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Martin Calsow

Quercher und der Totengraben

Kriminalroman

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Thomas Schlück GmbH, Hannover.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Christina Fink

Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-89425-759-0

 

Martin Calsow wuchs am Rand des Teutoburger Walds auf. Nach einem Studium der Soziologie und einem Zeitungsvolontariat arbeitete er bei verschiedenen deutschen TV-Sendern.

 

Für meine Frau Insa

 

Do not go gentle into that good night,
Old age should burn and rave at close of day;
Rage, rage against the dying of the light.

Dylan Thomas

Bei Kreuth, vier Jahre zuvor

Der Berg wollte ihn fressen, mit einem Reißzahn aus Kalkstein ein Stück aus seinem Leib trennen. Der Mann atmete so flach wie möglich. Es schien ihm, als könnte er dieses Wesen aus Felsen so beschwichtigen. Doch kannte es Gnade? Er hatte die Ruhe gestört.

Noch in der Nacht war der junge Mann von seiner Hütte aufgebrochen, die weit oberhalb der Königsalm, aber noch auf der deutschen Seite lag.

Am Ende des Tegernseer Tals erhebt sich ein Bergzug, der die Grenze zu Österreich bildet, markant sind die Blauberge, die schon vom Taleingang in ihrer majestätischen Schönheit zu sehen sind und die Pforte in die südlich von ihnen gelegene hochalpine Region darstellen. Westlich, zwischen der Blaubergalm und dem Achenpass, befindet sich das letzte wilde Waldgebiet der Region. Nie ist hier von Menschenhand ein Baum gefällt, eine Hütte gebaut oder eine Almwiese angelegt worden. Die Nordseite der Berge ist zu steil, zu viele Bäche und Rinnen schlängeln sich den Abhang hinunter nach Bayerwald. Es lohnt sich nicht, das Holz für die Salinen in Rosenheim zu schlagen, für die Arbeiter ist es auch zu gefährlich.

Die Jäger und Forstangestellten, die sich hier an wenigen Tagen des Jahres aufhalten, meiden besonders eine Stelle, die sie als ›Totengraben‹ kennen. Es ist eine Gesteinsrinne, die einst eine mächtige Gletscherzunge ausgewaschen hat und die, zwar zugewachsen, eine Herausforderung für Kletterer darstellt. An vielen Tagen ist das Gestein rutschig und da und dort porös. Manchmal liegen umgestürzte Bäume, meist riesige Fichten, quer zu ihr, rutschen, wenn das Wasser bei Starkregen von oben gegen sie drückt.

Diese Umstände hatten die wenigen Hektar zu einem echten Urwald werden lassen, in dem sich der Mann dennoch gut auskannte. Das galt jedoch nur für alles oberhalb der Erde. Er war jetzt unter ihr gefangen.

Seile, Karabiner und all das, was er für den Gang in die Unterwelt brauchte, hatte er im Schein seiner Stirnlampe geschultert, war über den Kirchwandgraben hinabgestiegen, hatte sich mehrfach mit einem GPS-Gerät seiner Position versichert und wäre um Haaresbreite dennoch an seinem selbst hinterlassenen Zeichen vorbeigelaufen. Er legte sich in aller Ruhe seine Ausrüstung, den Helm, den Gurt, die LED-Lampe und den Overall bereit, ehe er die Grassoden wegräumte, die er Tage zuvor auf dem Spalt platziert hatte. Er würde in den nächsten Tagen weitere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen, um ungebetene Schnüffler, ob tierischer oder menschlicher Art, fernzuhalten.

Mit großer Vorsicht drückte er sich hindurch, stieß in einen Bereich vor, den er über Minuten im Entengang passieren konnte, bevor er zu einer weiteren Engstelle gelangte. Die Höhle lag auf der Nordseite des Bergs, Wasser drang bis hierher, seine Kleidung wurde schnell nass und verschlammte. Er musste durch diesen Spalt erst nach oben und dann wieder, einer Schlange gleich, nach unten gleiten. Dann erreichte er es.

Er leuchtete mit seiner Stirnlampe, die er auf dem Helm trug, die gesamte Kathedrale aus, bestaunte ungläubig und ehrfürchtig die Figuren, die Menschen vor Jahrtausenden in den Felsen geritzt hatten. Je länger er sich umsah, desto stärker veränderten sich seine Gedanken. Seine eigene Vergangenheit kam über ihn, machte sich in seinem Kopf breit, zwang ihn zum Hinsetzen.

Menschen vor ihm hatten Löcher in den Fels gehauen und notdürftig mit Steinplatten bedeckt. Er kroch über den Boden, der mit Knochen übersät war, und nahm immer intensiver einen Geruch wahr, der auf sein Bewusstsein Einfluss zu nehmen schien. Nicht unangenehm, es ließ ihn fast euphorisch werden. Er hatte aus seinem Rucksack eine fluoreszierende Lampe gezogen und aktiviert. Im matten Licht studierte er die kunstvollen Hinterlassenschaften an den Wänden und der Höhlendecke, fast vier Meter über dem Boden, bis er die Felslöcher erreichte. Er schob eine Platte beiseite und starrte in den kleinen Lichtkegel, den seine Stirnlampe in das Loch warf. Für einen Moment kam es ihm so vor, als würde er in etwas Lebendiges starren, etwas Atmendes sehen. Und dass es ihn anstarrte. Was war das? Flechten, kam es ihm in den Sinn. Das Licht der Lampe wirkte auf den Organismus, er zog sich zusammen, wie ein aufgeschrecktes Tier, das sich in Deckung flüchten wollte.

Er griff danach, erwartete instinktiv, dass es zwischen seinen Fingern zerbröselte. Stattdessen umschloss es seine Hand wie ein Netz. Er hatte für kleine Funde eine Tupperdose in den Rucksack gepackt und konnte nur mit Mühe das Fundstück darin deponieren. Das kostete viel Kraft. Er wollte sich auf den Boden legen, sich den Erinnerungen hingeben, die seine Gedanken bestimmten. Er fiel nach hinten, blickte nach oben.

Mit letzter Willenskraft erhob er sich nach über einer Stunde und kletterte aus der Kathedrale hinaus. Seine Sinne waren jetzt schärfer, er roch intensiver die alte Luft, die hier seit Äonen eingeschlossen war. Auch sein Gehör war besser geworden, denn das Schaben seiner Schuhe über den Felsen empfand er als laut.

Er war einer anderen Öffnung gefolgt, schien bereits sehr weit an die Oberfläche herangekommen zu sein, bis dieser Spalt ihn mit Macht aufgehalten hatte. Er war mit dem Kopf zuerst nach oben gerutscht, hatte gespürt, dass ein spitzer Felsvorsprung ihn an der Brust fixierte. Jetzt bog er sich, so gut er konnte, hievte sich einige Zentimeter höher, um sich ein wenig zu drehen. Nichts half. Der Fels hatte sich förmlich in seinem Körper festgebissen, ließ nur eine Bewegung seines linken Arms zu. Sein Messer steckte unerreichbar in der anderen Hosentasche. Er atmete ein und aus. Dachte nach. Versuchte, die aufkommende Panik mit Meditationsübungen zu unterdrücken, bis ihm klar wurde, dass er nur eine Chance hatte. Er musste den Arm aus dem Schultergelenk kugeln, nur so hätte er die Flexibilität, um an das Messer zu kommen und damit den Felszahn zu zerhacken, der ihn am Rückweg hinderte. Technisch gesehen war das einfach. Er stand auf einem schmalen Plateau, musste also nur die Füße abrutschen lassen und mit seinem Körpergewicht gegen den Arm arbeiten. Aber würde er den Schmerz ohne Bewusstseinsverlust überstehen? Und wenn ja, wie lange machte sein Kreislauf das mit?

Paul Trankl zählte von zehn herunter, atmete dabei immer schneller, biss auf seine Zähne und ließ sich fallen – in ein Meer aus Schmerz.

***

München, vier Jahre später

»Als ich Kind war, sind meine Eltern häufig umgezogen«, sagte sie in die Stille des stickigen Raums hinein.

»Ach? Das ist sicher nicht schön gewesen für Sie«, erwiderte die polnische Pflegerin, während sie die Betten frisch bezog.

»Ich habe sie immer wiedergefunden.« Sie schaute aus dem Fenster. »Zuletzt in einem versifften Loch in Indien.«

Die Pflegerin hatte offenkundig den Witz nicht verstanden, schweigend verrichtete sie ihre Arbeit, ging zum Schluss zu den Eltern, die dort auf dem Sofa saßen, lächelnd und schweigend, und stellte eine Tube mit billiger Handcreme auf den Beistelltisch.

Es war eine stumme Aufforderung, keine Bitte. Sie sollte ihrem Vater und ihrer Mutter die rissigen, von Flecken übersäten Hände einreiben.

Eine Klimaanlage gab es nicht.

»Stoßlüften hilft«, hatte sie sich von der Geschäftsführerin, einer verbitterten Mittfünfzigerin mit Ostberliner Akzent, anhören müssen. Eine mobile Klimaanlage war nicht erlaubt.

»Brandjefahr. Dit is doch klaar. Oda wollnse Ihre Eltern in Flammen aufjehn sehn?«

Sie hätte der Megäre am liebsten ihr Smartphone gegen die Frontzähne geschlagen, sich aber beruhigt. Jetzt saß sie hier in der muffigen Hitze des von Sauerstoff beinahe befreiten Zimmers und starrte auf das alte Paar, das auf dem Sofa saß, lächelte und schwieg.

Er war schon eingeschlafen, sie hielt noch die Augen offen, als schöbe sie Wache, weil sie ihr nicht trauten. Das war nicht unberechtigt.

Während sie die Hände der alten Frau eincremte, dachte sie in einem Anflug von Selbstmitleid, dass diese Finger ihr nie eine Spange ins Haar gesteckt, nie die Bettdecke über ihren Kinderkörper gezogen, nie Butterbrote für sie geschmiert hatten. Sie hatten nur für sich selbst und für ihn gearbeitet.

»Leg die Hände bitte auf das Handtuch. Du machst sonst alles dreckig«, bat sie ihre Mutter, die Wut in der Stimme mühsam unterdrückend.

Statt auf ihre Tochter zu hören, richtete sich die alte Frau auf, stützte sich an der Metallstange ab, an der ihr Infusionsbeutel hing, und wankte langsam an ihr vorbei, kam vor einer Kommode zum Stehen, atmete rasselnd, musste wieder Schleim in der Lunge spüren, hustete, ließ sich davon nicht beirren, zog mit letzter Kraft die Schublade auf, aus der sie zwei Blätter herauszog, und verharrte für einen Moment. Sie beobachtete müde den Gang der Frau, seufzte und versuchte, nicht zu klagen.

Eine Erzählung von Heinrich von Kleist kam ihr in den Sinn. Das Bettelweib von Locarno. Auch dort schlurfte eine alte Frau über den Boden, glitt aus und verschied. Sie musste die Geschichte damals in der Schule fehlerlos mit perfekter Interpunktion schreiben, ein Kunststück.

Die Mutter war zu schwach, um zurückzukommen. Sie suchte nach etwas, kramte in der Lade, erst langsam, dann ungeduldiger.

Ein Charakterzug, den sie zweifellos an mich weitervererbt hat, dachte sie bitter, weil sie sich ertappt fühlte.

Sie erhob sich, um der Mutter zu helfen, und als sie sie so dastehen sah, in den letzten Tagen ihres Lebens, so zerbrechlich, so alt, so vergänglich, da traten ihr Tränen in die Augen, sacht und langsam. Sie fühlte für ihre Mutter so etwas wie Liebe und Zärtlichkeit. Etwas, das sie sich immer erträumt hatte, in all den Jahren, in denen sie allein gewesen war. Sie überlegte, ob sie die Hand ausstrecken und der Mutter über den Rücken streicheln sollte, sie zumindest liebevoll berühren. Sie tat es und die Mutter zuckte zusammen. Die Metallstange mit dem Infusionsbeutel erzitterte förmlich, so schien sie sich erschreckt zu haben ob der zarten Geste der Tochter.

»Komm, setz dich wieder. Das Stehen strengt dich an«, flüsterte sie mit milder Stimme.

Die alte Frau hielt einen Stift in der Hand. Wollte sie zum ersten Mal ihrer Tochter etwas schreiben, etwas erklären? Hatte der Besuch in dieser muffigen, stickigen Höhle des Sterbens doch noch einen Wert?

Sie führte vorsichtig den Arm um die schmalen Schultern der Mutter, hatte das tiefe Bedürfnis, die Nase in die weißen, fedrigen Resthaare, die ungepflegt von ihrem Kopf hingen, zu stecken und tief einzuatmen. Etwas, das sie all die Jahre so vermisst hatte.

Ihr Blick fiel auf die zwei Seiten, die die Mutter herausgezogen hatte und mit zittrigen Fingern mühsam festhielt. Sie las, was in kritzeliger Schrift am oberen Rand stand, verstand es jedoch erst nicht.

Sie entriss der Mutter das Papier. Es dauerte, bis sie begriff. Es war der letzte Wille, das Erbe. Sie hatten noch einmal etwas geschrieben. Bei vollem Bewusstsein hatten sie ihr auch das genommen. Am Ende einer lebenslangen Reihe von Wegstoßen, Alleinsein, Ignoranz und Egozentrik hatten sie ihrer Tochter noch einmal gezeigt, dass sie nichts wert war.

Sie atmete ein. Sie atmete aus. Sah hinaus auf die Bundesstraße, die am Hospiz vorbeizog, wo Menschen in luftiger Kleidung in der prallen Sonne von Schatten zu Schatten liefen, der Hitze entfliehend.

»Ich bringe euch um«, sagte sie leise.

Kapitel 1

München, Innenstadt

»Ein typischer Fall war ein siebenunddreißigjähriger Familienvater, der eines Morgens mit seinem Fahrrad Semmeln besorgen wollte. Statt damit zurückzukommen, machte er sich auf den Weg nach Frankfurt, ohne eine Erinnerung daran zu haben, warum er unterwegs war. Noch eklatanter war, dass er keinerlei Erinnerung an seine eigene Person hatte.«

Der Professor machte eine Pause, griff zum Glas, das ihm ein Assistent auf den Tisch gestellt hatte, und trank. Zweimal musste er sich räuspern und der Versuchung widerstehen, auf sein Smartphone zu schauen. Stattdessen blickte er hinaus in den Innenhof, drückte die Panik wieder in den Käfig seines Bewusstseins. Das Auditorium wurde unruhig, einige murmelten und kicherten.

»Also … also dieser Mann berichtete uns später, in Schaufensterscheiben geschaut, mit dem eigenen Gesicht aber keinerlei Assoziationen oder Bekanntheitsgefühle verknüpft zu haben. In Frankfurt traf er auf einen Obdachlosen, der ihm riet, zum Bahnhof zu fahren. Dort schickte ihn die Heilsarmee weiter zur Universitätspsychiatrie. Die Kollegen diagnostizierten einen dissoziativen Fugue-Zustand. Der Mann fühlte sich in der Klinik wohl. Da er keinen Namen angab, wurde er anfangs mit ›N. N.‹ geführt, woraufhin ein Assistenzarzt dem Patienten als provisorische Identität den Namen ›Norbert Neumann‹ statt ›N. N.‹ gab. Er benutzt ihn auch nach Offenlegung seiner Identität lieber als den eigenen. Seine Frau hatte ihn zur Fahndung ausschreiben lassen und nach knapp zwei Wochen wurde er schließlich identifiziert. Doch anstatt seine Frau zu erkennen, meinte er …«

Sein Smartphone vibrierte. Mit einem Seitenblick erkannte er die Nummer seines Anwalts. Sofort kam die Panik aus dem Käfig, der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn.

»Also meinte er, man wolle ihn, na ja, man wolle ihn verkuppeln.«

Die Studierenden lachten. Das gab ihm Zeit, den Anruf wegzudrücken. Er wusste, was da auf ihn wartete.

»Schließlich ging er doch zu seiner Familie zurück und beschwerte sich gleich darüber, wie man mit solchen Möbeln und Tapeten leben könne. Wie sich herausstellte, war er das einzige Kind eines sich häufig streitenden Ehepaars – beide Alkoholiker. Seine Mutter hätte statt seiner lieber eine Tochter geboren, weswegen sie ihn die ersten Lebensjahre in Mädchenkleider steckte, ihn als Mädchen erzog und sich später über sein weibliches Verhalten beschwerte. Er heiratete eine Frau, die in ihrer Dominanz der Mutter in nichts nachstand, nahm ihren Nachnamen als gemeinsamen Familiennamen an und wurde von ihr immer wieder ermahnt, sich mehr zu engagieren und mehr Geld für die Familie zu verdienen. Eine kurz bevorstehende Urlaubsreise, für die ihm eigentlich die Mittel fehlten, löste offensichtlich den Fugue-Zustand aus.«

Er hielt inne, sein Herz raste, da das Smartphone erneut vibrierte. Er wollte das Gespräch unbedingt annehmen. Kaum hatte er nach dem Telefon gegriffen, rutschte es ihm aus der Hand, fiel scheppernd zu Boden und rutschte vor die erste Plenumsreihe.

Er unterdrückte den Impuls, nach vorn zu eilen und sich zu bücken. Mit schweißnassem Gesicht gab er der Meute in wenigen Sätzen Hausaufgaben und griff nach Sakko und Tasche, um bemüht beiläufig das Handy aufzuheben und aus dem Vorlesungssaal zu treten.

Er lief hinauf in den vierten Stock, grüßte hastig seine Kollegen, schloss mit fahrigen Bewegungen die Tür zu seinem Büro auf, warf sie hinter sich zu und schloss ab. Er bemerkte nur das weit offen stehende Fenster. Auf dem Tisch lag ein Messer, das zweifellos nicht ihm gehörte und einem Metzger Freude bereitet hätte. Er griff danach, wog es in der Hand, spürte etwas hinter sich, wollte sich umdrehen.

Dann ging alles schnell.

Schwarz. Schmerz. Stechen. Schreien.

Mit Mühe hob er die Hände und umfasste die Schnitte, aus denen jetzt pulsierend das Blut herausquoll. Er wollte schreien, aber die mangelnde Versorgung seines Gehirns hatte bereits eingesetzt und ließ nur zu, dass er fassungslos brabbelte, ehe er in einer fast kunstvollen Drehung zum Fenstersims taumelte. Der Rahmen stoppte seinen Oberkörper, die Arme hingen an der Heizung unterhalb des Fensters, Kopf und Hals weit heraus. Seine sterbenden Augen schauten nach unten, wo Momente später sein Blut auf die Smartphones und Coffees to go der dort sitzenden Studierenden fiel, die nun nach oben blickten und ihrem Professor in seinen letzten Lebenssekunden zusehen konnten.

Kapitel 2

Ostin am Tegernsee

Der Trick war einfach. Max Quercher stand mit dem Sonnenaufgang auf. Seine Hunde streckten sich und torkelten mit ihm in den frühen Morgen, sahen mit ihm nach den Hühnern, denen er Futter hinwarf und deren Eier er mitnahm. Bis die ersten Menschen aus ihren Häusern krabbelten und Krach machten, hatte er sein Frühstück längst genossen und sich ans Ausbessern der Regenrinne gemacht. Am frühen Nachmittag lief er mit dem Dackel und der Schweißhunddame den Höhenweg bis zum Hotel. Auf dem Rückweg kamen ihm schon wieder die agilen Rentner entgegen, die das Tal wie auf Patrouillengang abwanderten. Einer herrschte ihn mit rheinischem Akzent an, die Hunde gefälligst anzuleinen. Quercher reagierte nicht. Selbst als der Mann schimpfend hinter ihm herlief, pfiff er nur seine Hunde zu sich.

Otto, der Dackel, war mittlerweile fast vier Jahre alt. Quercher hatte ihn von seiner alten Lehrerin Frau Huttinger übernommen. Dann war Gertrud in sein Leben gekommen, eine Schweißhündin mit leichten ADHS-Zügen. Niemand nannte sie so. Er rief sie »Trudl« oder »das narrische Viech«. Sie schien das Konzept der vier Beine mit einem Jahr noch nicht ganz verinnerlicht zu haben. Ständig sprang sie an ihm hoch, stolperte über die Wiese, rempelte rüpelhaft den Zwergdackel über den Haufen und hörte nur auf Querchers Pfeifen. Dann setzte sie sich wie die Unschuld vom Lande auf ihre Hinterpfoten und legte den Kopf schräg. Er konnte ihr einfach nicht widerstehen.

Sie passierten eine Wiese mit Alpakas, die neugierig am Zaun weideten. Trudl hielt Abstand. Die Tiere der Familie Reifenstuhl hatten dem Fräulein vor wenigen Wochen eine Lektion erteilt und es in die Enge getrieben. Quercher setzte sich auf eine Bank, griff nach seiner Thermoskanne, nahm einen Schluck Pfefferminztee und sah hinüber auf die andere Seeseite zu seiner alten Heimat. Vom Fuß des Hirschbergs im Süden über den Gasthof Bauer in der Au weit nach Holz hatte ihm der Wald gehört. Damit war er im Tal der größte private Forstbesitzer gewesen. Er, der Sohn eines Schusters, der sich im Tegernsee ertränkt hatte. Er, der Polizeibeamte mit Pensionsanspruch, hatte sich unter den Top Ten der reichsten Männer in Bayern wiedergefunden. Am Flughafen München hatte ein privates Geschäftsflugzeug auf ihn gewartet. Ferienhäuser, überall dort, wo es schön und teuer war, hatten ihm gehört. So war das gewesen – für sechs Monate. Dann war alles wieder weg gewesen. Eben reich, jetzt normal. Eben der Held im Tal, jetzt der Idiot.

Quercher versuchte vergeblich, das Gefühl dieser Zeit nicht an sich heranzulassen. Der Sohn des Schusters, der mühsam aus der Unterschicht im Tal emporgeklettert war, hatte für Monate erlebt, wie richtiger Reichtum war, verschwenderisch und praktisch nicht ausgebbar. Und dann war er auf die Schnauze gefallen.

Menschen hatten Quercher im Supermarkt angestarrt, unverhohlen und sekundenlang, weil er solch ein schönes Beispiel für Häme gewesen war. Eben die halbe Milliarde, jetzt wieder am Kühlregal auf die Preise achten. Eben noch Learjet, jetzt Smart fahren. Letztlich war auch seine Beziehung zu Regina am Geld gescheitert. Es war nicht Erschöpfung, die ihn zur Aufgabe gebracht hatte, es war Scham. Scham darüber, nicht wie Regina eine dicke Haut in der Auseinandersetzung mit der anderen Seite gehabt zu haben. Sie war mit Reichtum groß geworden, kannte das ganze Besteck am Tisch, er wusste nicht einmal, wie man ein Wertpapierdepot anlegte. Er erinnerte sich, wie sie während des Rechtsstreits zufällig im Freihaus Brenner auf Rattlers Erben getroffen waren. Er hätte ihnen direkt dort aufs Maul hauen können. Regina aber hatte höflich gegrüßt, sich lächelnd an den Tisch gesetzt und für die Gegenpartei eine Flasche Prosecco bestellt. Er hatte keinen Bissen essen können. So groß war die Scham gewesen, dass er sein Leben beenden wollte.

Schließlich hatte Quercher das tiefe Tal durchschritten, dank anderer Menschen, die auf ihn aufgepasst hatten. Im Laufe der Monate war die Scham schwächer geworden, doch sie war immer noch präsent.

Vertraute Stimmen waberten zu ihm herüber.

Von Weitem sah er zwei Frauen auf seiner Bank vor dem Haus sitzen. Beide kannte er. Beide würden seinem Wunsch nach Stille nicht nachkommen. Der Tag wird nicht besser, dachte er mürrisch.

»Also gut, Quercher ist jetzt zum selbstversorgenden Ökoschrat geworden?«, fragte Constanze Gerass, als sich Arzu Ahishali mit einem leichten Stöhnen auf die Bank an der Hauswand setzte. Sie konnten von hier aus Arzus Sohn beim Toben auf der Wiese beobachten.

Arzu sah ihre einstige Chefin beim Landeskriminalamt Bayern mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid an. Constanze Gerass’ Blick auf Arzus Sohn Max Ali war, so schien es ihr, von Wehmut begleitet. Kein Kind, aber eine Bombenkarriere, immer noch der Preis, den Frauen zahlen mussten, wenn sie in einer Männerdomäne aufsteigen wollten. Die Gerass war vor anderthalb Jahren auf eine neue Position nach Berlin ins Innenministerium versetzt worden. Sie war der heimliche Star der dortigen Politszene. Die Gerass war weiblich und hart, wusste Intrigen und Netzwerke zu spinnen und gab gute Interviews. Sie hatte ihre Ex-Mitarbeiter zwei Jahre nicht mehr gesehen. Am Abend hatte sie Arzu angerufen, da Quercher nach Sonnenuntergang grundsätzlich nicht mehr an sein Handy ging. Ob sie vorbeikommen könne, nur auf ein Glas Wein, aus alter Verbundenheit. Arzu hatte zugesagt, schon aus schierer Neugierde. Eine Gerass bittet sehr selten.

»Wie geht es dir?«, fragte Constanze und setzte bewusst die persönliche Anrede ein.

Sie hatte ihrer ehemaligen Mitarbeiterin nie das Du angeboten. So war es allerdings einfacher und sollte sofort Vertraulichkeit herstellen. Arzu verstand es, kommentierte es jedoch, ganz entgegen ihrer sonstigen Art, nicht. Auch etwas, was sie sich von Quercher abgeschaut hatte. Lass die anderen sich ins eigene Grab reden, lieber schweigen und genießen, hatte er ihr auf dem Höhepunkt der eigenen persönlichen Krise geraten. Quercher würde sie siezen. Garantiert.

»Okay, ich mache meine Arbeit als Digitalermittlerin und passe auf den Pflegefall Quercher auf, der es seit der Krise im letzten Jahr vorzieht, nur noch eine begrenzte Menge an Silben von sich zu geben. Kurz, er redet ungern.«

Constanze schmunzelte. Was für ein Paar. Arzu, die gern vor sich hinplapperte, und der schweigsame Schrat Quercher. Kein Liebespaar, aber in so etwas wie einer Ehe steckend.

»Also, was ist da passiert? Ich meine, man gibt doch nicht so einfach ein Vermögen her, speziell dieser Dickkopf. Das passt nicht zu Quercher«, insistierte Constanze.

Arzu stöhnte und rief ihrem Sohn zu, er solle nicht in den Federn der toten Hühner baden, die Quercher am Tag zuvor im Schuppen ins Jenseits befördert hatte. »Also seine alte Lehrerin hat ihm das Erbe von Rattler in ihrem Testament zugestanden. Quercher wurde zum Multimillionär – über Nacht.«

»Ich weiß, Arzu, ich war dabei. Damals. Drei Bürgermeister mussten gehen, sechs Gemeinderäte sitzen im Knast.«

Arzu nickte. »Das Erbe vom Rattler war natürlich viel interessanter. Am Ende belief es sich auf sechshundertachtzig Millionen Euro, inklusive aller Wertanlagen. Das erzeugt Neid.«

»Das ist mir klar. Das habe ich in der Zeitung gelesen. Doch was hat ihn bewogen, irgendwann auf das alles zu verzichten?«

Arzu lachte bitter. »Max wollte mithilfe seiner Ex, der Regina – die kennst du ja?«

»Ja, Regina von Valepp«, Querchers Ex-Freundin, »die Dame aus dem Hochadel, die er immer noch …« Sie brach ab, weil sie ahnte, wie sehr Arzu den Holzkopf liebte, auf eine seltsame Weise. Es war Arzu nur nicht klar, ob sie ihn wie einen größeren irren Bruder oder wie einen Mann liebte.

»Na ja, die wollten ja eine Stiftung gründen, so wie es im Testament verfügt worden war. Die anderen Erben, also die von Rattlers Ehefrau, haben so ziemlich alles aufgefahren, was ging, um das zu verhindern und selbst an das Vermögen heranzukommen. Das waren schlimme Monate. Quercher hat sich sauunwohl in seiner neuen Rolle als millionenschwerer Mäzen und Stiftungschef gefühlt. Er hat sein Privatleben verloren, musste in ominösen Sitzungen mit Anwälten und Bankern sitzen. War laufend in der Presse. Dazu immer die Angriffe der Gegenpartei, dieser Familie Dumpfer, schlimme Leute. Die haben üble Gerüchte im Tal verbreitet. Alles stand auf wackeligen Füßen.«

»Dumpfer? Das sagt mir was«, grübelte Constanze.

»Ja, die Familie stammt aus Mönchengladbach. Böse Leute, sehen wie die Landschaft da oben aus, fad halt.«

»Ach? Mir war nicht bewusst, dass der Niederrhein bei türkischstämmigen Bayern so unbeliebt ist. Aber man lernt ja nie aus im Tal.«

Sie lachten.

»Plötzlich tauchte durchaus erwartet ein neues Testament von Rattler auf. Das musste auf Echtheit geprüft werden. Und was für ein Wunder, es schien echt zu sein. Na ja, am Ende hat ihm Regina den Arsch gerettet. Quercher war kaum mehr in der Lage, irgendetwas zu entscheiden. Hat nur den Imker und Hühnerhalter gespielt. Irgendwann hat er hier oben das Schreien angefangen und drei Tage durchgesoffen, in der Scheune da drüben.«

Constanze schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, das hat nicht bei dem Rechtsstreit geholfen.«

Arzu schnaufte. »Überleg mal, du hast von jetzt auf gleich über eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung und dann ist plötzlich alles weg. Er hat mit einem Typen, den er aus dem Tal kennt, angefangen, den Hof umzubauen, den Brunnen instand zu setzen, so ein Kram. Der Typ heißt Paul, ist ein völlig verschrobenes Kerlchen, quasi Quercher in jung. Aber sehr klug.«

Querchers Dackel Otto hatte sich eine Hühnerkralle aus einem Eimer stibitzt und rannte damit über die Wiese, verfolgt von Max Ali, dessen Haare nun voller Federn waren.

»Wie hat sie ihm geholfen?«, fragte Constanze.

»Es gab einen Vergleich. Quercher hat die Leitung der Stiftung an Regina und ein Mitglied der Gegenseite übergeben und war damit völlig frei, dafür eben auch ohne Kohle.«

»Hat man euch überhaupt nicht bedacht?«

»Er und ich erhielten jeweils einen Betrag, dessen Höhe wir beide auf Wunsch von Quercher nicht kennen, der jedoch von Regina verwaltet wird. Wir werden also monatlich mit einer bestimmten Summe versorgt. Brauchen wir mehr, wird Regina, die das Geld angelegt hat, es uns zur Verfügung stellen.«

»Ihr seid also quasi wieder Angestellte, diesmal von Regina«, frotzelte Constanze, die sich an Querchers besonderes Verhältnis zu der vermögenden Ex-Freundin erinnerte.

»Jaja, das ist alles etwas kompliziert. Ich arbeite weiter und Quercher macht in Bio und löst lokale Fälle.«

Constanze lachte. »Lokale Fälle? Was ist das denn? Wer ist der Eierdieb von Ostin?«

»Ja, so in etwa.« Arzu verdrehte die Augen.

»Was ist passiert?« Constanze ahnte, dass jetzt eine wirre Quercher-Nummer folgte, schenkte sich ein Glas Weißwein ein und lehnte sich zurück.

»Er hat den Dackeldieb von Enterbach gefasst.«

Constanze verschluckte sich fast. »Wie bitte?«

»Im Winter ist der Dackel der Gräfin von Gmund in Wildbad Kreuth verschwunden. Die Gräfin ist mit einem Feuerwehrler aus Ostin verbandelt, der wiederum ist der Bruder von einem Bergwachtler, der mit Quercher Musik hinten in der Scheune macht.«

»Okay, etwas sehr detailliert, Arzu. Komm zum Kern.«

Trudl, die Schweißhunddame, hüpfte mit scheinbar unkoordiniert herumwirbelnden Beinen auf die Bank neben Arzu und verlangte, sofort und ausgiebig gekrault zu werden.

Arzu sah Constanze gespielt empört an. »Das ist wichtig für die Story. Quercher ist der Sache mit vollem Engagement nachgegangen. Es stellte sich heraus, dass die Gräfin Ärger mit einem Jagdpächter hatte, dessen Aufseher zu wenig Futter an das örtliche Wild verteilt hatte. Der hat den Dackel entführt, Quercher hat Freunde von der KTU in Miesbach gebeten, ihm in der Freizeit zu helfen. Es wurden Wagenspuren identifiziert, der Aufseher von Quercher eine Woche observiert und bis an die slowakische Grenze verfolgt, dort in einer wilden Verfolgungsjagd gestellt und aus dem Wagen geholt. Der Dackel war gerettet, Querchers Auto wurde komplett geschrottet und Regina hat ihm zur Strafe einen rosafarbenen Smart mit Herzen auf den Türen als Ersatzauto hingestellt.«

»Vermutlich gehört dieser Dackelraub zu den größten bayerischen Kriminalfällen der letzten Jahrzehnte.«

Quercher war durch die Küche nach draußen gekommen und stand nun auf der Terrasse neben den Frauen. Max Ali lief auf ihn zu.

Quercher lachte. »Was bist du denn für ein Huhn? Bist du ein Ali-Huhn?«

Der Junge lachte ebenfalls und schüttelte den Kopf, sodass die Federn wie Satelliten um seinen Kopf wirbelten.

»Der Mann vom Tegernsee, der Dackel befreit«, frotzelte die Gerass.

»Die Staatssekretärin aus Berlin, die Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt.«

Arzu rollte mit den Augen. »Max Quercher, wollen wir schon wieder unfreundlich werden?«, fragte sie drohend.

Er sah Constanze Gerass schweigend an. Sie trug die übliche Businessfrauenrüstung: Hosenanzug mit weißer Bluse, diskreter Schmuck. Alles strahlte Sachlichkeit aus.

»Ein schlimmes modisches Erbe der Merkel-Jahre«, hatte Regina den Stil einmal spöttisch kommentiert.

Klar, mit einem schmal geschnittenen Gucci-Anzug und den Chanel-Schuhen würde man im auf Bodenständigkeit schauenden Politbetrieb auffallen. Wenigstens trägt sie Schuhe mit Absätzen, dachte er und merkte, wie alt ihn der Spruch machen würde, hätte er ihn ausgesprochen.

»Hallo, Dr. Gerass. Wie geht es Ihnen?«, spielte die Gerass einen möglichen Dialog mit Quercher nach. »Ach, mir geht es gut. Berlin ist nicht wirklich schön. Aber es geht. Ob ich Innenministerin werden will? Ach nein. Ich bin ganz zufrieden, doch man soll nie nie sagen. Und Sie so? – Ja, ich lebe hier mit Hühnern, Hunden und Arzu. Alles läuft. Die Hüfte zwickt nicht mehr so sehr. Haare fallen aus. Nachts muss ich nicht raus – noch nicht.«

Arzu bog sich vor Lachen.

Selbst der Schrat schmunzelte, stand auf und rupfte Max Ali die letzten Federn aus dem Haar und die Reste der Hühnerkralle aus Ottos Maul. An einem Wassertrog wusch er sich die Hände. Constanze sah sich den Fünfzigjährigen an. Sie waren gleichaltrig. Während in ihrem Gesicht das harte und zuweilen bösartige Politikleben zu sehen war, tat ihm das Landleben dagegen gut. Er war braun gebrannt, sehnig, hatte ein dem Alter angemessenes Bäuchlein und breite Schultern. Das blonde Haar wurde langsam lichter und grauer, aber das war in der Kombination mit den blauen Augen ein Hingucker. Wäre da nicht seine fehlende soziale Geländegängigkeit. Jeder sardische Esel war kompromissbereiter. Das hatte sie in all den Jahren als seine Chefin schmerzhaft erleben müssen. Sie wollte etwas von ihm, doch er durfte nicht spüren, wie sehr sie das wollte. Dann machte er zu oder forderte unrealistische Zugeständnisse.

Das hatte ihr Arzu schon am Telefon erklärt. »Der macht keine Fälle mehr, die mit vielen Menschen zu tun haben. Wenn ein Tier im Spiel ist, lässt er sich vielleicht überreden. Tiere oder tolle Frauen. So in etwa lässt sich Querchers Motivation erklären.«

»Okay, Quercher, vergessen wir den formalen Kram. Der liegt Ihnen eh nicht. Sie ahnen, ich komme wegen einer Sache, die heikel ist.« Sie trank einen Schluck Wein.

»Wäre sie das nicht, hätten Sie als verbeamtete Staatssekretärin ja genügend Beamte, die das für Sie regeln könnten.«

Constanze nickte und ließ die Spitze ins Leere laufen. Sie griff in die Handtasche, zog ihr Tablet heraus, tippte und wischte auf dem Display.

»Kein Neuland? Dieses Internetz?«, zog er ihr am Bein.

»Bin ja nicht die Ex-Kanzlerin. Das ist Professor Hans Klockenhoff. Seine Fachgebiete waren die Chemie und die Neurobiologie. In beiden Fächern hat er promoviert. Er hat in Harvard studiert, an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und im Sommer in Princeton, USA, gelehrt. Er ist ein enger Freund von mir, so etwas wie ein Mentor gewesen …«

Etwas berührte sie, ließ sie ihren Redefluss für einen Bruchteil unterbrechen.

»Hans saß über mehrere Jahre im deutschen Ethikrat. Hat über Themen wie Sterbehilfe und Fragen zur Genetik nachgedacht, beraten und empfohlen. Er ist … also … jedenfalls wurde er vor einigen Monaten anonym im Netz beschuldigt, über Jahre Studentinnen sexuell belästigt und sogar vergewaltigt zu haben.« Sie zeigte ihnen Screenshots von Posts auf Facebook. »Man warf ihm vor, seine Position bei der Zuteilung von Forschungsarbeiten ausgenutzt zu haben. Der Dekan wurde informiert.«

Auf den nächsten Bildern waren Ausschnitte von Zeitungsartikeln zu sehen.

»Seine Frau glaubte ihm anfangs, zog dann jedoch aus. Vor zwei Wochen begann die Staatsanwaltschaft mit den Ermittlungen gegen ihn. Er entzog sich ihnen durch Freitod.« Sie wechselte zu Bildern vom Tatort. Ein Mann lehnte, als wollte er draußen etwas auf der Straße beobachten, über dem Fensterrahmen. »Er hat sich beide Halsschlagadern aufgeschnitten.«

Quercher hob die Brauen und Arzu atmete hörbar aus. Das war ungewöhnlich.

»Er muss sich entsetzlich gehasst haben«, murmelte Arzu. »Wer sich so zurichtet. Als Biologe wusste er sicher, wie qualvoll so ein Tod ist.«

Constanze nickte.

»Okay, also Ihr alter Freund hat kleine Studentinnen angepackt …«

Constanze unterbrach Quercher. »Das eben ist nicht der Punkt. Natürlich glaube ich ihm. Aber das hat Gründe. Seit Hans tot ist, gibt es keinerlei Posts, keine Briefe, nichts mehr. Stille. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren eingestellt. Bis zu seinem Tod wollten sich mehrere Frauen bei der Polizei melden, es gab Aufrufe. Petitionen. Am Ende haben alle wieder zurückgezogen …«

»Was nicht ungewöhnlich ist«, unterbrach Arzu sie. »Der mögliche Täter ist tot. Viele Opfer wollen abschließen, sehen keinen Grund, die Sache zu vertiefen. So eine Stimmung dreht ganz schnell gegen die Opfer. Von wegen, ihr habt den guten Mann in den Tod getrieben.«

Constanze sah die zwei mit einem gelangweilten Blick an. »Herrschaften, ich war auch einmal im Polizeidienst und weiß, wie die Dinge in Sachen Missbrauch und Opferschutz laufen. Das ist immer noch nicht der Punkt. Ich glaube, der Suizid ist kein Suizid gewesen!«

»Der Herr Professor wurde getötet?«, fragte Quercher ungläubig.

»Ja«, antwortete sie und sah ihm direkt ins Gesicht.

»Beweise?«

Constanze schüttelte den Kopf. »Ich kann als nahe Freundin nicht einmal offiziell Einsicht in die Ermittlungsakten nehmen, das sind Unterlagen, die ich von seiner Anwältin erhalten habe. Es wäre auch angesichts meiner Position nicht ratsam, hier aktiv zu werden.«

Stille trat ein. Quercher schien zu ahnen, was Constanze wollte. Ein neuer Fall, der ihn ablenkte, ihn aus dem Tal lockte.

Er sah zu Arzu, die mit den Schultern zuckte, wohl wissend, dass Begeisterung bei dem Schrat gleich wieder Ablehnung seinerseits hervorrufen dürfte.

Quercher nickte. »Es gibt nur ein Problem«, warf er ein.

»Na?«, erwiderte Constanze.

»Sie sind mit uns sehr nah verbunden. Jeder, dem wir auf die Füße treten, wird die Verbindung herausfinden. Da Sie mit dem Ermittlerpöbel nicht in Verbindung gebracht werden möchten …«

Constanze hob beruhigend die Hand.

»Hans’ Witwe, Justine, ist ebenso an einer Aufklärung interessiert. Sie werden mit ihr alles Weitere besprechen. Sie wird Sie beauftragen. Sie ist Ihre Ansprechpartnerin und wird Sie ganz offiziell morgen kontaktieren. Wir werden also zukünftig über Justine zu diesem Fall kommunizieren. Ihre Tagessätze sind mir bekannt. Ich habe mit Frau von Valepp darüber gesprochen.«

Constanzes Smartphone klingelte. Sie sah auf die Nummer, erhob sich, murmelte eine Entschuldigung und ging mit dem Telefon am Ohr auf die Wiese, wo sich die Hunde sonnten.

Sie sackte mit dem linken Schuh in den Boden, stolperte, hielt aber stoisch das Telefon am Ohr.

»Das nenne ich Einsatz«, hörte sie Arzu flüstern.

»Ist bestimmt der Kanzler.«

»Bestimmt. Oder noch wichtiger: der Ministerpräsident.«

Beide lachten.

Kapitel 3

Kreuth

Alte Menschen. Ohne Zweifel. Aber es fiel ihm schwer, das Alter genauer zu bestimmen. Es waren chinesische Gesichter, die für ihn als Ungeübtem alle gleich aussahen. Jemand kommentierte die Bilder aus dem Hintergrund. Die Kamera zeigte einen Flur, ›sah‹ immer wieder in Zimmer, in denen meist Männer auf einem Stuhl oder einem Bett saßen und vor sich hinstarrten oder -brabbelten. Leider war der Kommentar auf Chinesisch. Er wollte schon den Stick aus seinem Laptop ziehen, als er eine deutsche Stimme vernahm, die er kannte. Jetzt wurden ihm die Abläufe erklärt.

Es handelte sich um eine Pflegeeinrichtung in einer Stadt namens Ürümqi. Das war zu verstehen, danach wurde es undeutlich. Der deutsche Kommentar wurde ausgeblendet, die Bilder liefen weiter. Das Heim war spartanisch eingerichtet. Es gab einen Aufenthaltsraum, wo Frauen und Männer an Tischen saßen, neben ihnen Infusionsständer. Kanülen führten in faltige Arme. Die Menschen nahmen das größtenteils ohne Regung hin. Bei einem Schwenk konnte man für den Bruchteil einer Sekunde Dutzende Pfleger in weißen Schutzanzügen und Handschuhen an der Wand aufgereiht stehen sehen. Dann waren da wieder die alten Gesichter, die Kamera wurde auf ein Stativ gestellt. Sie filmte jetzt eine Frau und einen Mann, die sich an den Händen hielten, wahrscheinlich ein Ehepaar. Die Augen kaum zu sehen vor lauter Runzeln, die Wangen hingen tief, ihm zitterten die Finger auffallend stark. Eine Hand kam rechts ins Bild, man hörte einen Kommentar, ehe die Hand am Regler des Infusionsbeutels drehte. Nichts passierte.

Wieder wollte er ausschalten, zumindest vorspulen, als er die erste Regung der Frau bemerkte. Etwas schien in ihrem Gesicht anzuspringen, es war wie ein Licht, eine langsam wachsende Erregung. Ihre Mundwinkel zuckten. Gleichzeitig wurde die Linke des Mannes ruhiger, entspannte sich. Sein Mund öffnete sich, ein Stöhnen folgte, das in ein Gurgeln überging. Der Oberkörper schwankte. Er wand sich, lachte, spuckte auf den Boden und blickte zu seiner Frau, die ebenfalls lächelte. Sie begannen zu sprechen, erst einfache Worte, dann formten sie Sätze, doch er verstand nichts.

»Was sagt er?«, fragte die deutsche Stimme, die er kannte.

Eine Frauenstimme antwortete. »Er sagt: ›Da bist du ja. Wo warst du, Blume?‹«

»Er erkennt sie?«

»Ja.«

»Wann war das das letzte Mal der Fall?«

»Vor drei Jahren. Der Proband ist seit zwei Jahren in Agonie, erkannte weder andere noch sich selbst im Spiegel.«

Die Frau hob die Rechte und führte sie zur Wange ihres Mannes, streichelte unsicher, aber dennoch glücklich lächelnd über die Haut. Es war herzzerreißend mit anzusehen. Minute um Minute verging. Er konnte sich nicht sattsehen an diesem Schauspiel des Erwachens – und bekam Zweifel. Er wollte sich ein Bier holen, da tat sich plötzlich etwas auf dem Bildschirm. Die Hand des Mannes ballte sich. Mit einer ruckartigen Bewegung schlug er sich ins Gesicht, riss den Infusionsschlauch aus dem Arm und im nächsten Moment brach er zusammen. Seine Frau schrie, sprang auf und stieß dabei die Kamera um.

Der Film wurde unterbrochen, setzte wieder ein. Selber Raum, andere Menschen. Wieder leuchteten die Gesichter, um kurz darauf das schrecklichste Grauen zu zeigen, das Menschen erleben können. Als würde sie Dämonen erblicken, die sie längst vergessen hatten. Er begriff, was seine Entdeckung anrichtete. Er begriff, dass er handeln musste. Sie waren gierig und er würde sie mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontieren. Das war sein Vermächtnis. Er hatte es in die Welt geholt. Er würde es auch wieder vernichten.

Er schaute aus dem Fenster, wo er den Verkehr der Bundesstraße zwar nicht sehen, aber deutlich hören konnte. Er wusste, wie die Motorradfahrer, die unter der Woche brav in ihren Waben in der Stadt und bei der Arbeit saßen, jetzt den Höllenreiter spielten, ihre hochtourigen Motorräder auf der Straße hoch zum Achenpass aufdrehten, ohne Rücksicht, ohne Verständnis für die Umgebung. Es war diese Ignoranz, die sich manchmal nur im Kleinen zeigte, die ihn rasend werden ließ. Hin und wieder bemerkte er weiter unten auf einem Trampelpfad die verschwitzten Paare, wie sie achtlos an Braunelle, Fingerkraut und Enzian vorbeistapften, wie sie hinter dreihundert Jahre alten Ahornbäumen in die Hocke gingen und sich entleerten und ihre verdammten Papiertaschentücher hinterließen. Ausgerechnet am Bergahorn. Dieser Riese, den sie in guten Zeiten zur Zuckerherstellung genutzt und das Laub als Schaf- und Ziegenfutter hergenommen hatten.

Den Tisch, an dem er saß, hatte er aus einem solchen Stamm gefertigt, in einem der letzten Sägewerke zusammenschneiden lassen und selbst geschreinert. Er war hier geboren, also, so fand er, hatte er die Verpflichtung, wie alle, die hier lebten, mit der Umgebung achtsam umzugehen. Sie zu schützen und zu erhalten, für die nachfolgenden Generationen.

Zu viele hatten das Tal, das Oberland für wirtschaftliche Interessen ausgebeutet und verschandelt. Viele seiner einheimischen Freunde hatten ihren Grund verkauft, an diejenigen von außen, die nur die Idylle für ein paar Tage konsumieren wollten. Wer von denen wusste etwas von der majestätischen Schönheit eines Sommermorgens nach Tagen des Regens? Wenn die Schleier des Nebels über die Wipfel zogen, orchestriert von einem Morgenwind, der sie verscheuchen wollte, damit die Sonne das Tal erwärmte und damit das Spiel, den ewigen Rhythmus der Berge inszenierte. Heimat waren nicht Trachten und Bier. Heimat waren Stille und Ehrfurcht vor dieser Natur, in der die Menschen demütig leben sollten.

Es ist die Heimstatt des Wassers, dachte er. Ohne Wasser sind wir alle nichts. Und wenn wir es genau beobachten, wissen wir, dass es Geheimnisse trägt, wie das Wasser in der Höhle. Es ist das flüssige Gedächtnis dieser Region. Wer die verkauft, ist mein Feind. Wer die zerstört, muss zerstört werden. Und während er das dachte, bemerkte er nicht, wie er sich einen Fingernagel, der ein wenig eingerissen war, komplett abriss. Das Blut lief auf den Tisch aus Bergahorn. Unbemerkt von Paul, der nur noch Wut war.

Kapitel 4

München

»Ich übernehme die Professorenwitwe, du die alten Kollegen vom Kriminaldauerdienst.« Arzu fuhr und bestimmte.

Quercher kraulte den Dackel und widersprach. »Warum? Geht doch auch andersherum.«

»Weil sich Frauen bei Frauen besser öffnen, speziell in der Phase der Trauer. Da will keiner einen Besuch von einem schratigen Mann mit Dackel haben«, erklärte Arzu und betätigte die Lichthupe, weil vor ihr »ein Rentner-Zombie mit Mutti«, wie sie ärgerlich murmelte, schleichend um den See herumgondelte und die Landschaft genoss. »Fahr halt, früher seid ihr still vor euch hingestorben. Jetzt müsst ihr in den rollenden Keksdosen den Verkehr aufhalten«, meckerte sie.

»Ja, ich bin mir sicher, du bist die Richtige für die Witwe«, bemerkte Quercher sarkastisch.