Umschlag

Jürgen Kehrer

Wilsberg –
Sag niemals Nein

Kriminalroman

 
 

 

 

Jürgen Kehrer lebt in Münster und Berlin. Er ist der geistige Vater des münsterschen Privatdetektivs Georg Wilsberg. Seit 1995 ermittelt Wilsberg auch im Fernsehen und gehört inzwischen zu den beliebtesten ZDF-Krimis am Samstagabend.

www.juergen-kehrer.de

1

»Nein.«

Sie schaute mich trotzig an, so trotzig wie man eben gucken kann, wenn man weiß, dass man die schlechteren Karten hat. »Warum nicht?«

»Weil es nicht geht.«

»Sie sind so ein Scheißprivatdetektiv. Ist doch Ihr Job, oder?«

»Richtig«, bestätigte ich. »Mein Job ist es, auf Leute aufzupassen. Wenn man mich dafür bezahlt. Und wenn derjenige, auf den ich aufpassen soll, keine schlimmen Dinge tut.«

»Mein Vater ist Journalist«, sagte sie. »Was für schlimme Sachen wird er wohl machen?«

»Ich habe auch nicht behauptet, dass dein Vater das Problem ist.«

»Was für ein Problem haben Sie dann?«

»Das Problem bist du«, sagte ich.

»Ich?«

»Ja, du. Wie alt bist du?«

»Fünfzehn.«

»Siehst du«, sagte ich. »Das ist das Problem. Du bist minderjährig. Ich darf keine Aufträge von dir annehmen. Und vermutlich hast du auch kein Geld, um mich zu bezahlen.«

»Mein Vater ist Ihnen also scheißegal?«

Sie hatte vor meiner Wohnungstür gestanden, die gleichzeitig den Eingang zu meinem Detektivbüro darstellte. Nach einigen beruflichen Aufs und vor allem Abs hatte ich den Inhalt eines Viertels meiner geräumigen Vierzimmerwohnung im münsterschen Kreuzviertel als Sperrmüll entsorgt, die leere Fläche mit frischen Büromöbeln ausgestattet und zum Hauptsitz der Detektivagentur Georg Wilsberg erklärt. Einziger Inhaber: Georg Wilsberg. Einziger Angestellter: Georg Wilsberg. Also ich. Das war inzwischen schon eine ganze Weile her und die Büromöbel hatten ebenso wie ich mittlerweile ihren Glanz verloren. So wie mein ursprünglicher Plan, durch die Verlegung des Büros in meine Wohnung Kosten zu sparen, sich als Drahtseilakt über dem Immobilienmarkt entpuppte. Das Kreuzviertel gehörte zu den begehrtesten Wohnlagen Münsters. Angesichts explodierender Preise war es nur eine Frage der Zeit, bis mein Vermieter oder seine Erben auf die Idee kommen würden, nach einer kosmetischen Luxussanierung die Kaltmiete auf zwanzig Euro pro Quadratmeter zu erhöhen. Oder die Wohnung gleich für eine knappe Million auf den Markt zu werfen. Dass ich überhaupt noch zu erschwinglichen Kosten hier wohnen durfte, war dem Umstand zu verdanken, dass ich das bereits seit mehr als dreißig Jahren tat, die Mutter meines jetzigen Vermieters mich ziemlich gut leiden konnte und ich ihm selbst mal aus einer brenzligen privaten Situation geholfen hatte. Aber all das würde nichts mehr nützen, wenn sich die Eurozeichen in seinen Augen weiter vergrößerten. Damit das eher später als früher passierte, musste ich lukrative Jobs an Land ziehen, um regelmäßig meine Miete überweisen zu können. Mittellose, pubertierende Jugendliche gehörten daher nicht zu meiner bevorzugten Zielgruppe.

Als höflicher Mensch hatte ich sie trotzdem in mein Büro gebeten, ihr ein kaltes Wasser serviert und sie reden lassen. Sie hieß Emma Wilkens und machte sich Sorgen um ihren Vater. Der sei in letzter Zeit ziemlich krass drauf, erzählte sie, immer im Stress, kriege von der Familie kaum noch was mit und gucke sich auf der Straße ständig um, als habe er Angst, verfolgt zu werden. Emma vermutete, dass es um etwas Berufliches ging, eine große Geschichte, an der er arbeitete und von der niemand etwas mitbekommen durfte. Dazu passe auch, dass er sich beim Telefonieren in seinem Zimmer einschloss und die Musik laut aufdrehte.

Ich sagte ihr nicht, dass dahinter noch etwas ganz anderes stecken konnte. Weil ich wusste, dass Mädchen in Emmas Alter es nicht mochten, wenn jemand das Bild ihres tollen Vaters ankratzt. Schon gar nicht durch die Erwähnung einer fremden Frau. Und vielleicht war mein Verdacht ja auch total unberechtigt. Obwohl der Ort, an dem sich Paul Wilkens verabredet hatte, ihn nicht entkräftete: Wienburgpark, einundzwanzig Uhr. So viel hatte Emma, mit dem Ohr an der Tür, von dem Telefonat verstanden. Was mehr für ein privates Treffen als für eine knallharte Recherche sprach. Was ich ihr natürlich auch nicht sagte.

Stattdessen sagte ich: »Tut mir leid, das mache ich nicht.«

»Sie könnten ein bisschen im Park chillen. Mit Ihrem Hund Gassi gehen.«

»Ich habe keinen Hund.«

»Dann eben ohne Hund.«

»Nein. Und komm bloß nicht auf die blöde Idee, selber dort herumzuschleichen. Das wird deinem Vater gar nicht gefallen.«

»Keine Angst, ich bin eh bei meinem Theaterkurs. Meine Mutter bringt mich mit dem Auto hin und holt mich auch wieder ab.«

»Gut«, sagte ich. »Dann verschwindest du jetzt besser. Ich habe noch zu tun.«

Das stimmte zwar nicht, aber ich wollte sie nicht unnötig vor den Kopf stoßen, denn ich hatte tatsächlich ein bisschen Mitleid mit ihr. Das schwarz-weiße Leben ihrer Jugend würde sich bald um etliche Graustufen erweitern.

Sie schlurfte zur Tür. »Bei meiner Oma und meinem Opa habe ich mal einen Film gesehen – von so einem Privatdetektiv aus Münster.«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Der hilft Leuten auch, ohne Geld dafür zu nehmen.«

»Kann ich mir nicht leisten«, sagte ich.

»Dafür ist er ein besserer Mensch als Sie.«

»Schon möglich«, sagte ich. »Aber der lebt in seiner Filmwelt. Das hier ist das wahre Leben.«

Am Abend war ich mit Hauptkommissar Stürzenbecher verabredet. Ex-Hauptkommissar Stürzenbecher, um genau zu sein, vor ein paar Jahren hatte er die Verbrecherjagd gegen ein Leben als Pensionär getauscht. Seitdem waren seine Haare länger und ungekämmter geworden, seine Hemden knittriger und sein gesamtes Erscheinungsbild ein bisschen verlotterter. Was auch daran lag, dass seine Frau vor zwei Jahren an Krebs gestorben war. Stürzenbecher tat so, als hätte er sein Leben wieder im Griff, doch unter der Oberfläche des aufgeräumten älteren Herrn, den er gerne spielte, spürte man eine tiefe Einsamkeit. Der ehemalige Hauptkommissar und seine Frau hatten sich schon während der Schulzeit ineinander verliebt und ihre Beziehung ohne große Unterbrechungen in eine mehr als vierzig Jahre dauernde Ehe überführt. Ich konnte mir vorstellen, wie schrecklich leer ihm jeden Abend sein kleines Häuschen in Coerde vorkommen musste.

Wir tranken aus unseren Biergläsern und schauten in die Baumkronen über uns. Nach einem heißen Sommertag hatte sich der Abend kaum abgekühlt, die Kneipenstühle auf den Bürgersteigen rund um die Kreuzkirche waren bis auf den letzten Platz gefüllt.

»In meiner Tageszeitung habe ich heute eine Anzeige für eine Kreuzfahrt gesehen«, sagte Stürzenbecher. »Karibik und Südamerika, nächsten Winter. Gar nicht mal so teuer.«

»Mach das doch«, sagte ich.

»Alleine habe ich keine Lust. Willst du nicht mitkommen?«

»Kreuzfahrt?« Ich nahm einen Schluck Bier, um Zeit zu gewinnen. »Ich glaube, dafür bin ich noch nicht alt genug.«

»Quatsch, das war früher so, dass da nur alte Leute mitgefahren sind. Heute machen das alle, Familien, Junge, Alte. Es gibt Ausflüge, Vorträge und jeden Abend eine Show.«

»Und Bingo«, sagte ich. »Ich seh uns schon in der Bar sitzen und Zahlen ankreuzen. Das spar ich mir auf, bis ich in Rente bin.«

»Haha«, sagte Stürzenbecher beleidigt. »Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geguckt, Wilsberg? Du bist auch nicht mehr der Jüngste.«

»Gerade deshalb kann ich mich nicht festlegen. Ich muss jeden Auftrag mitnehmen, den ich kriegen kann.«

»Und wie viele sind das im Moment?«

Ich dachte an Emma Wilkens und spürte einen kleinen Stich in der Magengegend. »Keiner.«

»Siehst du. Es ist Wahnsinn, dass du dir hier im akademischen Florida von Münster eine große Wohnung leistest. Zieh weg aus dem Nobelviertel. Bei mir in Coerde gibt es noch erschwinglichen Wohnraum. Eine kleine Zweizimmerwohnung kannst du dir auch mit einer mickrigen Rente leisten. Dann musst du dir nicht mehr für jeden Idioten den Arsch abfrieren, nur weil der Typ möchte, dass du seine Frau beschattest, und du in deiner Karre nicht mal eine Standheizung hast.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Man hört so einiges über das Rentnerdasein. Einige behaupten, es wäre langweilig. Und andere fallen sogar tot um, weil sie plötzlich nicht mehr arbeiten dürfen.«

»Eben deshalb sind ja Kreuzfahrten erfunden worden.«

Mein Handy klingelte. Rufumleitung aus dem Büro. Ich nahm ab.

»Hier ist Emma. Paul, also mein Dad, meldet sich nicht mehr.«

Ich seufzte und schaute auf die Uhr. Kurz vor zehn. »Er wird sein Handy ausgeschaltet haben. Weil er nicht gestört werden will.«

»Das macht er nie. Außerdem höre ich ein Freizeichen.« Sie wartete. »Wenn Sie nicht hinfahren –«

»Okay«, sagte ich. »Ich sehe mich mal in dem Park um. Du bleibst, wo du bist. Sobald ich etwas weiß, melde ich mich.«

Stürzenbecher starrte mich neugierig an. Ich erzählte ihm von Emma.

»Schlechtes Gewissen, was?«, kommentierte er. »Kann ich verstehen. Würde mir auch so gehen.«

»Na dann.« Ich stand auf. »Zahlst du für mich mit? Ich fahr dann schon mal.«

»Unsinn. Ich komme natürlich mit.« Und schon stand er neben mir. Alle Lethargie war auf einen Schlag von ihm abgefallen, er wirkte richtig euphorisch.

2

Der Wienburgpark lag an der Kanalstraße, zwischen Innenstadt und nördlichen Vororten. Eigentlich war er kein richtiger Park, sondern eine Mischung aus Biotop, Seenlandschaft und studentischen Spielwiesen, in den späten Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts von Landschaftsarchitekten entworfen und den Freizeitgewohnheiten der ökologisch aufgeklärten münsterschen Bevölkerung angepasst. Selbst zu dieser späten Tageszeit war er nicht unbelebt: Liebespaare schlenderten knutschend über die mit Mulch bestreuten Wege, Studentengruppen hockten um billige Einweggrills und dazwischen quakten Myriaden fortpflanzungswilliger Frösche.

Emma hatte mir ein Porträtfoto geschickt, das mich in die Lage versetzte, ihren Vater zu erkennen: ein längliches Gesicht mit hohen Wangenknochen und großen, stechend dreinblickenden Augen über einem ausgeprägten Adamsapfel, gekrönt von einer Haube kaum zu bändigender, dunkler Haare. Kein Mann, der ruhig auf dem Sofa sitzen blieb, wenn woanders die Post abging. Die angehängten Daten verrieten, dass Paul Wilkens »voll der Athlet«, dreiundvierzig Jahre alt und »mindestens« ein Meter neunzig groß war, außerdem vermutlich eine helle »Poser-Leinenjacke« über einem »blöd gestreiften« T-Shirt trug.

»Ganz schön weitläufig hier«, staunte Stürzenbecher. Sein Atem rasselte. Der Entschluss, nicht mehr zu rauchen, hatte sich mit geschätzten fünfzehn Kilo auf seinen Hüften niedergeschlagen. Und auch schon vorher hatte er sich am liebsten auf vier Rädern durch die Stadt bewegt.

»Warst du noch nie hier?«

»Nein. Ich hab’s nicht so mit dem Spazierengehen. Und Maike –« Er stockte.

»Verstehe.« Ich zog mein Handy aus der Tasche. Emma hatte gesagt, dass ein Freizeichen zu hören gewesen war. Falls Wilkens sein Gerät nicht auf lautlos gestellt hatte, würden Stürzenbecher und ich den Klingelton vielleicht in freier Wildbahn hören können.

»Halt mal die Luft an!«, befahl ich und wählte Wilkens’ Nummer.

Nichts. Aber das konnte auch am Gequake der Frösche liegen.

Wir gingen weiter. Nach dem zehnten Klingelton schaltete sich der Anrufbeantworter ein: »Hier ist Paul Wilkens. Wenn Sie mir etwas mitteilen wollen, reden Sie jetzt!« Eine dynamische, fast genervte Stimme. Hatte ich mit dreiundvierzig auch so unter Strom gestanden?

Nach fünf Minuten wiederholte ich das Spiel. Diesmal glaubte ich, ein Geräusch zu erahnen. »Hörst du das auch?«

Stürzenbecher schüttelte den Kopf. »Nee.«

»Es kommt von da drüben.« Ich lief auf eine Hecke aus Schlehdornsträuchern zu, tatsächlich wurde das Klingeln lauter. »Herr Wilkens?«

Stürzenbecher schnaufte hinter mir her. »Bleib stehen!«

Ich blieb stehen. »Sag jetzt nicht, wir sollen auf deine Kollegen warten.«

»Ich möchte nur vermeiden, dass du über irgendwelche Spuren trampelst.«

Das Klingeln endete. »Hier ist Paul Wilkens –«

»Der Mann braucht vielleicht unsere Hilfe.«

»Deshalb schauen wir nach«, verkündete Stürzenbecher. »Ich zuerst, du hinter mir.«

Der Ex-Hauptkommissar schob seine massige Gestalt zwischen zwei Schlehensträuchern hindurch und erstarrte. Ich linste über seine Schulter. Hinter einem Strauchstumpf lag ein leuchtendes Smartphone, einen knappen Meter entfernt von einer großen Lache. Stürzenbecher bückte sich, steckte einen Finger in die Lache und betrachtete die Flüssigkeit aus der Nähe. »Blut.«

Noch bevor die Polizei auftauchte, meldete sich Emma: »Was ist jetzt?«

»Ich habe das Handy deines Vaters gefunden.«

»Wie? Nur das Handy? Und Papa?«

Ich überlegte, ob ich die Blutlache erwähnen sollte, und entschied mich dafür, damit zu warten, bis ich in ihrer Nähe war. »Das Handy lag unter einem Strauch auf dem Boden.«

»Dad hat sein Handy immer benutzt. Der verliert das nicht. Never.«

»Vielleicht hat es irgendeine Form von – Auseinandersetzung gegeben«, sagte ich.

»Sie meinen, er ist entführt worden?«

»Nein. Das sind alles Spekulationen. Kann sein, dass er noch heute Abend nach Hause kommt.« Das glaubte ich allerdings selber nicht.

Blaulichter schimmerten durch die Bäume, mehrere Polizeisirenen waren zu hören.

»Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Emma.

»Ich habe die Polizei angerufen. Die wird den Park absuchen.«

Emma schwieg. Im Hintergrund erkundigte sich eine Frauenstimme: »Mit wem telefonierst du da?«

»Hast du deiner Mutter schon etwas erzählt?«

»Nein«, sagte Emma leise. »Die ist psychisch nicht so gut drauf. Ich will nicht, dass sie durchtickt.«

»Ich komm später vorbei«, versprach ich. »Und die Polizei wird bestimmt auch mit euch reden wollen.«

Emma schwieg wieder.

»Es tut mir leid«, sagte ich.

Emma legte auf.

Die münstersche Kripo erschien in Gestalt von Hauptkommissarin Bauer und Oberkommissar Langenbeck. Bauers Freude, ihren alten Chef Stürzenbecher wiederzutreffen, hielt sich in Grenzen. »Klaus? Warum bist du nicht zu Hause und legst die Füße hoch? Wieso treibst du dich nachts hier rum?«

Stürzenbecher deutete auf mich. »Wilsberg ist ein alter Freund von mir. Ich habe ihn begleitet.«

»Wilsberg«, echote Langenbeck. »Den kennen wir schon. Und wie wir ihn kennen.«

Wir zeigten den beiden Kommissaren das Handy und die Blutlache.

»Okay«, sagte Bauer. »Spurensicherung. Der ganze Bereich wird abgesperrt.«

Wir traten zurück auf die Wiese. Zwei uniformierte Polizisten machten sich an die Arbeit und wickelten Absperrbänder um Sträucher und Bäume.

»Aber mal im Ernst«, wandte sich Bauer an Stürzenbecher. »Ich begreife nicht, weshalb du es so dringend gemacht hast. Das da ist etwa ein halber Liter Blut, nicht wenig, aber auch nicht unbedingt tödlich. Könnte das Ergebnis einer ganz gewöhnlichen Messerstecherei sein. Falls das Opfer Glück hat, liegt es längst im Krankenhaus. Dann wäre das kein Fall für die Mordkommission.«

»Gewöhnliche Messerstecherei kommt eher nicht infrage«, wandte ich ein. »Der Besitzer des Handys ist Journalist und hatte hier eine Verabredung.« Ich erzählte Emmas Geschichte, wobei mir auffiel, dass sie an einigen Stellen recht dünn war.

Auch Hauptkommissarin Bauer schien nicht überzeugt. »Ziemlich viele Wenns und Abers, oder?«

»Genug Stoff, um etwas zu unternehmen«, beharrte ich.

»Zunächst einmal möchte ich wissen, was Emmas Mutter davon hält.« Bauer setzte sich in Bewegung.

Mit zwei Schritten war ich an ihrer Seite. »Ich würde gern mitkommen. Emma Wilkens ist meine Klientin – sozusagen.«

Die Hauptkommissarin schaute mich prüfend an und nickte dann gnädig. Hinter uns hatten sich Stürzenbecher und Langenbeck einsortiert. Bauer drehte sich um: »Klaus, du gehst nach Hause. Für dich ist Feierabend. Und Langenbeck? Sie koordinieren hier die Suche.«

»Och«, sagte Stürzenbecher.

»Aber –«, sagte Langenbeck.

»Kein Och und Aber«, sagte Bauer. »Langenbeck, rufen Sie in den Krankenhäusern an, ob in den letzten Stunden jemand mit starkem Blutverlust eingeliefert wurde. Wenn ich zurückkomme, möchte ich Ergebnisse sehen.«

Die beiden Männer blieben frustriert zurück, während Bauer und ich zügig zum Dienstfahrzeug der Hauptkommissarin schritten.

Bauer schüttelte den Kopf. »Mutter und Tochter sind wahrscheinlich fix und fertig. Da müssen wir sie nicht noch zusätzlich erschrecken.«

Ich fragte nicht, ob sie damit Stürzenbecher oder Langenbeck oder beide meinte.

Emma öffnete die Tür und würdigte mich kaum eines Blickes. Ihre Mutter saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und drehte den Kopf in Zeitlupe. Wenn sie sprach, klang es wie Nena auf Valium, am Ende eines Satzes hatte man den Anfang schon fast vergessen. Kein Zweifel, sie hatte etwas ziemlich Hartes eingeworfen. Aber vielleicht war das ja auch gut so.

Emma wiederholte ihre Geschichte, während ihre Mutter sie anguckte, als hätte sich ein seltsames Tier auf die Sitzgarnitur verirrt, offenbar hatte sie keine Ahnung, wovon ihre Tochter da redete. Entsprechend fielen ihre Antworten auf Bauers Fragen aus. Nein, sie wisse nicht, woran ihr Mann gerade arbeite, auch nicht, wen er habe treffen wollen, er rede mit ihr nur selten über seine Recherchen, wahrscheinlich fürchte er, dass es sie zu sehr aufrege.

»Tja«, sagte Bauer, »dann hoffen wir mal, dass die Sache gut ausgeht.«

»Ich versteh das nicht«, sagte Emmas Mutter. »So ein Handy kann immer mal verloren gehen. Vielleicht hat Paul das noch gar nicht gemerkt.«

Hauptkommissarin Bauer guckte mich an, ich guckte Bauer an.

»Da ist noch was«, sagte Bauer. »Neben dem Handy haben wir Blutspuren gefunden.«

»Blut?« Emma funkelte mich an. »Wann wollten Sie mir das sagen?«

»Jetzt«, sagte ich.

»Moment«, mischte sich die Hauptkommissarin ein. »Wir wissen nicht, von wem das Blut stammt, es muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass Ihr Vater verletzt wurde. Sicherheit haben wir erst nach einem DNA-Abgleich.« Bauer wandte sich an Emmas Mutter. »Deshalb würde ich gerne eine Zahnbürste Ihres Mannes mitnehmen.«

Die Antwort reduzierte sich auf ein langsames Nicken.

»Gibt es jemanden, den Sie anrufen könnten?«, startete ich einen Versuch, das Thema zu wechseln.

»Wozu?«, fragte Emma.

»Um dich und deine Mutter zu unterstützen, zum Beispiel.«

»Meine ältere Tochter studiert in Osnabrück«, sagte Emmas Mutter.

»Wir kriegen das schon hin«, sagte Emma.

»Herr Wilsberg hat recht.« Bauer hatte begriffen, dass Emma diejenige war, die hier im Moment die Entscheidungen traf. »Im Laufe der Nacht kann noch einiges passieren. Mir wäre wohler, wenn Sie sich dem nicht allein stellen müssten.«

»Danke, ich brauche keine Hilfe«, sagte Emma.

»Sie vielleicht nicht. Aber was ist mit Ihrer Mutter?«

»Dad ist oft weg. Dann kümmere ich mich um sie.«

Ein paar Minuten später standen Bauer und ich auf der Straße. Ein einsamer Hundeführer zockelte an uns vorbei. Ansonsten herrschte im beschaulichen Geistviertel, in dem die Wilkens lebten, friedfertige Stille. Brave Bürger schlummerten in ihren Betten dem nächsten Arbeitstag entgegen. Nur Emma und ihre Mutter würden keine Ruhe finden. Und auch ich würde in den nächsten Tagen nicht gut schlafen, da war ich sehr sicher.

»Ganz schön taff, die junge Dame«, sagte Bauer.

»Möglicherweise hält sie sich für taffer, als sie tatsächlich ist.«

»Das könnte ein Problem werden.« Die Hauptkommissarin hatte ihr Handy am Ohr und telefonierte mit Langenbeck. Nach etlichen Jas, Hmms und Ahas übersetzte sie für mich: »Die gute Nachricht ist: Wir haben im Park keine Leiche gefunden.«

»Und die schlechte?«

»In den Krankenhäusern hat sich kein Paul Wilkens gemeldet. Auch niemand sonst, auf den die Art der Verletzung passen würde.«

»Wilkens ist also verschwunden.«

»So sieht es aus.«

3

Am späten Nachmittag des folgenden Tages durchforstete ich zum x-ten Mal das Internet nach Nachrichten über Paul Wilkens oder in Münster aufgelesene Opfer nächtlicher Gewalttaten, als das Bürotelefon klingelte.

Eine dunkle Frauenstimme sagte: »Hallo.«

»Ja, bitte?«

»Hier ist Christine.«

Die Stimme war mir gleich bekannt vorgekommen, allerdings brauchte ich mehrere Sekunden, bis mir klar wurde, dass weder Hauptkommissarin Bauer noch ich uns nach dem Vornamen von Emmas Mutter erkundigt hatten. »Frau Wilkens?«

Statt einer Antwort sagte sie: »Emma kommt nicht nach Hause.«

Ich spürte, wie sämtliches Blut mein Gehirn verließ und sich irgendwo weit unten im Körper sammelte. »Was – was meinen Sie?«

»Die Schule ist längst aus. Um diese Zeit ist sie sonst immer da.«

»Haben Sie versucht, sie telefonisch zu erreichen?«

»Ja.«

Mein Mund fühlte sich an, als hätte ich gerade eine Wüste durchquert. »Und?«

»Sie geht nicht ran. Sie geht einfach nicht ran.«

»Okay«, sagte ich. »Wir machen Folgendes: Wenn ich ebenfalls kein Glück habe, schalte ich die Polizei ein. So oder so melde ich mich spätestens in einer Viertelstunde bei Ihnen. Einverstanden?«

»Gut«, sagte Christine Wilkens.

Ich ließ es klingeln, bis Emmas Stimme sagte: »Hi! Hier ist Emma. Wenn du mein Gerät volltexten willst, mach’s einfach!«

»Georg Wilsberg. Wenn du das hier hörst, ruf mich bitte zurück. Deine Mutter macht sich Sorgen –«

Weiter kam ich nicht, denn Emma fuhr mich an: »Ey, was soll das? Stalken Sie mich jetzt oder was?«

Grenzenlose Erleichterung. »Deine Mutter hat mich angerufen.«

»Scheiße.«

»Ich verstehe, dass du verzweifelt bist –«

»Überhaupt nichts verstehen Sie. Sonst wären Sie gestern nicht auf Ihrem Arsch sitzen geblieben, sondern in den Park gegangen. Aber nein, Sie haben nur müde gelächelt, als ich Sie angebettelt habe.«

»Stimmt«, sagte ich. »Ich habe Mist gebaut. Ich hätte dich ernster nehmen müssen. Mein Fehler.«

»Sie gehen mir auf den Sack«, sagte Emma.

»Nur weil du sauer auf mich bist, musst du nicht auch noch deine Mutter leiden lassen. Die ist sehr beunruhigt, wie du dir vorstellen kannst.«

»Meine Ma geht mir auch auf den Sack.«

Ich stöhnte. »Emma –«

»Hören Sie auf mit dem Emma-Gequatsche. Mama hat mich die ganze Nacht vollgelabert, ich habe keine Minute geschlafen. Ich bin am Ende, verstehen Sie? Ich brauch ein bisschen Ruhe.«

»Wo bist du eigentlich?«

»Bei einer Freundin. Wir chillen. Irgendwelche Probleme damit?«

»Ja. Wir müssen reden.«

»Boahh.«

»Heute noch.«

Sie nannte mir eine Adresse. Ich sagte, ich würde sie abholen. Dann rief ich ihre Mutter an und verkündete die Entwarnung. In einem besseren Leben wäre Christine Wilkens vermutlich erkennbar erleichtert gewesen und hätte sich für meine Unterstützung bedankt. Aber in einem besseren Leben wäre es ihr psychisch auch nicht so schlecht gegangen.

Emma stand schon an der Straße, als ich vor der Wohnung ihrer Freundin anhielt. Sie warf ihren Rucksack auf die Rückbank und setzte sich neben mich. »Und? Was kommt jetzt? Eine Moralpredigt?«

»Willst du eine hören?«, fragte ich und fuhr los.

»Danke nein. Sonst kotze ich noch Ihr schönes Auto voll.«

»Ich mache dir ein Angebot«, sagte ich.

Sie lachte heiser. »Kostenloser Chauffeurservice ist mehr, als ich erwartet habe.«

»Ich finde heraus, was mit deinem Vater passiert ist.«

»Ganz umsonst? Wie passt das zu Ihren knallharten Einstellungen und Ihrem Businessplan?«

»Gar nicht. Das ist ja das Besondere an dem Angebot.«

»Nice. Wie der im Fernsehen?«

»Ja, wie der im Fernsehen.«

Emma schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Sie halten mich für eine Snitch, was?«

»Wenn das so was Ähnliches wie eine Zicke ist: Nein. Du hast Angst um deinen Vater gehabt und ich habe das für die überspannte Fantasie eines Teenagers gehalten. Trotz meiner ganzen Erfahrung lag ich falsch. Ich hätte dich ernster nehmen müssen. Und das werfe ich mir vor.«

»Wow!«, sagte Emma. »Tolle Rede.«

»Sagen wir einfach: Ich habe im Moment keinen besser bezahlten Auftrag. Außerdem interessiert mich, was mit deinem Vater passiert ist. Kannst du gucken, woran er in letzter Zeit gearbeitet und mit wem er gesprochen hat? Artikel, Orte, Interviewpartner, einfach alles, was du findest.«

Sie nickte. »Schick ich Ihnen. Aber viel wird das nicht sein. Er hat immer –«

»– seine Quellen unter Verschluss gehalten, ich weiß.«

»Mit Hamburg hat er fast jeden Tag telefoniert. Für die hat er hauptsächlich gearbeitet.«

»Zeitung, Zeitschrift, Fernsehen, Internet?«, fragte ich.

»Das große Magazin. Gibt’s auch im Netz.« Sie zeigte auf die nächste Straßenecke. »Lassen Sie mich da raus. Den Rest gehe ich zu Fuß.«

»Negativ«, antwortete ich. »Ich bringe dich bis in die Wohnung.«

Sie guckte mich finster von der Seite an. »Immer noch misstrauisch, was?«

»Ich hab’s deiner Mutter versprochen«, log ich.

Emmas Mutter sagte nur: »Wo warst du denn?«

»Alles in Ordnung, Mama.« Emma warf ihren Rucksack in die Ecke. »Hast du deine Tabletten genommen?«

»Die Polizei hat angerufen. Es ist sein Blut. Das Blut im Park, das ist von Paul. Er ist tot, er ist bestimmt tot.«

Über die Wangen von Christine Wilkens liefen Tränen. Emma nahm ihre Mutter an der Hand und führte sie ins Wohnzimmer. »Setz dich hin, Mama. Ich koche dir einen Tee. Ich bin sicher, Papa lebt. Ich spüre, dass er lebt. Alles wird gut, Mama.«

Besser hätte ich das auch nicht sagen können.

4

Ich nahm den Zug nach Hamburg und ging vom Hauptbahnhof zur Hafencity. Das Magazin residierte in einem pompösen Gebäude, das modern aussah und doch aus einer längst vergangenen Zeit stammte. Einer Zeit, in der Minister noch dem Erscheinungstag eines neuen Heftes entgegenzitterten und Edelfedern in der Kantine staunenden Praktikantinnen erzählten, welchen mächtigen Menschen sie als Nächstes zur Strecke bringen würden.

Aber das war gestern. Heute lauerte draußen im Land ein Heer von Enttäuschten, Wütenden und zu jeder Beleidigung Bereiten auf seine Chance, Enttäuschung, Wut und Hass abzusondern. Für das Lesen sauber recherchierter Artikel und das Nachdenken über Fakten und Argumente blieb keine Zeit mehr. Doch bei der schwindenden Zahl derjenigen, die noch guten Journalismus schätzten, hatte das Magazin nach wie vor einen guten Ruf.

Ich hatte mit dem Büro der Chefredaktion telefoniert und ihnen einen Deal vorgeschlagen: meinen Augenzeugenbericht vom Verschwinden Paul Wilkens’ gegen Informationen über das Arbeitsleben des Journalisten. Ich solle vorbeikommen, hatte man mir nach kurzer Beratung mitgeteilt, auf eigene Kosten, man wisse ja nicht, wie ergiebig meine Beobachtungen seien.

Ich wartete beim Pförtner, bis mich ein Assistent abholte und in die Chefetage eskortierte. Der Blick über die Elbe bis zum Hafen war umwerfend, der Kaffee einigermaßen genießbar und ein stellvertretender Chefredakteur hatte sich extra für mich eine halbe Stunde freigeschaufelt. Eigentlich hätte ich vor Ehrfurcht erstarren müssen. Doch nachdem ich meinen Teil der Vereinbarung erfüllt und von der Nacht im Wienburgpark berichtet hatte und der stellvertretende Chefredakteur mir anschließend verkaufen wollte, dass man selbst in der Chefredaktion nicht so genau wisse, woran Paul Wilkens gerade schreibe, wurde ich pampig.

»Kommen Sie. Ich bin nicht nach Hamburg gefahren, um mich mit ein paar Floskeln abspeisen zu lassen.«

»Wie kann ich sicher sein, dass Sie unsere Informationen nicht an die Konkurrenz verkaufen?«

»Gar nicht. Aber ich gehe hier nicht weg, bevor ich etwas von Ihnen bekommen habe.«

»Für wen arbeiten Sie eigentlich?«

»Für Emma, die Tochter von Paul Wilkens.«

Der stellvertretende Chefredakteur zog die Stirn in Falten. »Ist die nicht minderjährig?«

»Na, dann wissen Sie ja doch ein paar Basics über Paul Wilkens.« Ich zog mein Smartphone aus der Tasche und spielte ein Video ab, das ich mit Emma vor meiner Abreise aufgenommen hatte. In dem Film guckte Emma treuherzig in die Kamera und sagte: »He, Leute, ich bin Emma Wilkens. Der Mann, der euch das hier zeigt, ist Privatdetektiv und heißt Wilsberg. Er hilft mir, meinen Vater Paul Wilkens zu finden. Also sagt ihm verdammt noch mal alles, was euch dazu einfällt. Danke.«

Die Falten auf der Stirn des stellvertretenden Chefredakteurs wurden zu hässlichen Furchen. »Sie lassen sich von einem Mädchen bezahlen?«

»Nein, ich arbeite auf eigene Rechnung.«

Er schüttelte den Kopf. »Seid ihr in Münster alle so komisch? Dieser Privatdetektiv im Fernsehen –«

»Den kenne ich nicht«, sagte ich. »Also, was ist jetzt? Ich warte.«

Die Tür ging auf und jemand sagte: »In fünf Minuten Konferenz mit den Ressortleitern.«

»Ich mache Ihnen ein Angebot«, entschied der stellvertretende Chefredakteur. »Zurzeit ist Stefan Schilling in der Stadt, unser Reporter für den Nahen und Mittleren Osten. Schilling und Wilkens waren zusammen auf der Journalistenschule, die beiden sind bis heute befreundet. Wenn Wilkens jemandem in der Firma blind vertraut, dann Schilling. Ich rufe Schilling an und sag ihm, dass er sich mit Ihnen treffen soll. Okay?«

»Wird sich zeigen«, sagte ich und reichte meine Visitenkarte über den Schreibtisch. »Ich bin in Hamburg. Er kann mich jederzeit anrufen, solange es heute ist.«

Ich nahm ein billiges Hotelzimmer in der Nähe des Bahnhofs und legte mich aufs Bett. Als ich gerade eingeschlafen war, rief Stefan Schilling an.

»Ich sitze an einem Text für die nächste Ausgabe und habe nicht viel Zeit, weil ich morgen nach Beirut zurückfliege. Wie wäre es um acht im Central in der Langen Reihe? Irgendwann muss ich sowieso was essen und das Central ist mein Stammlokal, wenn ich in Hamburg bin.«

»Fein«, sagte ich. »Die Lange Reihe ist gleich bei mir um die Ecke.«

Die Lange Reihe war eine der bunteren und lebendigeren Straßen Hamburgs. Ganz ohne Prostitution kam der drum herumliegende Stadtteil St. Georg auch nicht aus, aber im Vergleich zur grellen Touristenfalle Reeperbahn ging es hier fast zivilisiert und kuschelig zu.

Ich erkannte Schilling sofort. Zum einen, weil ich ihn gegoogelt hatte, zum anderen, weil er der einzige allein an einem Tisch sitzende Mann war, der neugierig zur Tür guckte und auch noch wie ein Journalist aussah.

Wir bestellten etwas zu essen und eine Flasche Rotwein, bevor wir zur Sache kamen.

»Gibt es etwas Neues von Paul Wilkens?«, erkundigte sich Schilling.

»Das Blut im Park stammt definitiv von ihm«, sagte ich. »Er ist also mindestens verletzt, wenn nicht –«

»Und warum taucht er nicht auf, lebendig oder tot?«