Umschlag

Uli Paulus

Aller Tod will Ewigkeit

Thriller

 
 

 

 

Uli Paulus, geboren 1974 in Heidenheim, studierte Schlagzeug, Philosophie und Sprachwissenschaften. Er arbeitet als Kreativdirektor, Filmemacher und Schriftsteller. Nach seinem in der Schweiz und Deutschland erfolgreichen Krimidebüt Schattengott ist Aller Tod will Ewigkeit sein zweiter Roman.

I.

»Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus:

und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehen, als den Menschen überwinden?«

Friedrich Nietzsche

1

Vor dem Küchenfenster wütete ein stürmischer Wind, der den Regen durchs Dorf trieb wie einen Schwarm wilder Insekten. Jacob Lindemann stand an seinem Gasherd und wartete auf das Pfeifen des Teekessels. Die Regentropfen prasselten auf die Fensterbank. Der graue Linoleumboden unter seinen in Sandalen steckenden Füßen war kalt. Im Schrank unter dem Spülbecken schnappte eine Mausefalle zu. Plötzlich spürte Lindemann ein heftiges Drücken um sein Herz und einen krampfartigen Schmerz im Hals. Er schleppte sich in sein Arbeitszimmer, ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und griff nach dem Testament in der obersten Schublade. Minutiös hatte er in den letzten Jahren aufgeschrieben, was mit seinem Erbe geschehen sollte und wer sich um die Testamentsvollstreckung kümmern möge. Doch erst jetzt spürte er das plötzliche Bedürfnis, sich seiner eigenen Totenfeier anzunehmen. Der Schmerz zog in den Kiefer und schnürte ihm gleichzeitig die Bauchdecke zu. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und seine Hand verkrampfte sich. Unter lautem Stöhnen nahm er die Bibel zur Hand, die auf seinem Schreibtisch lag, und schlug Matthäus 26, Vers 34 auf: Jesus sprach zu ihm: »Wahrlich ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.« Er blickte zur Decke und schloss die Augen. Er sah die Menschenmenge, die ihm zuhörte. Er sah die Toten im Schützengraben. Er sah das Gesicht seiner jüngsten Tochter. Mit verkrampfter Hand blätterte er weiter zu Matthäus 26, Vers 75. Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: »Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen«, und ging hinaus und weinte bitterlich.

Jacob Lindemann schrieb die beiden Bibelstellen auf die erste Seite seines Testaments und fügte fast unleserlich die letzte Notiz seines Lebens an: Für die Predigt bei meiner Beerdigung. Er schloss sein Testament – und weinte bitterlich.

In der Küche pfiff der Teekessel. Lindemann schleppte sich zurück und griff nach dem Schalter am Herd. Dann durchfuhr ihn ein Schmerz wie ein Blitz, genau durch die Mitte seines Körpers. Der Teekessel pfiff die ganze Nacht hindurch, bis das Wasser verdunstet war und der Sturm vor dem Fenster sich gelegt hatte. Der Briefträger fand Jacob Lindemann am Morgen tot in seiner Küche liegen. Es war der 8. November 1985.

Das kleine blonde Mädchen, das nach der Beerdigung des Großvaters auf dem braunen Liegesessel herumturnte, summte etwas vor sich hin.

»Was singst du denn Schönes?«, fragte ihr Onkel Hans.

»Von der Mühle am rauschenden Bach«, sagte das Mädchen, »das hat der Opa immer mit mir gesungen.«

»Na siehst du, hattest doch einen lieben Opa.«

Hans Lindemann öffnete ein Fotoalbum, das er aus dem Arbeitszimmer seines Vaters geholt hatte, und begann darin zu blättern. Er entdeckte alte, teilweise vergilbte Schwarz-Weiß-Bilder aus einer Zeit, an die er sich selbst nur noch wie durch einen Schleier blickend erinnern konnte. Auf einem Foto sah man den Vater unter zwölf entschlossen dreinblickenden Männern stehen. Darunter stand GZEDÜ – Oktober 1936. Auf einem anderen Bild, Weihnachten 1940, sah man die Eltern mit den vier Kindern der Familie – Hans, Hilde, Hartmut und Sophie. Nur drei von ihnen hatten die NS-Zeit überlebt.

»Unsere Sophie«, nuschelte Hans Lindemann und schloss die Augen. Dann schlug er das Album zu.

Als er den Raum verließ, nahm seine Nichte das Büchlein und blätterte sich Seite für Seite durch das Leben ihres Großvaters. Jedes dieser Bilder brannte sich so fest in ihr Gedächtnis ein wie der modrige Geruch des olivgrünen Sofas und der leiernde Klang des schwarzen Klaviers in Großvaters Stube.

Das Haus wurde verkauft und lebte als Ort der Erinnerung fort. Jacob Lindemann hatte beide Weltkriege miterlebt. Er war Pfarrer, Theologe, Soldat, Lehrer und Waldarbeiter gewesen. Im Laufe seines Lebens hatte er mehrere Bücher geschrieben, die nach seinem Tode allesamt vernichtet wurden, weil seine Kinder sich für den Inhalt schämten. Sein dunkelstes Geheimnis aber nahm er mit ins Grab. Es sollte erst zwei Generationen später aufgedeckt werden.

2

»Ich lese nicht mehr.« Sabina Lindemann legte ihr Besteck auf den Tellerrand und nahm einen Schluck Rotwein.

»Lesen?«, fragte Simon.

»Das mit den Buchstaben unter den Videos«, sagte Sabina. »Früher gab’s das auf Papier, so geschichtenweise, hatt ich ganz gern.«

»Ach, diese Kulturtechnik aus dem letzten Jahrtausend«, sagte er.

»Krass, oder?«

»Ja«, sagte er. »Nur, wann soll ich lesen? Tagsüber hab ich keine Zeit, abends bin ich zu müde und im Urlaub lassen mich die Kinder nicht. Hab eigentlich immer gern gelesen.« Er drehte sich etwas Pfeffer über sein Steak.

»Ich hab es geliebt«, sagte Sabina, »aber in letzter Zeit ist es mir abhandengekommen.«

»Lesen ist total asozial – macht man nur für sich, teilt man nicht, bekommt man keine Likes dafür.« Simon grinste.

»Ich muss es wieder tun«, sagte Sabina. »Du hast alle Gründe dafür genannt.«

Sie prosteten sich zu im sicheren Wissen, dass sie bei tieferer Analyse der Thematik ein zutiefst deprimierendes, kulturpessimistisches Fazit gezogen hätten. Aber traf man sich per Dating-App, um über den Untergang des Abendlandes und seiner Schriftkultur zu diskutieren?

»Dass du Yoga und Kickboxen magst, weiß ich ja aus deinem Profil, aber was machst du eigentlich beruflich?«, fragte er. Sie hatten beide keinen Beruf angegeben.

»Es hat mit Sex zu tun«, sagte Sabina.

»Nein«, sagte Simon, »sind wir hier bei Pretty Woman

»Du denkst, ich bin eine Hure?«, sagte sie, gespielt aufgebracht.

»Nein«, beschwichtigte er. »Telefonsex?«

Sie ließ ihn noch kurz zappeln.

»Ich bin Sexualtherapeutin.«

Er atmete durch. »Das ist ja mal ein Job.«

Sie konnte hören, wie es in seinem Hirn ratterte. Es reizte ihn, verunsicherte ihn aber auch.

»Man hört dabei viele Geschichten«, sagte sie.

»Vielleicht brauchst du deswegen keine Bücher mehr.«

»Kann sein.«

»Und wer kommt da so?«

»In die Therapie? Vor allem Paare.«

»Alte? Junge?«

»Zwischen achtzehn und achtzig, Peak bei dreißig bis Mitte fünfzig.«

»Kommen auch welche allein?«

»Ja, so Typen wie du.« Sie lachte. »Nein, schon mehr Paare.«

»Und warum kommen sie?«

»Meistens, weil der Mann will und die Frau nicht. Oder weil die Frau will, aber der Mann nicht kann.«

»Ist beides irgendwie blöd.«

»Klar – und dann muss man eben reden. Eigentlich geht es immer um Kommunikation.«

»Immer?«, fragte er.

»Immer«, sagte sie.

»Auch bei Erektionsstörungen?«, fragte er.

»Auch bei Erektionsstörungen«, sagte sie.

»Na ja, das …«

»Hattest du noch nie, schon klar«, prustete Sabina.

Männer mussten ein Selbstbild haben, das mit sexueller Potenz und Großartigkeit einherging. Genau darin lag bisweilen das Problem.

»Und die Frauen, warum kommen die zu dir?« Simon war interessiert.

»Weil sie keine Lust empfinden und keine Leidenschaft spüren. Weil sie sich nicht berühren lassen wollen. Mit ’nem Orgasmus ist es dann natürlich auch nix.«

»Und wie bringt man jemandem einen Orgasmus bei?«, fragte er. Seine braunen Augen blitzten.

»Du kannst es mir gerne mal zeigen«, feuerte Sabina zurück.

Am Horizont der Möglichkeiten zeichnete sich in verlockender Form der weitere Verlauf des Abends ab. Simon grinste.

»Ich bin wirklich froh, dass ich diese App runtergeladen hab. Und dass jemand wie du dabei war …«

»Ich hab solche Paarungsprogramme immer gehasst«, sagte sie.

»Aus irgendeinem Grund hast du dich aber angemeldet.«

»Na, weil ich in meinem Dorf niemand kennenlerne. Und was hat dich dazu gebracht?«

»Das ist eine längere Geschichte.«

»Du siehst ein Gegenüber, das jede Menge Zeit hat«, sagte Sabina und legte lächelnd ihre muschelförmig geöffnete Hand ans Ohr.

Simon schüttelte fast unmerklich den Kopf. Für einen kurzen Moment huschte ein Ausdruck der Trauer über sein Gesicht. Er gab manches preis, aber nicht alles. Er war offen, aber nicht leichtfertig. Sabina war sich sicher, dass er eine problematische Beziehung geführt hatte oder sie noch führte. War das nicht sogar ein Ehering an seinem Finger? Sie wollte nicht bohren. Nicht, nachdem sich das Gespräch so gut angelassen hatte.

»Und du, was machst du beruflich? Lass mich raten: Du bist Zahnarzt!«

»Zahnarzt, warum denn das?«, fragte er, die Traurigkeit war wieder aus seinen Zügen gewichen.

»Weiß auch nicht. Gut aussehend, trainiert, selbstbewusst. Passt zu den Zahnärzten, die ich kenne.«

Er strich sich durch seine dunkelbraunen Haare und sah ihr direkt in die Augen. »Ich fürchte, jetzt kommt ein Downer«, sagte er, um fast entschuldigend anzufügen: »Ich bin Polizist.«

»Nein«, sagte sie. »Streife, Kripo?«

»Morde, organisierte Kriminalität, solche Sachen.«

»Und – ist es interessant?«

»Es gibt spannende Wochen und es gibt weniger spannende.«

»Also ich hab mich bei der Polizei am Ende nur noch gelangweilt.«

»Du hast … hä?«

»Ich war auch Polizistin. Das ist schon ein paar Jahre her.«

»Du warst …« Er stockte. »Moment mal, Sabina Lindemann.«

Sie nickte, er strich sich übers Kinn.

»Du warst die Ermittlerin, die bei dieser Mordserie in Graubünden damals fast ums Leben gekommen wäre. Diese Kultmorde, mit diesem Mi… Ma…«

»Mithraskult«, ergänzte Sabina. »Ja, das war ich.«

»Und wie hast du das gepackt?«

»Erst ging’s mir schlecht. Und als es mir dann wieder gut ging, wurde mir die Arbeit zu langweilig.«

»Zu wenig Herausforderung?«

»Kann man so sagen. Graubünden ist wirklich idyllisch. Aber genau deswegen bringen sich die Leute da normalerweise auch nicht um. Und der ganze Dreck, den dieses Land hier zweifellos am Stecken hat, der hängt auch nicht überm Bündner Kuhzaun. Graubünden ist eine tolle Region – aber nicht um im Spezialdienst für Morde zu sein. Es gibt einfach keine.«

»Aber schön ist es bei euch.«

»Natürlich ist es schön, abartig schön sogar. Ich liebe auch mein Donat. Nur gibt’s da halt keine Männer für mich.«

»Und in Chur?«

»Jede Menge Sex – beruflich.«

»Hast du mal daran gedacht, nach Zürich oder so zu gehen? Oder nach Luzern?« Er lächelte auffordernd.

»Zürich? Nein danke. Da war ich vor Graubünden. Und in Deutschland wollte ich auch nicht bleiben. Über Luzern können wir reden.«

»Moment, Deutschland?«

»Ich bin halbe Deutsche. Hab da auch studiert. Bevor ich zur Polizei bin, hab ich’s bis zur Zwischenprüfung geschafft. Vor drei Jahren hab ich dann den Abschluss gemacht.«

»Und wo?«

»In Heidelberg.«

»Polizistin, Psychologin und dann auch noch Deutsche. Du wirst immer interessanter.«

»Was ist denn daran interessant, deutsch zu sein?«

»Na ja, vielleicht sind es eher deine Augen, die ich interessant finde.«

Mit ihren türkisfarbenen Augen hatte Sabina die Männer schon immer in ihren Bann gezogen. Und auch die blonden Haare funktionierten bei den meisten.

Dieser hier hatte Charme. Er hatte Witz. Er sah blendend aus. Für Sabina bestand kein Zweifel daran, dass die Konversation im Bett enden würde.

»Diese Geschichte damals in Graubünden, wie ging die eigentlich weiter?«, fragte Simon.

»Ganz ehrlich, ich möchte nicht mehr drüber reden. Ich hab das hinter mir gelassen. Lange schon.«

»Versteh ich«, sagte Simon.

Er akzeptierte ihre Grenze. War interessiert, aber nicht aufdringlich. Agierte gewitzt, bisweilen forsch – und trug doch auch etwas Melancholisches in seinem Gesicht. Warum hatte er sich zu dieser App angemeldet? Hatte er nicht vorher etwas von Kindern gesagt?

»Du hast keine Kinder, oder?«, fragte er, als ob sich ihre Gedanken berührt hätten.

»Nein«, sagte Sabina. »Es hat sich nie ergeben – und jetzt bin ich schon neununddreißig. Aber du hast welche. Wie alt sind sie?«

»Fiona ist fünf, Maurice ist acht.«

»Und warum dann nicht happy family? Das ist doch ein Ehering, oder?« Sie sah auf seine linke Hand.

Er blickte nach unten. »Darüber möchte ich gerade nicht reden. Okay für dich?«

Er setzte eine Grenze. Warum sollte er ihr auch gleich beim ersten Date seine ganze Geschichte erzählen? Sie konnten ja erst mal vögeln. Sie bestellte noch ein Glas Wein und freute sich aufs Dessert. Keine Frage, der Weg nach Luzern hatte sich gelohnt.

3

David Philipp Feldmann stand auf der Terrasse seines Anwesens in Meggen bei Luzern. Die Gäste waren alle gegangen, seine Frau hatte sich schon in den Schlaftrakt am anderen Ende der Villa zurückgezogen. Die Gespräche waren gut verlaufen und auch das abendliche Dinner samt dem anschließenden Beisammensein im Wellnessbereich hatte seinen Zweck nicht verfehlt. Feldmann war oft geschäftlich unterwegs und so liebte er es, wenn er zu Hause war, nachts allein auf der Terrasse am See zu sitzen.

Er ging hinein und holte sich eine Zigarre und ein Glas Whiskey. Behutsam drehte er die Zigarre zwischen Daumen und Zeigefinger und toastete sie mit dem Feuerzeug. Dann nahm er einige Züge, bis sie ordentlich rauchte. Er legte seinen Kopf zurück und blickte zum Himmel. Vom Ufer her hörte er das Plätschern der Wellen, über sich sah er eine Sinfonie aus Sternen. Wie gut war dieser Ort. Wie still. Wie diskret. Er liebte die Schweiz. Ihre atemberaubende Schönheit und ihre wohltuende Diskretion.

Von hier aus ließen sich problemlos Geschäfte in aller Welt einfädeln – und niemand stellte lästige Fragen. Auch seiner russischen Frau, die er beim Skifahren in St. Moritz kennengelernt hatte, gefiel es. Feldmann legte die Zigarre ab und nippte an seinem Whiskey. Er stellte den Kragen seines Bademantels auf und streckte seinen Oberkörper durch, als er plötzlich einen Schlag im Nacken spürte. Besinnungslos sank er in sich zusammen. Den Nadelstich der Spritze, die ihm verabreicht wurde, spürte er schon nicht mehr.

Zwei Männer ergriffen seinen Körper und schleppten ihn über eine lange Treppe hinab zum Ufer des Vierwaldstätter Sees. Hier lag an einer privaten Anlegestelle in einer künstlich geschaffenen Bucht Feldmanns Boot. Sein Anwesen war komplett von einer Mauer umgeben. Zum See hin trennte ein Stahltor direkt über dem Wasser die Bucht vom offenen See. Das Tor öffnete sich. Ein kleines Boot, in dem zwei Gestalten saßen, ruderte zur Anlegestelle. Gemeinsam mit den Eindringlingen, die schon auf dem Grundstück waren, hievten sie Feldmanns Körper in das Boot. Zu viert ruderten sie auf den Vierwaldstätter See hinaus. Als sie weit genug vom Anwesen entfernt waren, zündeten sie den Motor und fuhren über die schwärzlich wabernde Spiegelfläche zur gegenüberliegenden Anlegestelle.

Dort angekommen, führten sie im Schutz der Dunkelheit ihren Plan aus. Gegen vier Uhr früh verließen sie die Halbinsel Tribschen, die um diese Uhrzeit völlig menschenverlassen neben dem Luzerner Segelklub lag.

4

Jeden Morgen vor der Arbeit drehte Martin Jäger seine Runde am Vierwaldstätter See. Die Sonne ruhte noch hinter den Bergen, die Stadt lag im Schlummer der Nacht. Von seiner Wohnung aus lief er durch die menschenleere Altstadt, joggte über die Kapellbrücke und nahm den Weg vorbei am Bahnhof zum Kultur- und Kongresszentrum. Über eine lange Fußgängerbrücke führte die Strecke am Bootshafen entlang zur Ufschötti, einem Strandstück mit angrenzendem Park. Hier nächtigten die Schwäne, Enten und Gänse. Es roch nach Algen und frischer Luft. Jäger atmete tief ein.

Die Berge lagen als grau-schwarze Silhouetten hinter dem See. Auf den Wellen spiegelten sich erste Schimmer von Gold und Orange. Jäger lief an der Uferpromenade entlang zum Segelklub Tribschenhorn und nahm den kurzen Anstieg hinauf zur Halbinsel Tribschen. Sein linker Oberschenkelmuskel verhärtete sich etwas, doch er behielt seinen Rhythmus bei. Er passierte die mit Moos überzogenen Felsen und erreichte schließlich den kleinen Park, in dessen Mitte erhaben über dem See das frei stehende Patrizierhaus stand, in dem einst Richard Wagner residiert hatte.

Jäger trabte zur Terrasse, wo er stets seine Dehnübungen machte. Dann blieb er abrupt stehen. Zwischen zwei himmelwärts strebenden Pappeln, welche die Terrasse des dreistöckigen Hauses flankierten, hing in etwa fünf Meter Höhe ein leblos wirkender Körper. Männlich, nackt, voller Blut. War das ein Mensch? Ein Kunstobjekt? Der Teil eines Bühnenbilds?

Vor der Silhouette der schlafenden Berge und dem sich mit erstem Morgenlicht tränkenden Horizont wirkte dieser Anblick wie das Szenenbild aus einer Wagner-Oper. Der Körper war an beiden Armen mit je einem stramm gespannten Seil fixiert. Er hing da wie gekreuzigt. Und er war echt.

Sosehr es ihn auch schauderte, instinktiv zückte Jäger sein Smartphone. Hatten sie nicht erst neulich darüber diskutiert, wie schnell sich Videos heutzutage verbreiteten? Die Szenerie bot eine einmalige Möglichkeit, das auszuprobieren. Er schien der Erste zu sein, der dieses unfassbare Bild entdeckt hatte. Der Mann, der da hing, war offensichtlich tot. Helfen konnte man ihm nicht mehr. Was sprach dagegen, diese Entdeckung zu posten?

Jäger ging einige Schritte zurück und filmte zunächst den Himmel und die Berge. Dann schwenkte er zum Richard-Wagner-Haus. Filmte die Villa und die schlanken, hohen Pappeln. Das Seil, das zwischen ihnen gespannt war. Den Körper, der da leblos hing, gehalten von der Stärke der Seile. Jäger drückte auf Stopp und sah sich das Video an. Dann lud er es mit dem Wort Unglaublich! auf seinen Facebook-Account hoch.

Just als der Ladebalken Vollstreckung meldete, befiel Jäger ein mulmiges Gefühl. Müsste er nicht eigentlich die Polizei rufen? War es vielleicht etwas voreilig gewesen, diese Entdeckung gleich zu posten? Sollte er das Video wieder löschen? Er steckte das Smartphone ein und lief zurück nach Luzern. Unterwegs begegneten ihm mehrere Jogger, gegen halb sechs kam er zu Hause an.

Nachdem er geduscht hatte, machte er sich einen Kaffee und schaute sich das Video an. Bis dahin war es bereits achtmal geteilt und zweimal heruntergeladen worden. Eine halbe Stunde später hatten sechsundvierzig Menschen das Video gesehen und vierzehn weitere es geteilt. Ab diesem Zeitpunkt verbreitete es sich rasend.

Gegen 6:30 Uhr läutete Simons Telefon. Ein Mord, direkt vor dem Wagnerhaus in Tribschen. Sabina räkelte sich im Bett und ließ per Schalter die Jalousien des Hotelzimmers hoch. Die Sonne strahlte.

»Na super«, sagte sie, »da denkt man einmal, man hat ’nen Treffer gelandet, und dann isses ein Bulle, der morgens um halb sieben zum Mord muss.«

»Sorry, ich find’s auch scheiße, aber ich muss halt hin.«

»Ist mir schon klar.«

Er überlegte kurz. »Komm doch einfach mit.«

Sabina strich sich durch die Haare. »Als Psychologin oder wie?«

»Ja«, sagte Simon, »das bekomm ich schon hin.«

»Und da wird sich keiner wundern, dass du morgens um sieben mit so ’ner blonden Tussi ankommst?«

»Ich sag halt, dass du zu Besuch bist. Oder möchtest du lieber weiterschlafen?«

»Jetzt bin ich eh schon wach. Ich geh mit.«

»Na dann.«

Sabina machte sich im Bad zurecht. Simon wartete, bis sie fertig war. Der Morgen nach der ersten Nacht hatte immer etwas Verschämtes. Die Geräusche im Bad wollten verborgen bleiben, die Gerüche sich verstecken. Nichts von dem, was weintrunken in der Nacht zuvor noch so spielerisch ineinandergefunden hatte, war jetzt noch selbstverständlich. Sabina nahm dem Ganzen ein wenig der Verkrampfung, indem sie Simon ein unverblümtes »Erst mal was ablassen, hm?« hinwarf, als sie das Bad verließ.

Sie fuhren mit Simons Wagen Richtung Neustadt.

»Habt ihr viele Morde hier?«, fragte Sabina.

»Letztes Jahr hatten wir genau einen«, sagte er. »Hier gibt’s eher Wirtschaftsdelikte und dezent organisierte Kriminalität. Kaum offene Gewalt. Unsere Schweiz halt.«

»Ich bin total aufgeregt«, sagte sie.

»Echt jetzt?«, fragte Simon und bog nach dem Eiszentrum links ab.

»Ja, es fühlt sich komisch an.«

Durch einen kleinen Park gelangten sie zum Richard-Wagner-Museum.

»Das ist ja fantastisch«, entfuhr es Sabina, als sie sich dem weiträumig abgesperrten Haus von der Rückseite her näherten. Tatsächlich lag das ehemalige Wohnhaus des deutschen Komponisten fast kitschig auf einem grünen Hügel über dem Vierwaldstätter See. Außer den Absperrbändern und den Polizeiwagen deutete nichts darauf hin, was hier passiert war.

Simon kannte den Kollegen, der den Zugang bewachte, und erklärte ihm, dass Sabina als polizeigeschulte Psychologin Zutritt erhalten solle. Sie sei gerade zu einer Fortbildung hier, er halte es für sinnvoll, dass sie sich ein Bild vom Tatort mache. Wie erwartet, stellte das kein Problem dar. Sie zogen die Schutzkleidung an und näherten sich dem dreistöckigen weißen Herrenhaus mit den grünen Fensterläden von der Seeseite her. Flankiert von zwei riesigen, schlank sich gen Himmel ragenden Pappeln stand es da wie eine Festung. Weit dahinter lag der Pilatus, Luzerns charismatischer Hausberg. Im Näherkommen erkannte Sabina, dass zwischen den Bäumen ein Seil gespannt war, an dem ein Körper hing. Sie blickte zu Simon, der ebenfalls zwischen Fassungslosigkeit und Neugier zu schwanken schien. Zielstrebig steuerten sie auf die Terrasse zu.

»Unglaublich«, sagte Simon, als er unter dem Leichnam stand, der da in rund fünf Meter Höhe wie ein Gekreuzigter hing.

Die Kollegen vom Kriminaltechnischen Dienst hatten längst damit begonnen, die Gegenstände zu fotografieren und einzusammeln, die auf der Terrasse und der umliegenden Wiese lagen. Sie tüteten Zigarettenstummel und Bonbonpapiere ein und dokumentierten die wenigen Fundstücke. Die Schweiz war ein sehr reinliches Land, Luzern eine saubere Stadt – zumal hier, an einem touristischen Hotspot. Sabina machte Fotos, so wie sie es auch früher stets gehandhabt hatte. Sie war tatsächlich wieder an einem Tatort, nach sieben Jahren. Zu ihrer Überraschung fühlte es sich gut an, wieder Ermittlerluft zu schnuppern. Als ob ein Schalter gedrückt worden wäre, der nur eine Zeit lang auf Stand-by gestanden hatte.

Auf dem See brachten sich Schaulustige in Stellung, um das Treiben zu filmen. Die Polizei ließ drei Boote vorfahren und sicherte das Ufer, um ein weiteres Anfertigen von Bildern zu verhindern. Nachdem der Nahbereich des Fundorts minutiös dokumentiert worden war, gingen die Beamten mit Unterstützung der Feuerwehr daran, den Leichnam zu bergen. Mit zwei Feuerwehrleitern gelangten sie zu den Stellen, an denen die Seile befestigt waren. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Spanngurte. An den Stämmen der Pappeln entdeckten die Ermittler Spuren von Steighilfen. Nachdem die Feuerwehrleute den Leichnam geborgen hatten, legten sie ihn zur weiteren Untersuchung in ein eigens errichtetes Zelt.

Erst dort erkannte Sabina das eingeritzte Zeichen auf dem Bauch des Mannes. Es war ein blutiges Z, umrandet von einem Kreis, etwa tellergroß. Ihr Herz raste. Erinnerungen an ihre eigene Entführung flackerten auf. Sie war damals selbst geritzt worden. Es hatte Wochen gedauert, bis allein die körperlichen Wunden verheilt gewesen waren.

Sie beugte sich über den Toten. Ein grauhaariger Mann, schlank, mit klar definierten Proportionen. Auf den ersten Blick wirkte er eher wohlhabend, worauf nicht zuletzt die Ringe an seinen Fingern hindeuteten. Ein Raubmord schied offenbar aus und erschien angesichts des Fundorts und der Umstände auch wenig plausibel.

»Kennt jemand den Mann?«, frage Simon in die Runde.

»Irgendwie ein Gesicht, das man schon mal gesehen hat, aber ich kann es nicht zuordnen«, sagte Reto Knoblauch, der leitende Kollege vom Kriminaltechnischen Dienst. »In dem Haus wohnt wohl oben jemand. Ich weiß nicht, ob er das ist. Die Stadt hat jemanden geschickt, der das Museum öffnet, normalerweise machen die erst um zehn auf.«

»Das Museum bleibt sicher ’ne Weile geschlossen«, sagte Simon. »Bitte macht ein Bild des Toten und gebt es an die Zentrale durch, die sollen eruieren, wer das ist.«

»Schon geschehen«, sagte Knoblauch.

Simon ging gemeinsam mit Sabina zum Hauseingang, wo bereits ein älterer Herr mit einem Schlüsselbund auf sie wartete.

»Arnold vom Ermittlungsdienst 1«, sagte Simon und schüttelte dem Mann die Hand.

»Werner von der Stadt Luzern, ich sperr Ihnen auf.«

Simon ging mit zwei weiteren Polizisten ins Haus und sah sich um. Rechts von der Eingangstür war der Empfang, »Wagners ehemaliges Schlafzimmer«, wie der städtische Bedienstete anmerkte. Es standen einige CDs und Bücher zum Verkauf bereit. Simon ließ den Blick schweifen und durchschritt aufmerksam die Räume im Erdgeschoss. Sabina folgte ihm schweigend. Im Museum wurden Fotos, Gemälde, Möbel und Schriftstücke von Richard Wagner ausgestellt.

»Kennst du dich mit Wagner aus?«, fragte Simon.

»Nur oberflächlich«, sagte Sabina. »Ring des Nibelungen, Bayreuther Festspiele, Frauenheld, Judenhasser.«

Simon blickte auf. »Judenhasser?«

»Hab ich mal irgendwo gelesen. Deswegen war er später hoch im Kurs bei den Nazis.«

Simon überlegte. »Das Zeichen auf dem Bauch des Toten, für was hältst du das?«

»Ein Z in einem Kreis« sagte Sabina.

»Z wie Zion?«, fragte Simon.

»Möglich.«

»Also ein antisemitischer Hintergrund?«

»Ein Z ritzt man jemandem zumindest nicht in den Bauch, ohne damit etwas aussagen zu wollen«, sagte Sabina. »Wir sollten herausfinden, wer das da draußen ist.«

Gegen 9:30 Uhr kam der junge Mann, der den Empfang im Museum besetzte.

»Grüezi«, sagte Simon, »Sie sind?«

»Eric Schweizer«, sagte der Mann, »ich arbeite im Museum.«

»Herr Schweizer, waren Sie gestern auch da?«

»Ja, ich bin eigentlich immer da, wenn ich nicht krank bin.«

»Und ist Ihnen etwas aufgefallen, gestern, in den letzten Tagen oder vielleicht auch schon vor Wochen?«

»Was soll mir aufgefallen sein?«

»Auffällige Menschen, irgendwelche Personenbewegungen, Leute, die sich hier besonders interessiert umgeschaut haben?«

Der junge Mann lachte. »Na ja, es schauen sich eigentlich alle interessiert um, es ist ja ein Museum.«

»Sie wissen, dass hier jemand abscheulich ermordet wurde?«

»Eine Leiche draußen auf der Terrasse, habe ich gehört«, sagte der Museumsangestellte. »Aber ich durfte da nicht hin, bin gleich reingekommen.«

»Da draußen ist eine Leiche, richtig«, sagte Simon. »Aber sie lag nicht einfach irgendwo im Busch, sondern hing in fünf Meter Höhe zwischen den Bäumen.«

Simon zeigte nach Osten zum Ende des Hauses. Schweizer schluckte.

»Ja, da muss man erst mal schlucken, finde ich auch«, sagte Simon. »Also, können Sie sich an irgendetwas Auffälliges erinnern?«

Schweizer überlegte. »Was Auffälliges? Gott, hier laufen schon schräge Gestalten durch. Chinesen, Japaner, Amis, Araber, natürlich auch viele Deutsche. Aber dass mir jetzt wirklich jemand aufgefallen wäre, der einen Mord plant … Also ich weiß nicht.«

»Das Museum wird nicht videoüberwacht?«

»Nein«, sagte der Mann, »man kann eigentlich nichts klauen. Also wenn jemand den Flügel rausträgt, dann merken wir das schon.«

»Kommen Sie mal mit«, sagte Simon, dem die Schabernacklaune des Museumsmitarbeiters auf die Nerven ging.

Er führte ihn zu dem Zelt, in dem noch immer der Leichnam lag, der bald in die Gerichtsmedizin befördert werden würde.

»Kennen Sie den Mann?«, fragte Simon. »Haben Sie ihn schon mal hier gesehen?«

Schweizer näherte sich dem Toten, dessen Geschlecht man mit einem Tuch abgedeckt hatte. Er beugte sich tiefer über den Mann. »Also hier habe ich den noch nicht gesehen. Aber ich glaube, ich kenne ihn aus der Zeitung. So ein Wirtschaftstyp. Hab ich erst dieser Tage was drüber gelesen, es ging um irgendeine Sauerei mit Giftmüll in Afrika.«

»Sie lesen den Wirtschaftsteil der Zeitung und merken sich solche Sachen?«, fragte Simon.

»Ich lese alles in der Zeitung und merke mir viel. Es ist nicht jeden Tag so viel los hier.«

»Er hat recht«, sagte Reto Knoblauch, der eine Nachricht bekommen hatte. »Die Kollegen von der Wirtschaft haben den Toten anhand des Bildes identifiziert. Der Mann heißt David Philipp Feldmann, er ist der Gründer und Inhaber von Portargo, einer der größten Rohstoffhandelsfirmen der Welt mit Sitz in Luzern. Sein Anwesen liegt in Meggen am anderen Seeufer. Multimillionär, eher Milliardär, in dritter Ehe verheiratet mit einer jungen Russin. Aktuell in einen Giftmüllskandal verwickelt. Hier ist die Nachricht von Lustenberger.« Knoblauch reichte Simon sein Smartphone.

»Ist der Mann Jude?«, wollte Simon wissen.

»Keine Ahnung, wieso?«

»Irgendwas muss das Z ja bedeuten – und Zion beginnt zumindest mal mit dem richtigen Buchstaben.«

Während Simon den Museumsmitarbeiter weiter nach besonderen Beobachtungen befragte und sich ein Bild vom Tagesverlauf im Richard-Wagner-Museum machte, erkundete Sabina das weitere Umfeld des Gebäudes. Die Täter mussten mit dem Boot oder über die kleine Straße durch den Park gekommen sein. In beiden Fällen war es möglich, dass jemand sie beobachtet hatte. Allerdings lag die Halbinsel eher abgeschieden von den Wohngebieten der nahen Neustadt. Im Grunde der perfekte Platz für eine derartige Inszenierung.

Sabina ging zum See, an dem sich eine offizielle Anlegestelle und ein verschlossener Bootsschuppen befanden. Es roch nach Algen und abgestandenem Seewasser. Der frische Wind verstärkte das Gefühl, am Meer zu sein. Die Leute vom Kriminaltechnischen Dienst dokumentierten weiter Quadratmeter für Quadratmeter, was sie auf dem weitläufigen Gelände um das Museum fanden. Die Spezialistin für Fußabdrücke suchte nach verwertbaren Spuren. Sabina ging den Uferweg entlang Richtung Jachthafen.

Hier versperrten imposante Felsen den Blick auf das Haus. Laternen deuteten darauf hin, dass der Weg nachts wohl beleuchtet war. Eher unwahrscheinlich, dass die Täter sich über diesen steilen Zugang dem Anwesen genähert hatten. Die Felsen waren voller faszinierender Strukturen. Hier hatte Richard Wagner also einst Inspiration gesucht – und sicher auch gefunden. Mit ein bisschen Fantasie konnte man sich gut vorstellen, dass hier Elfen und Zwerge zu Hause waren oder auch Walküren und Helden. Der Platz war heute nicht minder beeindruckend, als er es mutmaßlich vor hundertfünfzig Jahren gewesen war.

Sabina hatte Lust darauf, sich näher mit Wagner zu beschäftigen. Während Simon die Ermittlungen vorantreiben musste, hatte sie alle Freiheiten, den Fall aus einem erweiterten Blickwinkel zu betrachten. Sie stand nicht unter Ermittlungsdruck und die Therapiestunden, die für Anfang nächster Woche in ihrem Terminkalender notiert waren, konnte sie sicher um ein paar Tage verschieben. Sie hatte Lust, sich in den Fall einzubringen. Noch mehr Lust aber hatte sie darauf, diesen Mann näher kennenzulernen, der sie hierhergebracht hatte. Sie hatte sich lange nicht mehr so leichtgängig unterhalten. Und sie hatte schon lang keinen so guten Sex mehr gehabt.

Simon hatte inzwischen herausgefunden, dass das Opfer tatsächlich Jude war. Die Mieter der Wohnung über dem Museum waren laut Schweizers Aussage im Urlaub, kamen also als Zeugen und wohl auch als Täter nicht infrage. Die nächsten Anwohner lebten mehrere Hundert Meter entfernt, hinter dem Strandbad. Kaum anzunehmen, dass jemand etwas beobachtet hatte. Befragen musste man sie trotzdem. Zunächst, das war klar, würde Simon sich mit seinem Kollegen Timo Gerber um die Frau des Ermordeten kümmern, Swetlana Feldmann.

»Ich fahr jetzt zur Frau des Toten nach Meggen«, sagte Simon, als Sabina und er wieder vor der Terrasse standen. »Wollen wir uns heute Abend treffen oder musst du zurück nach Graubünden?«

»Ich bleib noch«, sagte Sabina. »Lauf dann am See zurück. Melde dich gern heut Abend!«

Ein Kuss erschien unter den gegebenen Umständen unpassend. Sie fassten sich kurz am Arm und ließen dann voneinander ab.

Sabina ging zurück ins Museum und nahm sich Zeit für die Ausstellungsstücke. Auf den meisten Gemälden und Fotos war Richard Wagner selbst zu sehen – ein charismatischer Mann, der sicher eine starke Wirkung auf Menschen gehabt hatte. Auch seine Frau Cosima, die Tochter von Franz Liszt, tauchte immer wieder auf. Zunächst auf Fotos mit ihrem ersten Ehemann, Hans von Bülow. Dann an der Seite Wagners. Wagner hatte seinem besten Freund die Frau ausgespannt und sie schließlich 1870 geheiratet. Bereits 1866 war er mit ihr in das Haus am Vierwaldstätter See gezogen. Man konnte sich anhand der Bilder gut vorstellen, dass dieser energetisch wirkende Künstler Männer und Frauen gleichermaßen für sich hatte einnehmen können. Auch König Ludwig II. war ein großer Bewunderer und Gönner Wagners gewesen. Der bayerische König hatte dem Komponisten dessen angehäufte Schulden bezahlt und letztlich auch den Bau eines eigenen Wagner-Festspielhauses in Bayreuth mitfinanziert. So war Wagner bis heute der einzige Komponist weltweit, der ein eigenes Festspielhaus nur für seine Werke bekommen hatte. Von 1866 bis 1871 hatte er in Tribschen gelebt, die Miete für das stattliche Haus hatte ihm ebenfalls der Märchenkönig bezahlt. In Tribschen, an dem Flügel, vor dem Sabina gerade stand, hatte Wagner auch Teile seines Hauptwerks komponiert, das 1876 als Der Ring des Nibelungen in Bayreuth uraufgeführt worden war. Über zwanzig Mal hatte der Komponist hier Besuch von Friedrich Nietzsche bekommen, der zu jener Zeit ein glühender Verehrer von Wagners Kunst und von dessen Frau Cosima gewesen war. Schon während seiner Lebzeit, vor allem aber nach Wagners Tod im Jahre 1883, hatte Cosima die Vermarktung des Komponisten vorangetrieben und einen Kult um Wagner inszeniert, der bis heute Scharen von Verehrern nach sich zog. Stand nicht jedes Jahr die deutsche Politprominenz bei den Bayreuther Wagner-Festspielen im Rampenlicht? Der Hype um Wagner schien ungebrochen.

Sabina ging in den ersten Stock und hörte sich einige Ouvertüren aus dem Ring des Nibelungen an, der aus vier Teilen bestand: dem Rheingold, das als Vorabend konzipiert war, der Walküre, die auch als erster Tag des Rings bezeichnet wurde, sowie dem Siegfried und der Götterdämmerung, die am zweiten und dritten Tag aufgeführt wurden. Sie schloss ihre Augen und ließ sich von den opulenten Orchesterklängen davontreiben. Über sechzehn Stunden hatte die Aufführung des ersten Rings 1876 gedauert, mehr als hundert Orchestermusiker und vierunddreißig Solisten hatte Wagner dafür beschäftigt.

Das Werk suchte in seiner Größensucht seinesgleichen und wurde bis heute ständig neu interpretiert und auf die Bühne gebracht. Keine Frage, Richard Wagner war einer der wirkmächtigsten Komponisten aller Zeiten gewesen.

Aber was hatte das mit dieser Leiche am Seil zu tun, die inzwischen abtransportiert worden war? Warum wählte jemand diesen Ort für die Zurschaustellung eines toten jüdischen Rohstoffhändlers aus? Sie war gespannt, was Simon bei der Frau des Ermordeten herausfinden würde.

5

Simon Arnold und sein Kollege Timo Gerber waren ein ungleiches Ermittlerteam. Während Simon aufgrund seines fabelhaften Aussehens und seiner direkten, charmanten Art zumeist schnell eine Brücke zu Menschen bauen konnte, war Gerber ein zurückhaltender, trockener Charakter. Seine kühlen blauen Augen inmitten eines fahlen, von Akne zerfurchten Gesichts hatten zwar stets alles im Blick, eine echte Beziehung zum Gegenüber bauten sie jedoch selten auf.

»Und diese Psychologin ist eine Freundin von dir?«

»Ja, sie ist gerade zu Besuch. Wir kennen uns von einem Seminar.«

»Und die hat um sieben in der Früh nix Besseres zu tun, als Tote zu begutachten?«

»Sie war mal Polizistin. Hat die Mithras-Morde in Graubünden damals aufgedeckt. Kannst du dich erinnern?«

»Mithras? Diese Höhlengeschichte? Verrückt.«

Der Wagen näherte sich Feldmanns Anwesen von oben.

»Und was, denkst du«, hakte Gerber nach, »kann diese Psychologin besser als wir?«

»Sie heißt Sabina, Sabina Lindemann«, erwiderte Simon, »und ich glaube nicht, dass sie etwas besser kann als wir – aber vielleicht anders.«

»Ich weiß schon, was sie besser kann«, sagte Gerber süffisant. Sein Humor war trocken, der Blick für das, was sich vor seinen Augen abspielte, scharf.

Die Polizisten fuhren vor der großen weißen Villa vor, in der David Philipp Feldmann gemeldet war. Eine unübersehbare weiße Mauer mit einem riesigen grauen Stahltor und einer blicksicheren Tür schützte das Anwesen. Videokameras überwachten den Eingang.

Simon klingelte und hielt seinen Polizeiausweis vor das elektronische Auge.

»Bitte?«, sagte eine barsche Frauenstimme durch die Sprechanlage.

»Simon Arnold und mein Kollege Timo Gerber von der Luzerner Polizei. Frau Feldmann?«

»Ja.«

»Wir müssen mit Ihnen sprechen, es geht um Ihren Mann.«

Ein Schalter wurde gedrückt, die Tür öffnete sich.

Das riesige Haus war eine sonderbare Architekturmelange aus dem, was in Immobilienkreisen toskanische Villa genannt wurde, und dem Weißen Haus in Washington.

»Protziges Ding«, sagte Simon.

»Kreuzhässlich«, pflichtete ihm Gerber bei.

In der Haustür stand eine etwa dreißigjährige Frau, rotbraune Haare, blasser Teint, mit rot bemalten Lippen in einem eleganten cremefarbenen Kostüm. Simon streckte ihr die Hand hin.

»Grüezi, Frau Feldmann, dürfen wir reinkommen?«

»Bitte«, sagte sie und zeigte an, wo sich die Garderobe befand. »Christina«, rief sie.

Eine Haushälterin, dem Aussehen nach Südamerikanerin, kam herbeigeeilt und nahm den Polizisten ihre Jacken ab.

Frau Feldmann bat sie in den Salon. Auf einem edlen Barocktisch stand eine Teegarnitur aus Porzellan. Sie setzte sich auf einen kunstvoll geschwungenen Stuhl und wies die Polizisten an, es ihr gleichzutun.

»Tee oder Kaffee?«

»Danke, nichts«, sagte Simon.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Frau Feldmann, wir haben Ihnen eine traurige Nachricht zu überbringen.«

Plötzlich änderte sich der Ausdruck der bis dahin sehr reserviert wirkenden Frau.

»Es geht um Ihren Mann, David Feldmann.«

Die Russin riss ihre blauen Augen weit auf.

»Er wurde ermordet. Wir haben seine Leiche am anderen Seeufer gefunden.«

Swetlana Feldmann nahm schweigend die Hände vors Gesicht und atmete tief durch. »Nein«, sagte sie dann, so als ob der Inhalt der Mitteilung ein schlichtes Missverständnis sein müsse. Zwischen ihren Augen bildete sich eine tiefe Furche. Gerber studierte das Schauspiel und wandte keine Sekunde den Blick von ihr ab.

»Doch, leider«, sagte Simon. »Wir müssen Sie bitten, später zur Bestätigung seiner Identität mitzukommen.«

Die Frau sah ihn mit trockenen Augen an. »Aber was ist denn passiert?«

»Das wissen wir noch nicht«, sagte Simon. »Aber er wurde ermordet, das können wir sicher sagen, es war kein Unfall.«

»Und wo?«

»Das wissen wir nicht. Gefunden haben wir ihn auf der anderen Seite des Sees.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Frau Feldmann, sind Sie imstande, uns einige Fragen zu beantworten?«

»Ja«, sagte sie und fasste sich an die Nase.

»Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal lebend gesehen?«

»Gestern Nacht. Wir hatten Geschäftspartner zu Besuch. Die sind um Mitternacht gegangen. Ich habe mich dann ins Schlafzimmer zurückgezogen. Mein Mann bleibt oft noch alleine wach.«

»Wer waren die Gäste?«

»Marco Schindler, der Co-Inhaber der Portargo, seine Frau Irina und zwei Geschäftspartner aus Südamerika mit ihren Begleiterinnen.«

»›Begleiterinnen‹?«

»Hostessen, denke ich.«

»Verstehe. Irgendwelche Namen?«

»Juan und Claudio. Die Frauen hab ich mir nicht gemerkt.«

»Und, verlief der Abend harmonisch?«

»Ja, es wurden Geschäfte angebahnt, die für die Firma sehr wichtig sind.«

»Was für Geschäfte?«

»Es ging um Lithium. Portargo steigt in Bolivien in dieses Geschäft ein.«

»Würden Sie einem der Anwesenden zutrauen, etwas mit dem Mord zu tun zu haben?«

»Ich wüsste nicht, warum. Marco ist wie ein Sohn für David und die Südamerikaner kannte er kaum. Im Übrigen wollen sie ja Geschäfte mit uns machen.«

»Sagen Sie, ist Ihr Haus videoüberwacht?«

»Ja, am Eingang, zu allen Seiten an der Mauer und unten am See. Aber fragen Sie mich nicht, wie das alles funktioniert.«

»Wir schicken gegebenenfalls jemanden vorbei, der sich das ansieht.«

»Bitte. Es geht schließlich um meinen Mann.«

»Und heute Morgen? Haben Sie sich nicht gewundert, dass er nicht da war?«

»Mein Mann ist oft unterwegs. Manchmal verlässt er nachts das Haus, wenn ich schon schlafe. Oder er geht morgens, wenn ich noch im Bett liege. Das ist nichts Ungewöhnliches.«

»Verzeihen Sie, aber was macht Ihr Mann nachts, wenn er nicht daheim ist?«, fragte Simon.

»Das weiß ich nicht. Ich bin ja nicht seine Mutter«, sagte die Russin, jetzt wieder kühl und reserviert wie zu Beginn.

»Sie halten es also für möglich, dass er eigenmächtig noch mal das Haus verlassen hat gestern Nacht?«

»Sie haben gehört, was ich gesagt habe, oder?«

»Können Sie bitte nachsehen, ob ein Auto fehlt? Oder wie bewegt sich Ihr Mann?«

»Auto, Flugzeug, Hubschrauber, Motorrad, Boot.«

Swetlana Feldmann führte sie zu einer in den Hang gebauten Garage, die in ihren Ausmaßen eher einem Hangar glich. Neben etlichen Oldtimern und Neuwagen stand auch ein Hubschrauber auf einem Anhänger darin.

»Fehlt ein Auto oder ein anderes Gefährt?«, fragte Simon.

»Nein, nicht soweit ich das sehen kann«, sagte Swetlana Feldmann.

»Sie haben gesagt, Ihr Mann sei öfter nachts allein unterwegs gewesen. Wäre Ihr Mann auch zu Fuß gegangen oder gibt es ein Boot?«

»Natürlich gibt es ein Boot, unten am See, und natürlich wäre er niemals zu Fuß nachts aus dem Haus gegangen. Er ist ja kein Mondsüchtiger.«

Wie die Frau zwischen Empfindsamkeit und Eiseskälte changierte, war bemerkenswert.

»Können wir bitte nachsehen, ob das Boot noch da ist?«, fragte Simon.

»Unten, am See«, sagte sie, während sie abwesend in die Ferne starrte.

Feldmanns Anwesen war lückenlos ummauert. Das Boot lag in einer kleinen Bucht, die dem Grundstück künstlich einverleibt worden war. Um zum See zu gelangen, musste ein elektrisches Tor über dem Wasser betätigt werden.

»Wie öffnet man das Tor?«, fragte Simon.

»Es gibt einen Schalter am Steg«, sagte Swetlana Feldmann. »Aber fragen Sie mich nicht, wie das alles gesichert ist. Das interessiert mich nicht.«

»Hat jemals jemand hier eingebrochen? Sind Ihnen Personen aufgefallen oder merkwürdige Geschehnisse? Gab es zuletzt irgendwelche Reparaturen, waren Handwerker da?«

Sie überlegte ernsthaft. »Nein, keine Reparaturen. Ich sehe hier eigentlich auch nie jemanden. Direkte Nachbarn gibt es nicht, das Schloss weiter drüben ist so weit weg, dass wir die Besucher nicht sehen oder hören.«

»Wer arbeitet hier, außer der Haushälterin?«

»Wir haben einen Gärtner, der zweimal die Woche kommt. Gelegentlich schaut auch ein Hausmeister vorbei. Aber wohnen tut außer uns nur Christina hier.«

»Und, wie lang ist sie schon bei Ihnen?«

»Christina? Seit einigen Monaten. Sie wurde uns von Freunden empfohlen.«

Sie gingen wieder zurück ins Haus, das viel zu viele Zimmer für zwei Personen hatte.

»Sagen Sie, haben Sie Kinder? Oder hat Ihr Mann welche?«

»Er hat zwei erwachsene Kinder. Der Sohn lebt in Genf, die Tochter in Amerika. Aber wir haben sie nicht oft gesehen, er mag seine Kinder nicht besonders.«

Simon sah sie mit einem Fragezeichen auf der Stirn an.

»Ehekrach. Millionen weg.«

»Verstehe. Und Sie, haben Sie Kinder?«

»Keine Kinder. Zum Glück.«

»Sie sprechen sehr gut Deutsch, sind Sie hier aufgewachsen?«, wollte Simon wissen.

»Ich spreche auch fließend Englisch und Spanisch«, sagte sie. »Meinen Eltern war das wichtig.« Sie nahm auf dem Sofa Platz und blickte versonnen auf den See.

»Bitte, setzen Sie sich«, sagte sie plötzlich, diesmal unerwartet freundlich.

»Hatte Ihr Mann Feinde, Frau Feldmann?«

»Mein Mann ist einer der erfolgreichsten Rohstoffhändler der Welt. Sicher hat er Feinde.«

»Hat er je davon erzählt, dass er sich bedroht fühlte?«

»Mein Mann hat nicht viel erzählt vom Geschäft. Wir haben die schönen Stunden miteinander genossen. In seine Geschäftsaktivitäten habe ich mich nicht eingemischt – außer er hat es ausdrücklich gewünscht.«

»Sie wissen also auch nicht, was genau er auf seinen Geschäftsreisen getan hat?«

»Er hat Freunde getroffen, andere Geschäftsleute, Politiker, Minenbetreiber, Manager von Ölfeldern. Natürlich war ich öfter dabei. Wir haben gegessen, getrunken, gefeiert. Alle wollen gut leben und mein Mann ist sehr gut darin, alle gut leben zu lassen und dabei sich selbst nicht zu vergessen.«

»Frau Feldmann, haben Sie irgendeinen Verdacht, wer Ihren Mann ermordet haben könnte?«

»Er hat mit China Ölgeschäfte betrieben, mit den Russen zusammen. Zuletzt war er in Südamerika. Und dann war da diese Sache mit Afrika, die ja auch durch die Medien ging. Ich habe keine Ahnung, ob da jemand eine Rechnung offen hatte. Aber sicher hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Er hat nie darüber geredet.«

»Dieser Skandal mit dem giftigen Ölschlamm an der Küste Nigerias?«, fragte Gerber, der bis dato kein Wort gesagt hatte, sich aber auf der Fahrt im Netz kundig gemacht hatte. »Hat ihn das sehr beschäftigt?«

»Ja, deswegen waren immer wieder Leute da. Ich dachte vorhin auch, Sie seien deswegen gekommen. Soweit ich weiß, hatte mein Mann damit aber nichts zu tun.«

»Es ist seine Firma, gegen die ermittelt wird«, sagte Gerber, »und er trägt die Verantwortung.«