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Olaf R. Dahlmann

Fillingers Erbe

Kriminalroman

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© 2018 by GRAFIT Verlag GmbH
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die Literarische Agentur Kossack, Hamburg.
Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design
unter Verwendung von shutterstock/Microgen (Frau), endlesssea2011 (Speicherstadt)
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
eISBN 978-3-89425-751-4

Über dieses Buch

Die Hamburger Anwältin Katharina Tenzer soll dafür sorgen, dass einem Steuerflüchtling die Haft erspart bleibt. Doch kaum hat Bernhard Fillinger deutschen Boden betreten, wird er erschossen. Zurück bleiben sein zehnjähriger Sohn und eine Spur in die Schweiz. Dort sollen Daten zu finden sein, die offenlegen, wohin während der Wendezeit Teile des millionenschweren DDR-Vermögens verschwunden sind. Eine Jagd beginnt, bei der Katharina bald nicht mehr weiß: Ist sie Jägerin oder Gejagte?

Der Autor

Olaf R. Dahlmann lebt in Großhansdorf, ist seit über fünfundzwanzig Jahren als freiberuflicher Rechtsanwalt tätig und Seniorpartner einer Rechtsanwalts- und Steuerberatungsgesellschaft. Aufgrund seiner frühzeitigen Spezialisierung auf das Steuerstrafrecht ist er mittlerweile einer der erfahrensten Hamburger Anwälte auf diesem Gebiet. Als Kriminalschriftsteller debütierte er 2016 mit dem ersten Fall für Katharina Tenzer Das Recht des Geldes.

Gegen das Vergessen

Für Gabriele

Wenn du das Leben begreifen willst, glaube nicht, was man sagt und was man schreibt, sondern beobachte selbst und denke nach.

Anton Tschechow (1860–1904), russischer Schriftsteller

Vorbemerkung

Die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind daher rein zufällig.

Die Handlung dagegen beruht teilweise auf wahren Begebenheiten.

Prolog

Hamburg-Rahlstedt, September 1991

Der rostrote VW-Transporter bog in die Remstedtstraße ein und nach wenigen Metern erlosch das Abblendlicht. Der klapprige Wagen holperte im Schritttempo über das altehrwürdige Kopfsteinpflaster, auf dem das Regenwasser im fahlen Licht der Straßenlaternen glänzte. Nach etwa dreihundert Metern hielt der Wagen vor einer Kreuzung und die Innenbeleuchtung nahm flackernd ihre Arbeit auf. Ein flüchtiger Blick auf den Stadtplan verriet dem Fahrer, dass er sein Ziel erreicht hatte. Er nahm einen tiefen Zug seiner Camel ohne und knipste das funzelige Lämpchen über dem Innenspiegel aus, schnappte sich die schwarze Sporttasche vom Beifahrersitz und stieg aus dem Bulli. Neben dem Fußweg nahm er eine kniehohe Buchsbaumhecke wahr, hinter der sich ein kleiner Park erstreckte. Aus dessen Mitte ragte schemenhaft ein monumentales Kriegerdenkmal in den Nachthimmel.

Jetzt, um zwei Uhr morgens, war die Straße menschenleer. Nicht einmal ein parkendes Auto war in der näheren Umgebung zu erkennen. Ohne den Transporter abzuschließen, überquerte der Mann die Straße und blieb vor einer Grundstückseinfahrt stehen. Er trat die Kippe aus und im Lichtkegel seiner Stablampe konnte er über dem unteren Briefkasten den Namen lesen, den er in den vergangenen Monaten so oft verflucht hatte. Maria Sagowski. Selbst im dämmrigen Mondlicht glänzte das neuwertige Namensschild bedrohlich.

Maria Sagowski war gerade erst eingezogen und es hatte überhaupt einige Zeit gedauert, bis sie herausgefunden hatten, dass es sie nach Hamburg verschlagen hatte. Dann war alles sehr schnell gegangen. Einer seiner ehemaligen Genossen war seit Anfang des Jahres beim Einwohnermeldeamt eines Hamburger Bezirksamtes beschäftigt und saß jetzt sozusagen an der Quelle. Und weil die gemeinsamen Jahre beim Ministerium für Staatssicherheit auch nach der Wende quasi wie eine Zwangsbruderschaft wirkten, erhielt er fast jede gewünschte Information aus erster Hand.

Der warme Spätsommertag war schuld, dass Maria Sagowski ihre Terrassentür auf Kipp gestellt hatte, um die stickige Luft mit nächtlicher Frische zu vertreiben. Nach wenigen geübten Handgriffen schwang die Tür nach innen und der Mann betrat das mondhelle Wohnzimmer. Lautlos huschte der Eindringling quer durch den Raum. Er stellte die Sporttasche ab, lauschte in den Flur hinein und bewegte sich dann langsam in Richtung Küche. Nach wenigen Metern öffnete er die Tür zu einer kleinen Abstellkammer und klappte leise den Sicherungskasten auf. Vorsichtig drehte er die veraltete Hauptsicherung heraus und legte sie in ein Regal. Jetzt schlich er zurück ins Wohnzimmer und verbarg sich hinter der Zimmertür. Der Genosse aus der Hauptverwaltung Aufklärung hatte mit seiner Beschreibung der Räumlichkeiten ganze Arbeit geleistet. Aber eigentlich hatte er nichts anderes erwartet, denn schließlich war das Ausforschen von fremden Wohnungen in den vergangenen Jahrzehnten eine ihrer Hauptaufgaben gewesen.

Rücklings an die Wand gelehnt, zog er sein Todeswerkzeug aus der Sporttasche. Dann hob er langsam die Tasche an und ließ sie aus Brusthöhe einfach auf das blanke Steineichenparkett fallen. Das klatschende Geräusch wirkte in der Stille irgendwie gnadenlos. Er lauschte. Ganz wie er gehofft hatte, hörte er nach einem kurzen Moment eine entfernte verschlafene Stimme.

»Hallo? … Ist da jemand?«

Der Mann schloss die Augen, er musste unweigerlich an den 25. März 1986 denken. Den hässlichen Ausdruck auf dem Gesicht des toten Ehemannes von Maria Sagowski hatte er nie so ganz vergessen können. Sie hatten den schweren Leichnam vom Gitter der Zelle 118 im Stasi-Sonderknast in Bautzen nur mit Mühe losbekommen. Bei manchen Häftlingen waren sie mit ihren Verhörmethoden leider etwas zu weit gegangen. Besser gesagt, selbst die weiße Folter hinterließ eben manchmal dunkle Flecken. Aber hatte dieser Idiot deswegen gleich so weit gehen müssen?

»Ist da wer?«, ertönte es jetzt energischer durch den dunklen Flur. Begleitet wurde die Frage von einem Fluch über die unterbrochene Stromversorgung.

Die Stimme der ehemaligen Tippse bei der KoKo hatte er sofort wiedererkannt. Ja, die KoKo. Die liebevolle Kurzbezeichnung für die Abteilung Kommerzielle Koordinierung des Ministeriums für Außenhandel im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat hatte ihn schon immer amüsiert.

Weniger witzig fand er hingegen, dass diese Mistmade kurz nach dem Mauerfall seine Rettungsbemühungen um das sozialistische Volkseigentum heimlich dokumentiert hatte.

Aber was war anderes von einer Ehefrau eines Republikflüchtlings zu erwarten gewesen? Hatte dieser Verräter doch wirklich mit einem selbst gebauten Kleinflugzeug alleine von einem Kaff in der Altmark aus nach Niedersachsen rübermachen wollen. Zum Glück hatten die Mitarbeiter einer landwirtschaftlichen Brigade rechtzeitig Wind von der Sache bekommen und gleich die Staatssicherheit informiert. Die Informationsschleife hatte ja zu dieser Zeit noch funktioniert.

Sie hätten Maria Sagowski natürlich lieber auch gleich inhaftieren sollen, anstatt die ehemalige Chefbuchhalterin der Staatsbank als einfache Schreibkraft in die KoKo abzuschieben und weiter zu überwachen. Die Hoffnung, vielleicht noch andere Beteiligte entlarven zu können, hatte sich nämlich schnell als völlig illusorisch herausgestellt. Trotz ihrer damaligen Schwangerschaft hätte Maria Sagowski besser eine der Zellen im Neubau von Hohenschönhausen beziehen sollen, dann wäre er jedenfalls jetzt nicht hier und müsste sich nicht die Hände schmutzig machen.

Nach einem kurzen Moment vernahm er das leise Ratschen eines Feuerzeuges und anschließend schlurften langsame Schritte über das abgetretene Berberimitat. Der Mann hinter der Tür war jetzt bis aufs Äußerste gespannt und genoss den Moment, als das Adrenalin in seine Adern schoss und seine Muskeln straffte. Selbst in den Handschuhen spürte er die feinen Erhebungen der handgeschnitzten Griffe seiner alten spanischen Garotte, die er vor vielen Jahren einem kubanischen Ex-General in Havanna beim Black Jack abgenommen hatte. Er spannte den silbrigen Draht.

Als Maria Sagowski mit dem brennenden Feuerzeug an der Wohnzimmertür vorbeiging, legte sich blitzschnell etwas Dünnes, Kaltes um ihren Hals und sie wurde mit der Brust gegen die Wand gedrückt. Die verzweifelten Versuche, ihren Angreifer mit dem Feuerzeug zu beeindrucken, wurden mit jeder Sekunde des Todeskampfes schwächer und nach weniger als einer Minute hatte die hässliche Schlinge ihr Werk vollendet. Der Mann ließ sein Opfer unsanft auf den Boden sinken, zog den toten Körper in das Wohnzimmer. Dann lauschte er in den Flur. Wieder war alles still. Totenstill.

Bernhard, der kleine Sohn von Maria Sagowski, war anscheinend nicht aufgewacht. Das Kinderzimmer befand sich nach der Beschreibung des Genossen am Ende des Flures. Der Mann legte das Ohr an die Zimmertür, aber es war kein Laut zu hören. Der Junge schlief wohl. Es wäre für ihn das Beste, wenn es dabei bleiben würde.

Zielgerichtet durchsuchte der Mann jetzt zunächst die kleine Küche und anschließend das Schlafzimmer. Er musste die Papiere finden. Um jeden Preis. Es könnte ihn Kopf und Kragen kosten, wenn sie in die falschen Hände fielen. Zuletzt war das Wohnzimmer an der Reihe. Möbelstück für Möbelstück. Die Inhalte der Schubladen, Schränke und Kommoden verteilten sich ziemlich schnell wahllos im ganzen Raum. Die aufgeschlitzten Kissen setzten dem Chaos die Krone auf.

Aber die Suche blieb erfolglos. Mit Ausnahme des Kinderzimmers hatte er die Wohnung komplett auf den Kopf gestellt. Dann musste er diesen Schritt eben auch noch gehen. Er lief den Flur hinunter und öffnete leise die Tür. Instinktiv.

Warum eigentlich?

Der Lichtkegel tastete sich durch das Reich des Jungen und verharrte auf dem kleinen Bett an der gegenüberliegenden Wand.

Es war leer.

Auch Bettzeug und Kopfkissen waren weg. Der Junge schien aushäusig zu nächtigen. Die anschließende Durchsuchung des Kinderzimmers brachte nicht den erhofften Erfolg.

Hatte Maria Sagowski die Papiere gar außerhalb ihrer Wohnung versteckt? Er spürte, wie die Wut in ihm anschwoll.

1

Die schlichte Todesanzeige weckte tief vergrabene Erinnerungen an ihr erstes Plädoyer, das sie mit brüchiger Stimme vor dem ergrauten Richter heruntergestammelt hatte. Dem anschließenden ›letzten Wort‹ des Angeklagten folgte das letzte Urteil von ›Richter Eisenherz‹, bevor er die Hamburger Anwaltschaft endlich mit seinem Ruhestand erlösen sollte. Wie so viele seiner überraschenden Urteile, war auch dieses in seinem Kopf schon gefällt, noch bevor der Saaldiener die Sache zur Verhandlung aufgerufen hatte.

Es war jetzt fast genau auf den Tag fünf Jahre her, dass Katharina Tenzer ihre erste Strafverteidigung übernommen hatte. Die Geschäftsverteilung des Gerichtes war nicht gerade gnädig mit der jungen Anwältin umgegangen. Ausgerechnet den dienstältesten Amtsrichter Hamburgs hatten sie und ihr Mandant erwischt. Während der noch nicht einmal zwei Stunden dauernden Sitzung hatte Richter Eisenherz ein paar Urkunden verlesen und einen von Katharina geladenen Entlastungszeugen nach der Vernehmung ziemlich unfreundlich aus dem Saal gewiesen. Ohne sich lange im Beratungszimmer herumzudrücken, hatte er unmittelbar nach den letzten Unschuldsbeteuerungen des Angeklagten den jungen Tischlermeister wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung zu einer knackigen Bewährungsstrafe mit zusätzlicher Zahlungsauflage verurteilt und damit selbst die Staatsanwaltschaft in Erstaunen versetzt. Das Urteil war zwar nur wenige Monate später in der nächsten Instanz aufgehoben worden, die Erinnerungen an jene schon so viele Jahre zurückliegende Gerichtsverhandlung riefen seltsamerweise aber immer noch Schuldgefühle bei der jungen Anwältin hervor.

Jetzt saß sie in ihrem Büro in bester Hamburger Innenstadtlage und blätterte mit einem Joghurtbecher in der Hand die Hamburger Lokalpresse durch. Dabei war ihr die Todesanzeige ins Auge gefallen. Deren Layout war so traurig wie ihr Anlass. Das einzig Überraschende war für Katharina die Anzahl der erwähnten Kinder, denn sie ließ vermuten, dass der Amtsrichter a. D. in jungen Jahren neben der Juristerei hauptsächlich mit der Zeugung von Nachkommen beschäftigt gewesen war. Mit achtundsechzig Jahren abzutreten, wünscht man aber natürlich niemandem, egal, ob er menschlich ein Ekel gewesen ist oder nicht, dachte Katharina. Sie schlug die Zeitung zusammen und stopfte sie mit einem ärgerlichen Kopfschütteln in den Papierkorb.

Plötzlich flog ihre Zimmertür auf und Wolf von Behringer, Mittvierziger und einer ihrer drei Kanzleipartner, platzte herein. Er kam von einer ausgedehnten Vertragsverhandlung mit einer Bank zurück und warf sich mit einem unverschämten Grinsen in den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch. Seiner Laune nach zu urteilen, würde ihr Kanzleikonto am Monatsende eine deutliche Entspannung erfahren. Einen sprichwörtlichen ›warmen Regen‹ konnten sie momentan auch gut gebrauchen. Nicht, dass die Kanzlei schlecht laufen würde, aber im letzten Monat waren zwei Mandanten wirtschaftlich in die Knie gegangen und hatten Insolvenz angemeldet. Die Außenstände von rund fünfunddreißigtausend Euro konnten sie demzufolge in den Wind schreiben.

Wolf von Behringer war spezialisiert auf Bankrecht. Ein schlaues Kerlchen, manchmal sogar ein wenig verschlagen, wie Katharina fand. Und da er zudem hartnäckig wie ein Terrier war, hatte er schon so manche Großbank das Fürchten gelehrt. Er kam ursprünglich aus einer der ganz großen Kanzleien der Stadt, was er gelegentlich bewusst heraushängen ließ.

»Die Sache ist gigantisch gelaufen, wir haben uns mit den Bankern nach fünf Stunden Verhandlungsmarathon auf 1,8 Millionen geeinigt. Siebenstern ist natürlich happy.«

Heinrich Siebenstern war Inhaber einer adretten kleinen Immobilienfirma, hatte aber leider mit der Frau des Filialleiters seiner Hausbank eine heftige Affäre angefangen. Der Banker hatte irgendwie davon erfahren und Siebenstern mit fadenscheiniger Begründung plötzlich sämtliche Kredite gekündigt. Wolf von Behringer hatte die Gunst der Stunde genutzt und war mit einer satten Schadenersatzklage über 2,5 Millionen Euro gleich richtig in die Vollen gegangen.

»Mensch Kathi, Siebensterns Honorar von dreißigtausend kommt doch wie gerufen. Lass uns heute Abend ein bisschen feiern gehen.« Er beugte sich nach vorn und sah sie herausfordernd an. »So wie früher. Vergessen wir einfach, was war«, setzte er nach einer kurzen Pause süffisant hinzu.

Es ärgerte Katharina, dass er anscheinend immer noch nicht begriffen hatte, dass zwischen ihnen ein für alle Mal nichts mehr lief. Noch mehr ärgerte sie sich aber über sich selbst, dass sie vor einem halben Jahr überhaupt eine Liaison mit ihm angefangen hatte. Er war über zehn Jahre älter als sie, geschieden und hatte eine pubertierende Tochter, die ständig in der Kanzlei alle verrückt machte, wenn sie mit ihrer Mutter mal wieder Zoff hatte, was eigentlich ständig vorkam.

Katharina hatte allerdings eine Schwäche für Männer vom Schlage eines Wolf von Behringer. Ihre Favoriten mussten nicht unbedingt Modellathleten verkörpern, aber mit Witz, schneller Auffassungsgabe und einem gesunden Selbstbewusstsein punktete Mann bei ihr ziemlich schnell. Und immer war unterschwellig die Hoffnung im Spiel, vielleicht doch endlich einen wirklichen Glücksgriff gelandet zu haben. Bei von Behringer hatte sie nach wenigen Wochen gewusst, dass sich die Sache nicht dauerhaft entwickeln würde. Von der anfänglichen körperlichen Erregung in seiner unmittelbaren Nähe war zwar immer noch etwas übrig geblieben, aber ein festes Zusammenleben mit ihm war für sie undenkbar. So tough er im beruflichen Umfeld war, wenn seine Tochter oder Ex-Frau mit den Fingern schnippte, ließ er widerstandslos alles andere stehen und liegen. Für einen wirklichen Neuanfang fehlte es ihm entweder an Mut oder an Rückgrat. Oder an beidem. Und eine reine nach körperlichen Bedürfnissen ausgerichtete Zweckbeziehung kam für Katharina nicht infrage. Jedenfalls noch nicht.

Als dann wieder einmal wegen seiner Tochter eine Verabredung mit Freunden zu platzen drohte, war es zu einer kurzen, aber wortreichen Auseinandersetzung gekommen, in der Katharina sich wohl etwas im Ton vergriffen und ihm einige unschöne Attribute an den Kopf geworfen hatte. Er war daraufhin Hals über Kopf mit seinem spärlichen Hab und Gut aus ihrer Wohnung getobt. Sie hatte sich zwar noch am Abend bei ihm telefonisch für ihre Verbalattacke entschuldigt, ihm in diesem Gespräch aber auch deutlich gemacht, dass ihre Beziehung keine Zukunft hatte.

Seit dieser Zeit war ihr Umgang im Büro miteinander zwar nicht gänzlich entspannt, dennoch respektvoll … um nicht zu sagen: professionell. Hin und wieder konnte er es jedoch nicht lassen, Spitzen wie eben von sich zu geben, auf die er lieber verzichten sollte, wie Katharina fand.

»Wolf, was soll das jetzt schon wieder? Es gibt kein ›wie früher‹, das weißt du ganz genau.«

Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, nahm er beschwichtigend beide Hände in die Höhe. »Schon gut, schon gut, reg dich nicht gleich wieder auf. Man wird doch noch einen Scherz machen dürfen«, gab er zurück.

»Im Übrigen bekomme ich heute Abend noch ein neues Mandat. Ich habe keine Ahnung, wie lange die Besprechung dauert. Nach dem kurzen Telefonat vorgestern scheint das eine ganz abstruse Haftsache zu sein. Immerhin soll es einen ordentlichen Vorschuss geben. Der, um den es eigentlich geht, ist wohl ins Ausland geflüchtet«, erzählte Katharina.

In diesem Moment ging die Zimmertür auf und Gudrun Peters, eine der beiden Sekretärinnen der Kanzlei, brachte die Tagespost. Sie erfasste die Situation mit einem Blick und schob den Aktenstapel demonstrativ zwischen die beiden Anwälte, direkt unter die Nase von Wolf von Behringer.

»Herr von Behringer, ich sollte Sie doch an den Aktenvermerk für Frau Dr. Dressler erinnern«, flötete sie übertrieben freundlich, woraufhin Katharina sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte.

Von Behringer blickte auf seine Uhr und sprang aus dem Sessel. »So ein Mist, das hatte ich ganz vergessen vor lauter Euphorie in der Sache Siebenstern«, entfuhr es ihm, bevor er, nun doch etwas beschämt, aus dem Zimmer eilte.

Gudrun Peters stand wenige Monate vor der Rente und war schon die Seele der Kanzlei gewesen, als Katharina hier als Referendarin angefangen hatte. Schnell hatte sich die burschikose Sekretärin damals der jungen Juristin angenommen, die völlig fremd in Hamburg war.

Das waren turbulente Wochen gewesen und Friedemann Hausner, der Kanzleigründer, hatte Katharina nach ihrer Anwaltszulassung sogleich als vollwertige Partnerin in die Kanzlei aufgenommen. Die Sekretärin fand zwar, dass der Seniorchef damit etwas übertrieben hatte, aber er würde schon seinen Grund gehabt haben, da war sie sich sicher. Und niemals hätte sie es gewagt, ihm gegenüber ein Sterbenswörtchen von Kritik zu äußern. Als Friedemann Hausner sich dann immer mehr zurückgezogen und zusätzlich ältere und erfahrenere Anwälte aufgenommen hatte, war es schließlich ihre gottverdammte Pflicht gewesen, mehr als nur ein Auge auf die junge Frau zu werfen. Und wie sie wieder einmal recht gehabt hatte! Ausgerechnet dieser schnöselige Kerl musste Katharina dann auch prompt den Kopf verdrehen. Aber Gudrun Peters hatte am Ende wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass die in ihren Augen unmögliche Beziehung bereits nach kurzer Zeit wieder Geschichte war.

»Vielen Dank für die Post, Frau Peters. Ist Frau Dr. Dressler inzwischen da?«, wollte Katharina wissen.

»Ja, soeben eingetroffen, aber wie immer … na ja … Sie wissen schon, etwas hektisch unterwegs, weil sie gleich wieder ihren Sohn abholen muss«, antwortete die Sekretärin und verschwand aus dem Zimmer.

Frau Dr. Sophia Dressler war Hanseatin durch und durch. Sie stammte aus einer alten Hamburger Kaufmannsfamilie und war zwischen englischem Internat und familieneigenem Gestüt aufgewachsen. Sie hatte allerdings nicht im Sinne des Familienunternehmens gehandelt, als sie Hals über Kopf einen jungen Piloten geheiratet hatte, der für Familie und Firma nur wenig Interesse zeigte. Mit Anfang vierzig war sie zwar mittlerweile eine gestandene Scheidungsanwältin, aber immer gefangen in dem Zwang, die Erziehung ihrer beiden Kinder mit den Bedürfnissen ihrer Mandanten und nicht zuletzt auch denen ihrer eigenen Eltern in Einklang zu bringen. Ihr schneidiger Pilot verabschiedete sich auch an den Tagen, an denen er nicht in der Luft unterwegs war, von jeglichen familiären Aufgaben und verbrachte seine Zeit fast ausschließlich auf den umliegenden Golfplätzen, um sein Handicap zu verbessern.

Katharina konnte nicht verstehen, dass Sophia sich so etwas gefallen ließ. Und da Sophia mit ihrem schlechten Gewissen trotzdem so gut wie auf jegliche Kinderbetreuung durch Dritte verzichten wollte, hinterließ sie überall den gehetzten Eindruck einer ständig Getriebenen, sodass sich Katharina immer öfter fragte, wie lange ihre Kollegin diesem Druck wohl noch standhalten konnte. Leider verstärkte Wolf von Behringer diesen Druck noch mehr, indem er Sophia ständig ihre privaten Eskapaden, wie er den Spagat zwischen Büro und der Versorgung der Kinder nannte, vorwarf.

Trotz ihres Altersunterschiedes von zehn Jahren und dem Kontrast zwischen ihren Lebensumständen verstanden sich die beiden Frauen aber hervorragend, nicht zuletzt auch deswegen, weil sie sich beruflich erfolgreich ergänzten. Sophias gut betuchte Privatklientel der Hamburger Gesellschaft nahm immer häufiger auch die von Katharina aufgebaute kleine Steuerberatung innerhalb des Kanzleibetriebes in Anspruch.

Es war eigentlich an der Zeit, mit dem Tagesgeschäft anzufangen, aber Katharina ertappte sich dabei, dass sie an den neuen Fall denken musste, der ihr für den späten Nachmittag angekündigt worden war. Angeblich war es eine Haftsache. Und die waren regelmäßig zeitintensiv. Andererseits schien der Fall wegen des angekündigten Geständnisses überschaubar.

Sie seufzte einmal tief, zog den Stapel mit der Tagespost zu sich heran und schlug die erste Akte auf.

2

Pünktlich um halb sechs begrüßte Katharina im Wartezimmer einen tiefgebräunten, hageren Mann. Sie schätzte ihn auf etwa siebzig Jahre. Unter einem etwas speckigen, marineblauen Janker trug er ein grob kariertes Hemd mit Hirschhornknöpfen und eine schwarze Trachtenkrawatte.

»Willemsen … Sigurd. Guten Abend, Frau Tenzer«, grüßte ihr Besucher mit leichtem süddeutschem oder alpenländischem Akzent zurück. Sein Händedruck war kräftig.

Katharina führte ihren Gast in ihr Büro. Während der Kaffee serviert wurde, musterte sie den ungepflegt erscheinenden Mann und bemerkte, dass dieser sich umgekehrt auffällig neugierig in ihrem Büro umschaute. Der dunkle Teint und die ledrige Haut ließen Katharina auf einen Menschen schließen, der viel Zeit seines Lebens im Freien verbrachte.

»Herr Willemsen, wie kann ich Ihnen helfen? Unser Telefonat vorgestern hat mich neugierig gemacht«, wandte sich Katharina an ihren Besucher, um dessen Interesse auf sie zu lenken.

Willemsen lehnte sich zurück. »Tja, wo fange ich am besten an? Ich bin hier im Auftrag eines Mannes mit Namen Bernhard Fillinger. Herr Fillinger kann aus guten Gründen nicht persönlich bei Ihnen erscheinen, da er per Haftbefehl gesucht wird.« Er machte einen Gesichtsausdruck, als wollte er sich für eine Beleidigung entschuldigen.

»Woher wissen Sie denn, dass ein Haftbefehl erlassen wurde? … Was wirft man Herrn Fillinger vor?«, fragte Katharina.

»Steuerhinterziehung. So ungefähr sieben bis acht Millionen Euro. Und Herr Fillinger hat in Deutschland seit einem Jahr keinen Wohnsitz mehr. Er sagte mir, diese Umstände dürften einen Haftbefehl mehr als wahrscheinlich machen, oder etwa nicht?«, antwortete Willemsen. »Und um es gleich vorwegzunehmen, Frau Tenzer, Herr Fillinger ist geständig«, ergänzte er lapidar.

Katharina atmete einmal tief durch und versuchte gleichzeitig, den Eindruck zu hinterlassen, dass ein Fall derartiger Größenordnung für sie etwas ganz Normales war. »Aber Herrn Fillinger ist schon bewusst, dass ihm selbst bei einem Geständnis eine mehrjährige Haftstrafe droht?«

Willemsen nickte kurz und erwiderte: »Sehen Sie und jetzt kommen Sie ins Spiel, Frau Tenzer. Herr Fillinger lebt zurzeit in Costa Rica und ist unheilbar krank.«

»Costa Rica, Mittelamerika, das ist nicht eben um die Ecke«, stellte Katharina fest.

Willemsen runzelte die Stirn und fuhr fort: »Er leidet unter einer seltenen Prionenkrankheit, einer Unterart von Creutzfeld-Jakob, wenn Sie verstehen? Die Krankheit ist seit einigen Wochen virulent geworden und normalerweise hätte er wohl nur noch sechs bis acht Monate, sagen seine Ärzte. Aber hier am Hamburger Universitätskrankenhaus soll es seit Kurzem eine ganz neue, vielversprechende Behandlung geben …« Willemsen hüstelte kurz und fuhr dann leise und betreten fort: »… die sein Leben zumindest etwas verlängern könnte.«

»Und ich soll für das Geständnis jetzt eine Aufhebung des Haftbefehls aushandeln, damit Herr Fillinger sich hier in Hamburg behandeln lassen kann, das wollen Sie doch sagen, oder?«

»Sie haben es erfasst, Frau Tenzer. Aber bleiben Sie ganz ruhig, es kommt noch besser. Herr Fillinger ist im Besitz von beweiskräftigen Dokumenten, die belegen, wie und wohin Anfang 1990 kurz vor der Wiedervereinigung einige hundert Millionen Deutsche Mark des früheren Partei- und Staatsvermögen der DDR verschoben wurden. Ich habe diese Papiere mit eigenen Augen gesehen. Ihre Regierung läuft diesem Geld doch schon seit über zwei Jahrzehnten größtenteils erfolglos hinterher«, sagte Willemsen mit einem Anflug von Überheblichkeit.

Katharina versuchte erst gar nicht, ihr Erstaunen zu verbergen. Wenn das stimmte, dann war dieser Fall der absolute Hammer. Sie würde Geschichte schreiben.

Und ausgerechnet ihr als relativem Frischling im Anwaltsgeschäft servierte man dieses Filetstück mundgerecht auf einem Silbertablett. Irgendetwas stimmte doch an der Sache nicht! Wo war der Haken?

Alle ihre Sensoren liefen jetzt auf Hochtouren. Mit ihrer Herkunft aus der ehemaligen DDR konnte das Ansinnen nichts zu tun haben. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war sie gerade mal sechs Jahre alt gewesen. Sie stammte aus Mecklenburg-Vorpommern und ihre Eltern hatten beide im Arbeiter- und Bauernstaat als Ärzte gearbeitet. Sie gehörten damals zu der absoluten Oberschicht, wenn man diesen Begriff überhaupt verwenden konnte.

Natürlich hatte sie viel später von den riesigen Schweinereien gelesen, die während der Zeit um die Wende begangen worden waren. Vereinigungskriminalität war damals das Stichwort, wenn sie sich richtig erinnerte. Ohne Rücksicht auf Verluste hatte Kanzler Kohl kurz nach Abschluss des Einigungsvertrages die spärlichen Reste der brachliegenden ostdeutschen Wirtschaft verscherbelt wie Ware auf dem Hamburger Fischmarkt und anschließend versucht, mit immensen Subventionen westliches Know-how und privates Kapital gen Osten wandern zu lassen. Viele hatten die mit brandheißer Nadel gestrickten Gesetze aber als pure Einladung aufgefasst, auch einmal in den Vereinigungskuchen hineinzubeißen und sich hemmungslos zu bereichern. Wenn sich Katharina richtig erinnerte, hatte es damals in Berlin sogar eine besondere SoKo bei der Staatsanwaltschaft gegeben, die nur für solche Delikte zuständig gewesen war. Aber das war es dann eigentlich auch schon mit ihren Kenntnissen über die damalige Zeit, wenn sie ehrlich war.

»Darf ich mal fragen, wieso Herr Fillinger von mir vertreten werden möchte? Ich meine, nur so interessehalber.«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Da müssen Sie Herrn Fillinger selbst fragen. Er bat mich lediglich, den Kontakt herzustellen. Und um es kurz zu machen, Frau Tenzer, ich habe zehntausend Euro mitgebracht als Anzahlung. Und das hier ist das Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft Hamburg und die E-Mail-Adresse von Herrn Fillinger«, sagte Willemsen und schob einen gefüllten Briefumschlag und einen speckigen Zettel über den Schreibtisch.

Katharina öffnete den Umschlag bedächtig und entnahm ihm fünfzig nagelneue Zweihunderter, die von einer knallroten Heftklammer zusammengehalten wurden. Die völlig knitterfreien Geldscheine machten den Eindruck, als ob sie frisch aus der Presse kamen. Während sie nach dem weniger sauberen Zettel griff, erhob sich Willemsen plötzlich und streckte ihr die Hand über den Schreibtisch entgegen.

»Frau Tenzer, es hat mich sehr gefreut, Sie kennengelernt zu haben, aber mein Auftrag ist jetzt beendet. Alles Weitere müssen Sie mit Herrn Fillinger direkt bereden. Eine Rufnummer, unter der Sie ihn telefonisch erreichen können, habe ich allerdings nicht für Sie.«

Katharina erhob sich leicht verdutzt und ergriff kopfschüttelnd seine Hand. So eine Mandatsbeauftragung wie diese hatte sie noch nie erlebt.

»Ich habe doch eigentlich noch gar nicht wirklich eingewilligt«, sagte sie zögerlich. »Und was mache ich mit der Anzahlung, wenn ich mit Herrn Fillinger über die weiteren Schritte nicht einig werde? Wie kann ich Sie denn erreichen?«, fragte sie pflichtschuldig, während Willemsen aus dem Zimmer marschierte und sie ihm hinterherlief.

Willemsen wackelte mit dem Kopf und hob beide Hände in die Höhe. »Mich können Sie gar nicht erreichen, Frau Tenzer. Ich möchte mit der ganzen Angelegenheit nichts mehr zu tun haben. Die Sache ist mir zu heiß. Mit dieser Gefälligkeit gegenüber Herrn Fillinger hier bei Ihnen habe ich meine Schuldigkeit getan.«

Sie waren jetzt wieder im Wartezimmer angekommen und Willemsen schnappte sich seinen abgewetzten Lodenmantel.

»Eine Frage bitte noch, Herr Willemsen. Woher haben Sie das Aktenzeichen der Hamburger Staatsanwaltschaft?«

»Gute Frage«, antwortete Willemsen grinsend. »Es hat bei Herrn Fillinger und in seiner Firma Durchsuchungen gegeben und auf den entsprechenden Gerichtsbeschlüssen, von denen Herr Fillinger übrigens auch Kopien hat, steht das doch drauf.« Sigurd Willemsen nickte kurz und war dann im Treppenhaus verschwunden.

Katharina ging nachdenklich in ihr Zimmer zurück und nahm erneut den speckigen Zettel in die Hand. Die Schrift war irgendwie komisch, ja krakelig. Überhaupt war ihr die ganze schmuddelige Erscheinung von Sigurd Willemsen etwas hinterwäldlerisch vorgekommen.

Jetzt wanderte ihr Blick auf die druckfrischen Geldscheine, die in ihrem Äußeren so gar nicht zu ihrem Überbringer passten. Hoffentlich waren das keine waschechten Blüten.

Sie hatte von Willemsen weder Anschrift, Telefonnummer noch sonst irgendetwas. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie seinen Personalausweis oder Reisepass nicht kopiert hatte. Sie wusste nicht einmal, ob er überhaupt seinen richtigen Namen angegeben hatte, geschweige denn, ob er in Deutschland wohnte. Sie wusste nichts von ihm.

Wenn sich morgen früh bei der Bank herausstellen sollte, dass hier ein kleiner Künstler am Werk gewesen war und die Europäische Zentralbank mit den hübschen Scheinchen aber auch gar nichts zu tun hatte, käme Katharina der Polizei gegenüber in Erklärungsnot. Aber sie wollte nicht gleich das Schlimmste annehmen, denn welchen Grund hätte ihr Besucher haben sollen, ihr gegenüber eine solche Geschichte vorzutäuschen?

Sie füllte am Computer eine Strafprozessvollmacht für Bernhard Fillinger aus und hängte sie an die E-Mail, die sie an die Adresse schickte, die auf dem speckigen Zettel stand. Sie ging kurz auf das Gespräch mit Willemsen ein und bat ihren künftigen Mandanten um Unterzeichnung und Rücksendung der Vollmacht, damit sie als Erstes die Ermittlungsakten anfordern konnte.

Dann klickte sie sich im Internet durch verschiedene Seiten über Costa Rica und entdeckte, dass das Land in Mittelamerika zwischen Karibik und Pazifischem Ozean ein geografisches Kleinod war. Wenn ich vor der Hamburger Justiz flüchten müsste, dachte Katharina, käme dieses Land wohl auch für mich in die engere Wahl.

Sie griff zum Hörer und wählte die Privatnummer ihres Seniorpartners. Heute Abend brauchte sie eine Nachhilfestunde in jüngerer Geschichte.

Friedemann Hausner wohnte in Duvenstedt, einem noblen Hamburger Wohnviertel in den ehemaligen Walddörfern am nordöstlichen Rande der Stadt.

Jetzt zur Rushhour brauchte sie von der Innenstadt über eine Dreiviertelstunde, bis ihr Wagen die Auffahrt zu dem herrschaftlichen Anwesen hinaufrollte. Während der Fahrt kamen ihr die Geschehnisse vor vielen Jahren wieder in den Sinn. Damals war Friedemann Hausner durch einen Autounfall mehrere Wochen außer Gefecht gesetzt gewesen und sie als unerfahrene Referendarin musste plötzlich alleine im kalten Wasser schwimmen. Es kam ziemlich dick für sie in jenem Sommer, ihre Eltern trennten sich und zwei Menschen aus ihrem unmittelbaren Umfeld waren kaltblütig ermordet worden. Schließlich war sie mit einer Portion Glück nicht nur selbst mit heiler Haut davongekommen, sondern hatte auch ihrem Chef den Arsch gerettet, denn der hatte es mit seinen Steuertricksereien allzu bunt getrieben.

Von diesem Schlag hatte sich das Selbstbewusstsein von Friedemann Hausner nie wieder richtig erholt und er kam selbst nur noch sporadisch ins Büro. Ansonsten widmete er sich der Jägerei und ausgedehnten Wanderungen, was seiner Figur auch zuträglicher war als Schreibtischarbeit.

Eigentlich bedauerte Katharina es, dass er mit Mitte sechzig schon fast ein Rentnerleben zelebrierte, denn um seinen reichen Erfahrungsschatz war es während der täglichen Kanzleiarbeit schade.

Sie war schon einige Male bei Friedemann Hausner privat gewesen und immer wieder über die verschwenderische Großzügigkeit seiner Wohnsituation erstaunt. Der mit weißem Rauputz verkleidete Winkelbungalow aus den Sechzigerjahren stand auf einer kleinen Anhöhe und verbarg unter einem elegant geschwungenen Reetdach eine Wohnfläche von über dreihundertfünfzig Quadratmetern. Ihr Seniorpartner lebte allein und besaß nach Katharinas Wissen keine Familienangehörigen. Neben einer Haushälterin sorgte ein ehemaliger Mandant, Lasse Hamran, für die Instandhaltung des Gebäudes und die Pflege des riesigen Grundstückes.

Lasse Hamran war ein wortkarger, mürrischer Mann Ende sechzig, von mittlerer Größe, aber muskulös und durchtrainiert. Locker konnte er es kräftemäßig mit zwanzig Jahre Jüngeren aufnehmen, was er des Öfteren unter Beweis gestellt hatte. Neben seiner Tätigkeit für Friedemann Hausners Anwesen führte er nämlich noch eine kleine Detektei und hatte auch für Katharina schon die eine oder andere Ermittlung diskret und erfolgreich erledigt. Hausner hatte ihr irgendwann einmal erzählt, dass Hamran ganz früher Beamter beim Landeskriminalamt gewesen war und er ihn in einem großen Prozess sehr erfolgreich verteidigt hatte. Genauere Einzelheiten, worum es in dem Verfahren gegangen war und warum Lasse Hamran statt von einer Beamtenpension jetzt überwiegend von der Entlohnung als Hausmeister lebte, hatte sie aber nie erfahren.

Friedemann Hausner erwartete sie schon im Hauseingang. Es hatte leicht angefangen zu regnen und Katharina fürchtete, sein mächtiger Bauch würde trotz des Dachüberstandes vor der Haustür nicht ganz trocken bleiben.

Sie parkte, ließ ihren Mantel im Wagen und schnappte sich nur ihre Handtasche. Sie rannte auf den Eingang zu und hoffte, dass der Anwalt rechtzeitig Platz machen würde. Tatsächlich zog der sich in den Flur zurück und begrüßte sie freundlich.

»Frau Tenzer, schön dass Sie mal vorbeischauen. Ich habe Frau Patzke schon Anweisung gegeben, dass heute später gegessen wird.«

Katharina wurde klar, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte, indem sie nicht gleich bei der Ankündigung ihres Besuchs auf das Abendessen verzichtet hatte. Sie hatte schon einmal eine derartig prompte Einladung abgeschlagen, woraufhin Hausner mehrere Tage beleidigt gewesen war. Heute werde ich diese Kröte im wahrsten Sinne des Wortes schlucken müssen, dachte sie.

»Ich habe extra für Sie etwas Leichtes geordert. Die Medaillons vom Rehrücken mit Feigensoße sind eine Spezialität von Frau Patzke.« Er verdrehte leicht die Augen und blickte dabei lächelnd an die Decke. Dann wurde er schlagartig ernst. »Mein Gaumen und ich können es zwar kaum erwarten, aber ich weiß ja, Sie sind hier, damit wir Ihren neuen Fall besprechen. Und der geht vor. Immer.«

Er trat durch eine doppelseitige Flügeltür und Katharina folgte ihm in den Wohnbereich des Hauses. Nach zwei Treppenstufen öffnete sich ein riesiger Raum, der nicht zuletzt durch die geschmackvolle Einrichtung sinnvoll in verschiedene Bereiche unterteilt war.

Gleich rechts empfing den Besucher eine halbrunde Sitzecke um einen großen Kamin, in dem grobe Holzscheite knisterten und den Raum mit angenehmer Wärme füllten. Rechts hinter dem Kaminbereich geleitete eine prächtige, über zwei Meter hohe barocke Hermle-Standuhr den Gast in den Essbereich, wo an einer Ecke des Tisches für zwei Personen eingedeckt war. Hinter dem lang gestreckten Esstisch ging es dann zwei Treppenstufen nach unten und vor der bodentiefen Fensterfront lud eine kuschelige Wohnlandschaft zum Betrachten des Gartens ein. Obwohl die Dämmerung schon aufzog, konnte Katharina weit hinten am Ende der Rasenflächen die Duvenstedter Schleuse erkennen, an die unmittelbar der Brook grenzte, ein bekanntes und gut besuchtes Naturschutzgebiet.

Der Anwalt hatte vor dem Kamin neben einem kleinen Tischchen Platz genommen und ergriff eine zur Hälfte gefüllte Rotweinkaraffe. »Ein 2010er Château de Beaucastel von der Rhone, passt hervorragend zum Reh. Lassen Sie uns schon mal kosten, ob er auch was taugt«, schlug er scheinheilig vor, denn eine solche Qualitätsprüfung hatte er natürlich bereits ausgiebig hinter sich.

»Herr Hausner, für mich bitte nur einen ganz kleinen Schluck, ich muss noch fahren«, bremste Katharina seine Gastfreundschaft.

Sie nahm ihm das Glas ab, das in etwa die Größe eines kleinen Eimers besaß. Das kraftvolle, fruchtige Bukett des edlen Rotweins vermischte sich mit der Würze des brennenden Buchenholzes und die junge Anwältin lehnte sich wohlig zurück und berichtete, was ihr Sigurd Willemsen vor gut einer Stunde im Büro erzählt hatte.

»Die verschwundenen DDR-Millionen?« Hausner beugte sich vor und legte dabei seine fleischigen Hände auf die Oberschenkel. »Das wäre eine Sensation, Frau Tenzer, wenn Ihr neuer Mandant Beweise hätte, wohin die Millionen der ehemaligen DDR tatsächlich geflossen sind«, sagte er mit nicht gespielter Erregung. Er ergriff sein Rotweinglas. »Ja, die Zeiten um die Wende waren wirklich turbulent. Ich war damals, glaube ich, genauso lange Anwalt, wie Sie jetzt im Geschäft sind. Die KoKo, das sagt Ihnen doch was? Sie sind aus dem Osten, wenn ich mich recht entsinne? Das war eine Abteilung des Ministeriums für Außenhandel und insbesondere für die legale und illegale Devisenbeschaffung in der DDR zuständig. Die DDR war ja immer chronisch pleite, was aber keiner der Arbeiter und Bauern gewusst hat, und im Nachhinein, wenn man es bedenkt, auch niemanden wirklich zu interessieren schien. Die KoKo war zum Schluss direkt dem Honecker unterstellt und wurde natürlich von der Stasi kontrolliert. Im Frühjahr 1990 wurde die Abteilung aufgelöst, nachdem der Chef, Stasi-Oberst Schalck-Golodkowski, der Erste gewesen war, der sich Anfang Dezember 1989, nur wenige Tage nach der Grenzöffnung, aus dem Staub gemacht und bei uns im Westen angeheuert hat. Und da der Chef ausgeflogen war, haben die kleinen Stasi-Mäuse in Ost-Berlin alle auf dem Tisch getanzt und sich die Taschen vollgestopft. Und zwar kräftig. In der Zeit von Oktober 1989 bis Mitte 1990 sollen ein paar Hundert Millionen Mark in dunkle Kanäle geflossen und nie wieder aufgetaucht sein. Deutsche Mark wohlgemerkt, nicht die Alugroschen von drüben.«

Hausner stoppte seine Rede und schmiss zwei weitere Holzscheite ins Feuer.

»Ich empfehle Ihnen den Bericht des Stasi-Untersuchungsausschusses von 1994. Ist zwar ein dickes Brett von ungefähr tausendfünfhundert Seiten, aber ich fürchte, wenn Ihr neuer Fall tatsächlich so brisant ist, dann werden Sie dieses Brett bohren müssen.« Er grinste und fuhr fort: »Diese Untersuchungskommission hat wirklich akribisch gearbeitet und herausgefunden, dass die KoKo viele wertvolle Firmenbeteiligungen über Briefkastengesellschaften in Liechtenstein und der Schweiz besessen hat.«

In diesem Moment meldete sich die Hermle-Standuhr mit einem melodischen Dreiklang. Es war zwanzig Uhr und Hausner schien gegen seine Hungerkrämpfe nun endgültig nicht mehr ankämpfen zu können. Er erhob sich und gab Frau Patzke zu verstehen, dass jetzt der Ernstfall eingetreten war.

Katharina und Hausner wechselten beide an den Esstisch und es wurde prompt serviert.

Der Anwältin hatte es lange nicht mehr so vorzüglich geschmeckt und sie langte deswegen trotz der späten Stunde ordentlich zu. Hausner erzählte weiter anschaulich Anekdoten aus den Wendejahren und die Zeit verging wie im Flug. Nach dem Essen verabschiedete sich Katharina, sie musste noch nach Hamburg-Rotherbaum, wo sie eine schnuckelige Zweizimmerwohnung bewohnte.

Gerade als sie ihren Wagen starten wollte, meldete sich ihr Handy mit einem nervigen »Pling«.

Eine Mail von Bernhard Fillinger, der ihr mitteilte, dass er die unterzeichnete Strafprozessvollmacht soeben per Telefax zurückgesandt hatte. Im Übrigen bedanke er sich für die Annahme des Auftrages.

Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr. In Costa Rica hielten sie wahrscheinlich noch Siesta.

3

Die Kassiererin legte die Zweihunderter in den Zählautomaten und drückte auf die Eingabetaste. Katharina war gespannt, ob die nagelneuen Geldscheine hielten, wonach sie aussahen.

Das Gerät nahm die Scheine widerstandslos in sich auf und der Honorarvorschuss, den Willemsen ihr gestern Abend übergeben hatte, wanderte aufs Kanzleikonto. Jetzt konnte sie mit ihrer Arbeit richtig beginnen.

Noch bevor die Bank geöffnet hatte, war sie ins Büro gefahren, denn sie hatte wissen wollen, ob die angekündigte Strafprozessvollmacht auch wirklich eingegangen war. Und tatsächlich lag im Ausgabefach des Faxgeräts das von ihr vorbereitete Schriftstück mit einer unleserlichen Unterschrift. Die Ländervorwahl oben auf dem Schriftstück betrug 506, ihr Mandant hielt sich allem Anschein nach also immer noch in Costa Rica auf. Sie fertigte eine Kopie für die Staatsanwaltschaft an und deckte dabei die Zeile mit der Faxkennung ab. Gegen Mittag würde sie telefonisch nachfassen.

Dann recherchierte sie im Internet die bisher bekannten Fakten über das angeblich verschwundene DDR-Vermögen, um das, was ihr Hausner gestern Abend erzählt hatte, untermauern zu können. Während der Lektüre fiel ihr ein, dass sie eigentlich ihre Mutter anrufen könnte, die als Ärztin bei einem Pharmaunternehmen in Rostock arbeitete und kurz vor der Rente stand. Sie würde ihr vielleicht hilfreiche Informationen geben können.

»Kathi, mein liebes Kind. Schön, dass du anrufst, ich hätte mich in den nächsten Tagen auch bei dir gemeldet. Wir haben ja lange nicht miteinander gesprochen«, meldete sich Katharinas Mutter hörbar erfreut am Handy.

Warum erzählt sie immer nur so etwas, dachte Katharina. Sie rief immer nur von selbst an, wenn es irgendwo lichterloh brannte.

Seit der Trennung von ihrem Vater vor über sechs Jahren litt ihre Mutter unter einem extremen Kontaktdefizit, das sich bei ihren Treffen oder Telefonaten am Anfang immer sehr wortgewaltig entlud. Ihr Vater war von einem Tag auf den anderen ausgezogen und hatte seine Beziehung zu einer blutjungen Laborantin mit zwei kleinen Kindern gestanden. Katharina hatte sich ohne Wenn und Aber auf die Seite ihrer Mutter geschlagen. Dann plötzlich, vor über drei Jahren, erschienen zwei Polizeibeamte eine Woche vor Heiligabend bei ihrer Mutter in der Firma und informierten sie über den Unfalltod des Vaters. Ein plötzlich einsetzender Eisregen hatte seinen Wagen auf der Autobahn zwischen Rostock und Berlin zwischen zwei Lkw schlittern lassen und der kleine Polo war zu einem Drittel zusammengeschoben worden. Die Feuerwehr brauchte fast vier Stunden, um den leblosen Körper aus dem Wrack herauszuschneiden.

Heute schien der Mitteilungsdrang ihrer Mutter mal wieder besonders ausgeprägt zu sein. Katharina fiel nach einigen Minuten tapferen Zuhörens der Katastrophenthriller Unstoppable mit Denzel Washington ein, den sie vor einigen Wochen im TV gesehen hatte. Der Titel bekam plötzlich eine ganz neue Bedeutung.

»Mama, hör doch mal zu«, unterbrach sie ihre Mutter, als diese zu einem ausführlichen Bericht über den Korruptionsskandal in der Chefetage ihrer Firma ansetzen wollte. »Ich habe einen neuen Fall übernommen und ich brauche Informationen über Behandlungsmethoden bei der Creutzfeld-Jakob-Krankheit. Hier in Hamburg soll am UKE eine neu-artige Therapie entwickelt worden sein. Weißt du was darüber?«

Nach einem kurzen Moment antwortete ihre Mutter zögerlich: »Da muss ich mich erst einmal umhören, Kathi. Aus dem Stehgreif kann ich dir dazu nichts sagen. Hast du etwa einen dieser hässlichen Arzneimittelfälle, die in letzter Zeit immer häufiger aufgedeckt werden?«

»Nein, es geht um eine spannende Steuersache, aber mehr kann ich dir nicht sagen«, antwortete Katharina einsilbig.

Leider konnte ihre Mutter auch über die wirtschaftlichen Turbulenzen zu Wendezeiten keine neuen Erkenntnisse beisteuern, so endete das Telefonat mit dem beiderseitigen Versprechen, sich an einem der nächsten Wochenenden zu treffen. Irgendwie hatte Katharina einmal mehr das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter über die DDR-Vergangenheit ihrer Familie nur sehr ungern sprach und bewusst oder unbewusst große Erinnerungslücken zeigte.

Sie wollte sich wieder ihrer Internetrecherche widmen, da trat Sophia Dressler in ihr Zimmer.

»Katharina, hast du einen Moment, ich müsste mal mit dir über Wolf reden. So geht das nicht weiter.«

Katharina schwante Ungemach.

»Seit zwischen euch nichts mehr läuft, ist er mir gegenüber unausstehlich. Ich weiß gar nicht, warum ich seit Wochen seinen Frust abbekomme! Und dann ewig diese blöden Sprüche, dass ich angeblich zu selten im Büro bin … und mein Privatleben nicht im Griff habe. Du weißt, dass ich mich zwischen dem Büro und zu Hause zerreibe, aber Sebastian und ich wollen unsere Kinder eben nicht ständig von anderen Menschen erziehen lassen.«

Auch Katharina fand zwar, dass Sophia für ihre Gewinnbeteiligung etwas mehr Arbeitseinsatz an den Tag legen könnte, aber die Kollegin tat ihr irgendwie leid.

»Ich weiß, Sophia, Wolf kann manchmal ein ausgesprochenes Ekel sein, aber du darfst das nicht persönlich nehmen. Was war denn der Anlass für eure Auseinandersetzung?«, wollte sie wissen.

»Ich sollte bis übermorgen für einen seiner Mandanten einen Ehevertrag entwerfen, aber ich habe morgen einen Kindergeburtstag auszurichten. Ich bin überhaupt froh, wenn ich so nebenbei gerade meine Tagespost erledigt bekomme«, sagte Sophia.

»Und wo ist das Problem? Dann kriegt er den Vertragsentwurf eben erst einen oder zwei Tage später«, antwortete Katharina.