieb traf ihr linkes Auge und knallte ihren Schädel mit voller Wucht gegen den Betonboden. Alles um sie herum drehte sich, als gäbe es weder oben noch unten, links oder rechts. Die Welt wurde schwarz und verstummte. Für einen unendlichen Moment war alles, was sie tun konnte, atmen.

Ihr gesamter Kopf pochte. Nur langsam nahm sie ihre Umgebung wieder wahr. Der Schlag hatte sie so hart getroffen, dass ihre Sinne wie ausgeschaltet gewesen waren. Sie konnte den Mann nicht sehen, nicht fühlen und das laute Piepsen in ihren Ohren ließ sie nur noch ein leises, dumpfes Stöhnen hören.

Adrenalin schoss durch ihren Körper. Das Piepsen wurde leiser und ihr Blick wieder klarer, die Schmerzen im Kopf rückten in den Hintergrund. Sie bäumte sich auf, als der Mann seine Hose öffnete. Ihre Shorts und Unterwäsche hatte er längst heruntergerissen, ihr T-Shirt war nach oben geschoben.

»Du bist hart im Nehmen, Kleine«, sagte er grinsend, während ihm wieder Speichel aus dem Mund lief. Er vermischte sich mit dem Blut aus seiner Nase. Der Mann starrte auf Sophie herunter, als sei sie ein Weihnachtsgeschenk, das er sich lange gewünscht hatte und so schnell nicht wieder hergeben würde.

Mit letzter Kraft drehte sie ihren Oberkörper so weit es ging zur Seite, sodass ihre Brust ein Stück frei wurde. Sie schrie all die Luft hinaus, die noch in ihren Lungen war. Der Schrei war laut, doch er erstarb viel zu schnell.

Der Mann brauchte keine Sekunde, um sie brutal auf den Rücken zurückzudrehen. Ihr Kopf knallte erneut auf den Beton und seine riesige Hand lag fest auf ihrem Mund. Nein, eher auf ihrem halben Gesicht. Keine Regung war mehr möglich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf die abstoßende Maske zu blicken, die wieder direkt über ihr war. Sie konnte das Latex riechen und ihr wurde übel.

»Halt einfach still, kleine Ballerina, dann bin ich auch bald wieder weg.« Keuchend drückte er ihre Schenkel auseinander. Dann lächelte er.

Sophie wurde klar, dass sie verloren hatte. Alles in ihr brannte, als er in sie eindrang.

In ihrer Benommenheit flüchtete sie in die Vergangenheit. Sie war sechs Jahre alt und saß auf einer Schaukel im Garten ihrer Großmutter. Der Himmel war so blau, dass es fast unwirklich schien, während die Luft von der Augusthitze flimmerte. Sie schaukelte immer höher und höher, bis ihr gelbes Sommerkleid im Wind flatterte. Sie wartete auf ihren Vater. Dieses Gefühl von Vorfreude und Glück, als er lächelnd durch das weiße Gartentor kam, würde sie niemals vergessen. Ihr Ritter in glänzender Rüstung.

Doch diesmal kam niemand, um sie zu retten.

4

Am nächsten Morgen hatte sie nicht mehr ihre eigene Kleidung an. In einem Film würde sie ein steriles hellblaues Krankenhaushemd tragen, das am Rücken zusammengebunden war. In der Realität steckte ihr Oberkörper in einem weiten T-Shirt mit einem aufgedruckten Donald Duck, der fröhlich lachend den Finger hob. Er hatte offensichtlich eine zündende Idee.

Das T-Shirt war genauso neu wie die schwarzen Sport-Shorts an ihren Beinen. Es war merkwürdig – sie fragte sich nicht zuerst, warum sie hier war, sondern warum sie diese fremde Kleidung trug. Sie dachte darüber nach, wo ihre eigenen Sachen waren, als das Bild eines zerrissenen Shirts in ihren Kopf kroch. Ihres zerrissenen Shirts? Der Gedanke ließ sie würgen. Reflexartig drückte sie den Schwesternknopf an ihrem Bett.

Eine kräftige Frau betrat das Zimmer. »Frau Finke, wie wunderbar, dass Sie endlich aus dem Traumland zurück sind.«

Langsam wurde Sophies Kopf wieder klarer. Es war keine der Schwestern, die sie schon in der Nacht betreut hatten, diese Frau hatte sie niemals zuvor gesehen.

»Sie sollten erst mal liegen bleiben, Herzchen. Ich besorge Ihnen einen schönen Tee und sage dem Arzt, dass Sie wach sind. Leider sind die Kollegen aus der Nachtschicht nicht mehr da, aber Dr. Schönborn wird sich gut um Sie kümmern.«

Die Freundlichkeit in der Stimme der Frau machte Sophie traurig und sie war erleichtert, als sie das Zimmer wieder verließ. Vor fremden Menschen wollte sie nicht weinen, das könnte sie einfach nicht ertragen. Denn es gab auch so schon genug, das sie aushalten musste, ohne dabei zusammenzubrechen: Sie lag im Krankenhaus – in fremden Kleidern und in einem fremden Bett – und war kaum in der Lage, den Mund zu öffnen. Jede Bewegung tat weh und ihr Schädel pochte, als sei darin eine Bombe explodiert.

Erst allmählich fielen ihr Details der letzten Nacht wieder ein. Ein Mann hatte sie in ihrem Keller überfallen und vergewaltigt. Wie in einem Fernsehkrimi, nur gnadenloser und brutaler.

Sie dachte an das, was sie in Talkshows und Diskussionen gehört hatte. Täter suchen Opfer, wehr dich, kratz und beiß, er wird dich schon in Ruhe lassen. Oder: Wer nicht vergewaltigt werden will, kämpft bis zum Schluss. Doch nirgendwo hatte sie gehört, wie schwer es war, gegen jemanden zu kämpfen, der so viel stärker war. Und wie schwer es war, sich zu wehren, wenn Sterben plötzlich auch eine Möglichkeit war. Wenn man Angst hatte, umgebracht zu werden, sobald man sich noch mehr auflehnte.

Sie sah das Gesicht des Clowns vor sich, wie es sich über ihr im Rhythmus bewegte. Wie es stöhnte.

Nachdem der Mann mit ihr fertig gewesen war und sie bewusstlos zurückgelassen hatte, war nach Schätzung der Polizei ungefähr eine halbe Stunde vergangen, bis eine Nachbarin sie gefunden hatte. Die Beamten und der Krankenwagen waren innerhalb von Minuten da gewesen und hatten sie in das nahe gelegene Theresienkrankenhaus direkt am Ufer des Neckars gebracht. Dort angekommen, hatte eine Odyssee aus Befragungen und Untersuchungen begonnen. In einem kahlen Behandlungszimmer wurden Fotos von ihrem Körper gemacht, jede Wunde musste festgehalten werden, bevor sie verblassen konnte. Sophie hatte sich gewundert, wie viele Verletzungen ein Mensch einem anderen in so kurzer Zeit zufügen konnte.

Danach wurden Proben entnommen: Blut, Sperma, Hautfetzen unter ihren Fingernägeln – alles wurde sorgfältig in kleine Döschen verpackt und beschriftet. Erst als alle Beweise gesichert und die beiden Platzwunden an ihrem Kopf genäht worden waren, war sie in ihr neues Zimmer geführt worden und hatte endlich duschen dürfen. Eine der Schwestern war bei ihr geblieben, während sie sich unter dem heißen Wasserstrahl das Blut und den Schweiß ihres Peinigers von der Haut gewaschen hatte. Sie hatte das Wasser so heiß aufgedreht, bis ihre Haut rot und taub wurde und sie außer dem Brennen nichts mehr spürte.

Duschen war das Einzige gewesen, an das sie während der zweistündigen Untersuchungen gedacht hatte, das Einzige, das für sie relevant gewesen war. Sie hatte das Fotografieren ertragen und die Ärztin, die ihr wortlos Abstriche entnommen hatte. Sie hatte jedes Detail ihrer Geschichte erzählt und immer wieder versichern müssen, dass der Angreifer kein wütender Ex-Freund gewesen sein konnte. Als hätte es das besser gemacht … Nur der Gedanke an Wasser und Seife hatte sie das alles erdulden lassen.

Zum Einschlafen hatte sie Beruhigungsmittel und neue Kleidung bekommen, die Menschen dem Krankenhaus für diesen Zweck gespendet hatten. Kleidung für Frauen, die vergewaltigt worden waren und deren eigene Sachen in irgendwelchen Beweismitteltüten lagen. Danach hatten die Medikamente sie in einen tiefen Schlaf sinken lassen.

Während sie nun in ihrem Bett lag und auf den Arzt wartete, prasselten die Erinnerungen an die letzte Nacht wie ein Hagelschauer immer weiter auf sie ein. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater mitten in der Nacht mit blasser Haut und rot geränderten Augen im Flur darauf gewartet hatte, dass sie aus dem Behandlungszimmer kam. Wie sie eine Welt hinter seinen Augen hatte zerbrechen sehen. Wie er an ihrem Bett gesessen hatte, bis sie eingeschlafen war.

Wo war er jetzt? Ihr Puls wurde schneller, ihre Hände schwitzten. Eine lähmende Beklemmung ergriff sie.

»Frau Finke, es ist alles in Ordnung, wir sind jetzt da.« Ein junger Mann im weißen Kittel kam ins Zimmer und beugte sich besorgt über sie.

Sophies Kehle wurde eng, als der Mann ihr näher kam. Sie fühlte Schweiß in Strömen über ihren Körper fließen, als hätte jemand eine Leitung aufgedreht. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und aus dem Zimmer gerannt.

Instinktiv trat der Arzt einen Schritt zurück und lächelte sie traurig an. »Es tut mir leid, ich habe Sie nicht erschrecken wollen. Mein Name ist Dr. Schönborn und ich werde mich heute zusammen mit Schwester Sylvia um Sie kümmern. Haben Sie bitte keine Angst, hier kann Ihnen nichts passieren.«

Dr. Schönborn konnte kaum älter als dreißig sein, war schmächtig und hatte lichtes hellblondes Haar. Der Typ »netter Kerl«, über den Schwiegermütter sich freuten und der Frauen nicht einmal in einer Bahnhofsunterführung um drei Uhr morgens Angst einjagen würde. Dennoch wirkte er auf Sophie so furchteinflößend, dass ihr beinahe die Tränen kamen. Sie wollte, dass er ging. Sie wollte, dass nie wieder ein Mann ihr Zimmer betrat.

Dr. Schönborn wandte sich der kräftigen Krankenschwester zu. »Geben Sie ihr bitte noch etwas zur Beruhigung. Das ist alles noch zu viel für sie. Und verbinden Sie bitte ihre Hände.« Er lächelte Sophie an und verließ das Zimmer.

Die Schwester folgte ihm und kam zwei Minuten später mit einem kleinen Fläschchen in der Hand zurück. Sie öffnete den Zugang, der in der Nacht in Sophies Vene gelegt worden war, und spritzte das Beruhigungsmittel hinein.

Während Sophie zitternd darauf wartete, dass die Wirkung einsetzte, streifte ihr Blick einen roten Fleck auf der ansonsten weißen Bettdecke. Sie hob ihre Hände und sah, dass beide Handflächen voller blutiger Kratzer waren.

Als sich das Mittel endlich seinen Weg durch ihre Adern gebahnt hatte, wurde die Welt wieder in Dunkelheit getaucht.

Ein paar Stunden später wurde sie langsam wieder wach. Ihr Gesicht fühlte sich an, als wäre es auf die doppelte Größe angeschwollen, und der Geschmack in ihrem Mund war schal und bitter. Wer glaubte, eine Vergewaltigung allein wäre das Schlimmste, das einem passieren konnte, hatte noch nicht die Zeit danach erlebt.

Sie nahm ihr Handy vom Nachttisch und entsperrte das Display – es war gerade erst elf Uhr morgens. Obwohl der Überfall noch keine vierundzwanzig Stunden her war, war ihr Handy jetzt schon voll von Nachrichten und Anrufen. Freunde, Bekannte und Kollegen wollten wissen, wie es ihr ging, und überfluteten sie wahlweise mit traurigen Smileys, Denk-positiv-Bildchen oder ehrlich gemeinter Anteilnahme.

Noch während Sophie sich fragte, wie sie alle so schnell davon erfahren haben konnten, poppten die ersten Meldungen über eine Vergewaltigung in Mannheim in ihrem Facebook-Feed auf. Weder ihr Name noch ihre Adresse wurden genannt, dafür aber das Viertel, in dem sie wohnte. Anscheinend hatte irgendjemand eins und eins zusammengezählt und die Information in ihrem Bekanntenkreis verbreitet.

Sie las keine einzige dieser Nachrichten wirklich, ignorierte jeden Anruf und die Idee, dass jemand sie besuchen könnte, ließ ihr den Geschmack von Galle in den Mund steigen. Sie wollte niemals wieder jemandem ins Gesicht sehen müssen, der sie gekannt hatte, bevor ihr Leben auf einem Kellerboden zerschmettert worden war.

Die einzige Nachricht, die sie beachtete, war die ihres Vaters. »Hallo, Süße, die Ärzte haben gesagt, ich soll dich ein paar Stunden schlafen lassen – hole gerade einige Sachen aus deiner Wohnung und bin gegen Mittag wieder bei dir! Kuss, Dad«.

Sie hoffte, dass er länger brauchen würde – in sein mitleidvolles Gesicht zu blicken, war das Letzte, was sie jetzt wollte.

Sie sperrte ihr Handy wieder. Das Display wurde zu einer spiegelnden schwarzen Oberfläche. Mit trockenem Mund betrachtete sie ihr Gesicht. Von einem Tag auf den anderen war sie zu einem Schreckgespenst geworden, dessen Anblick sie selbst kaum ertragen konnte. Ihre Haut war blass, was die roten und grünen Töne der Schwellungen nur noch mehr zur Geltung brachte. Ihr linkes Auge, das den Fausthieb abbekommen hatte, war fast komplett unter den Beulen verschwunden, ihre Lippen waren von so tiefen Furchen durchzogen, dass man es selbst auf dem winzigen Display erkennen konnte. Wegen der beiden genähten Platzwunden durfte sie ihre Haare nicht waschen, sodass sie die Reste des verkrusteten Blutes noch immer auf ihrer Kopfhaut fühlen konnte.

Zögernd hob sie die Decke an. Ihr Körper war an fast jeder Stelle von dunklen Hämatomen übersät, am härtesten hatte es ihre Brust, die Handgelenke und die Innenseiten ihrer Oberschenkel getroffen.

Laut der Aussage der Ärzte war sie trotz allem noch einigermaßen glimpflich davongekommen. Es hätte schlimmer sein können. Ihre Verletzungen würden mit der Zeit folgenlos heilen. Ob sie sich mit Aids oder Hepatitis C angesteckt hatte, würde man allerdings erst in einigen Monaten testen können.

Den Rest des Tages erlebte sie wie in Trance. Ihr Vater kam zu Besuch, genau wie Vicky und Erika. Sie brachten Pralinen und Zeitschriften mit, bemühten sich, sie von dem abzulenken, was geschehen war. Doch wie hätten sie das schaffen sollen? Es war, als wäre der Mann hier bei ihr. Als würde er mit seinem Clownsgesicht in der Ecke ihres Zimmers stehen und sie beobachten. Warten, lauern.

Am Abend, nachdem die Besuchszeit endlich vorbei war, bat Sophie die Schwestern um mehr Beruhigungsmittel. Sie wollte nichts als schlafen – und ihr Wunsch wurde erfüllt. In Form eines Wundermittels namens Bromazepam. Eine schwere Müdigkeit überkam sie, als es durch ihre Venen schoss.

Gerade als sie wegzudämmern begann, fiel ihr ein Lichtreflex an der Wand neben dem Fenster auf … wie blondes Haar. War da jemand?

Sie versuchte, etwas zu erkennen, doch ihre Lider fielen zu.

Als sie sie wieder öffnete, befand sie sich in der Waschküche ihres Hauses. Die Luft fühlte sich feucht an und das Licht war kalt wie Eis. Diesmal trug sie ein gelbes Sommerkleid und ihre Haare waren mit roten Bändern zu Zöpfen gebunden. Es war das Kleid, das sie als Kind auf der Schaukel getragen hatte. Ein leuchtender Stoff, der mit weißen Ornamenten überzogen war. Wieso konnte sie sich plötzlich so genau daran erinnern?

Sie beugte sich nach unten, um die Wäsche aus der Maschine zu holen, als diese mit einem tosenden Gepolter losging. Sophie konnte nicht sagen, was sich darin befand. Es sah nicht aus wie Wäsche. Die Trommel schleuderte so stark, dass der schwere Metallkasten auf dem kahlen Boden zu hüpfen begann.

Magisch angezogen kniete sich Sophie davor und presste ihr Gesicht an das Sichtfenster, als eine bedrohliche Stimme hinter ihr sie zusammenfahren ließ.

»Kleine, da bist du ja wieder …«

Sie sprang entsetzt auf und suchte mit hektischen Blicken den Raum ab, doch da war niemand. Die hintere Tür war verschlossen. Die Stimme war wie aus dem Nichts gekommen, als hätte die faulige Luft des Raumes selbst zu ihr gesprochen.

Ihre Kehle war von Panik zugeschnürt. Sie konnte sich nicht bewegen.

Und dann: Stille. Das Poltern hinter ihr erstarb und ein leises Klicken war zu hören, als sich die Tür der Waschmaschine langsam öffnete. Sophie hielt die Luft an, während sie sich umdrehte.

Die Innenseite des Sichtfensters war über und über mit dunklem Blut bedeckt. Es tropfte in glänzenden Lachen auf den Boden. Doch da war noch etwas … es lag in der Öffnung, versteckt unter dem tiefen Rot. Etwas Großes. Es erfüllte die gesamte Trommel.

Eine Hand kam heraus. Lange, schmale Finger stützten sich auf dem Betonboden ab, sodass der Rest des blutbedeckten Körpers herauskriechen konnte. Es war eine Frau. Ihr Mund verzog sich zu einem grauenvollen lippenlosen Grinsen.

»Sie haben mich getötet, Mucha, sie waren es. Bei den Buchen«, flüsterte sie.

Sophie schrie so laut, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben geschrien hatte. Sie schrie auch noch, nachdem sie aufgewacht war und zwei Krankenschwestern mit weiteren Beruhigungsmitteln ins Zimmer gestürzt kamen. Das Schreien ließ erst nach, als die Medikamente zu wirken begannen, doch das Zittern dauerte fort, bis sie wieder eingeschlafen war.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie den seltsamen Lichtreflex in ihrem Zimmer längst vergessen. Nur ein einziger Gedanke ging ihr durch den Kopf: Mucha, das polnische Wort für Fliege. So hatte ihre Mutter sie immer genannt, als sie noch ein Baby gewesen war.

5

»Süße, es ist absolut normal, dass du nach so einem Erlebnis mit Albträumen reagierst«, sagte ihr Vater am nächsten Vormittag. Sophie hatte ihm aufgelöst von ihrem Traum erzählt. Das gelbe Kleid hatte sie nicht erwähnt.

»Deine Oma hat dich auch oft Mucha genannt, als du klein warst, das wird bei dir hängen geblieben sein.« Er drückte sanft ihren Arm und bot ihr Schokolade aus einer der Schachteln an, die auf ihrem Nachttisch standen.

»Nee, danke … vielleicht könntest du uns Kaffee holen? So langsam glaube ich, ich sehe nur wegen des Koffeinentzugs so schlimm aus.« Sie verzog ihren Mund zu einem schwachen Lächeln und brachte die Augen ihres Vaters damit zum Leuchten.

»Du siehst immer wunderschön aus, mein Schatz – ich hole uns schnell was aus der Cafeteria.«

»Geht auch Starbucks? Vanilla Latte?«

»Klar, dafür brauche ich nur etwas länger. Bin in einer halben Stunde wieder da.«

Sophie war dankbar, eine Weile allein sein und sich von dem furchtbaren Traum erholen zu können. Doch ihre Auszeit hielt nicht lange an. Fünf Minuten, nachdem ihr Vater aus dem Zimmer gegangen war, klopfte es an der Tür.

»Ja, bitte?«, sagte sie, leicht genervt von der unerwarteten Störung.

»Mucha …«

Sie fuhr entsetzt hoch. Panik durchdrang sie bis in die Fingerspitzen.

»Wer ist da?«, fragte sie mit zittriger Stimme. Hätte sie ihren Vater doch nicht weggeschickt!

»Mein Name ist Andrea Mula, ich bin Seelsorgerin.« Eine junge Frau lugte ins Zimmer. Sie war zierlich und langes blondes Haar umrahmte ihr Gesicht. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe, Frau Finke. Ich kann gern später wiederkommen, wenn es im Moment nicht passt.«

Andrea Mula lächelte so warmherzig, dass sich Sophie wieder entspannte. Sie hatte Mula mit Mucha verwechselt, das war alles. Ein alberner Streich, den ihr ihre Sinne gespielt hatten.

»Entschuldigung … kommen Sie doch bitte rein. Wer sind Sie noch mal?«

»Ich bin Seelsorgerin bei der Opferschutzorganisation ›Safehouse‹ und wollte mich erkundigen, wie es Ihnen heute geht.«

Andrea Mula setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Sophies Bett. Sie trug ein langes Kleid in warmen Farben, war höchstens Mitte zwanzig und blickte ruhig und freundlich über den Rand einer roten Hornbrille. Über ihrer linken Augenbraue befand sich ein auffälliges Muttermal, doch das machte ihr hübsches Gesicht nur noch interessanter, fand Sophie.

Allerdings wunderte sie sich über Andrea Mulas Stil. Ihre Kleidung wirkte, als hätte sie sie aus dem Kleiderschrank ihrer Mutter genommen: Das wollene Kleid war weit und mit riesigen Rautenmustern übersäht, wie Frauen es in den neunziger Jahren getragen hatten. Auch die Hornbrille wirkte eher wie ein gut erhaltenes Flohmarktstück.

Andrea Mula stellte eine weitere Schachtel Pralinen auf den Nachttisch neben Sophies Bett. »Ich kann mir kaum vorstellen, was Sie in den letzten sechsunddreißig Stunden durchgemacht haben. Es tut mir wahnsinnig leid, dass Ihnen das zugestoßen ist.«

Sophie konnte das Mitleid im Gesicht ihrer Besucherin erkennen. »Ja, ich denke auch, dass Sie sich das nicht vorstellen können«, entgegnete sie kühl.

»Sicher brauchen Sie heute noch ein wenig Ruhe, das verstehe ich gut. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass Sie sich jederzeit bei mir melden können, wenn Sie reden möchten … dafür bin ich da.«

Andrea Mula erklärte ihr, wie »Safehouse« sie in den nächsten Monaten unterstützen könnte, wenn sie dazu bereit war. Kostenlos, selbstverständlich und vertraulich. Sie sprach von Einzelgesprächen, Familiensitzungen und Selbsthilfegruppen mit anderen Betroffenen.

Sophie hörte ihr kaum zu. Sie hatte sich zwar etwas beruhigt, spürte jedoch, dass sie den Schreck von eben erst noch verdauen musste. Sie fragte sich, worüber sie sprechen sollte. Je mehr sie sich bemühte, Andrea Mula zuzuhören, desto wütender wurde sie. Jeder wusste doch, was passiert war. Sie hatte es der Polizei mehr als ausführlich beschreiben müssen. Es war das ekelhafteste Gespräch gewesen, das sie je geführt hatte. Jedes noch so peinliche Detail aus ihrem Mund war von einem der Beamten langsam wiederholt, dann für immer in einem Notizbuch vermerkt und von einem Aufnahmegerät aufgezeichnet worden. Die Geschichte ein weiteres Mal erzählen zu müssen, war für Sophie nur schwer vorstellbar. Wieso zur Hölle sollte sie das tun?