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Martin Calsow

Quercher
und das Jammertal

Kriminalroman

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© 2018 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund
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E-Mail: info@grafit.de
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Umschlagfoto: © Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Kristijan Males (Gipfel), Protasov AN (Unwetter)
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
eISBN 978-3-89425-748-4

Über dieses Buch

Der Tegernseer Bauunternehmer Alois Rattler stirbt bei der Explosion seines Segelbootes. Die einstige Lehrerin des früheren LKA-Beamten Max Quercher glaubt nicht an einen Unfall und beauftragt ihn, Nachforschungen anzustellen – bevor sie selbst unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt.

Quercher findet heraus, dass ein russischer Oligarch im Tal Geld wäscht. Die Spur führt nicht nur weiter in die bayerische Staatskanzlei, sondern auch zu einer dubiosen Stiftung, die in undurchsichtige Parteifinanzierungen verstrickt zu sein scheint. Die Angst der CSU vor dem Machtverlust durch die Neuen Rechten und der Unmut der vermögenden Basis im Tegernseer Tal wird zu einer tödlichen Mischung für Quercher. Bald ist nicht mehr klar, wer von seinen Freunden vielleicht die Seiten gewechselt hat und gegen ihn arbeitet …

Der Autor

Martin Calsow wuchs am Rande des Teutoburger Waldes auf. Nach seinem Zeitungsvolontariat arbeitete er bei verschiedenen deutschen TV-Sendern. Er gehört der Jury des Grimme-Preises an und lebt heute mit seiner Frau am Tegernsee und in den USA. Neben der Quercher-Reihe erscheinen im Grafit Verlag auch Martin Calsows Atlas-Krimis.

www.martin-calsow.de

Das Buch widme ich meinen Geschwistern Carmen Hellige, Harald Calsow und Tanja Winkler

Präludium

Rottach-Egern

»Es sind diese Namen, die wir bald wieder vergessen werden. Maria, Mia und jetzt Susanna. Männer haben sie gequält, erstochen, erdrosselt. Männer, die im Zuge der Flüchtlingswelle nach Deutschland gekommen sind. Natürlich nur Einzelfälle, klar. Es sind nicht alles Terroristen, Sozialschmarotzer, Betrüger, Drogendealer, Kleinkriminelle, Mörder und Totschläger. Doch auch schon damals war klar: Öffnen wir unser Land für sie, zieht man auch Trittbrettfahrer an. Denn wer mit dem Paradies lockt, muss sich nicht wundern, wenn all jene, die außerhalb stehen, hineinwollen. Wer kann verübeln, wenn diese Menschen ihren Vorteil dort suchen, wo Gutes mit so viel Verständnis angeboten wird? Unsere Kanzlerin hat entschieden, die Grenzen nicht zu schließen. Sie hat einen umfassenden Kontrollverlust des Staates ausgelöst – keine der zuständigen Institutionen, von der Polizei bis zu den Gerichten, war auf diesen Ansturm eingestellt. Bis heute wissen wir noch nicht, wer alles warum zu uns gekommen ist. Natürlich wissen wir auch nicht, wer bleiben darf. Abgeschoben wird kaum einer. Und deswegen erheben wir, meist still, einen Generalverdacht. Einen, vor dem unermüdlich von den Gutmeinenden gewarnt wird. Es tut uns leid, weil dieser Verdacht zu Unrecht jene trifft, die unser Mitgefühl und unsere Hilfe verdienen. Es ist nicht ihre Schuld. Auch wenn wir von jenen Großjournalisten als deutsche Rassisten, als Fremdenhasser und als ›Rechte‹ tituliert werden. Das ist ein längst durchschautes Ablenkungsmanöver.«

Sie hielt kurz inne, verdrängte, dass ihre Hände zitterten. Ein kurzes Räuspern vertrieb ihre kleine Unsicherheit. Sie griff zum Evergreen der letzten Jahre: Merkel-Kritik.

»Die Verantwortung liegt allein bei der Kanzlerin. Wir schaffen das. Das hieß: Ihr schafft das. Ich bin dann mal weg. Das rächt sich. Wir rächen es.«

Die Zuhörer applaudierten spontan, klopften auf die Tische, Gläser klirrten. Die Frau wiederum war jetzt regelrecht erhitzt von ihrem Vortrag, genoss aber in vollen Zügen den Applaus sowie das wohlwollende Nicken ihrer Zuhörer und trank schnell einen Schluck von der Weißweinschorle, die vor ihr auf einem kleinen Tisch stand.

Sie war Mitte sechzig. Hinter ihr lagen lange Jahre des politischen Weges, der sie von ganz links nach ganz rechts geführt hatte. Wie immer in all den Jahren war sie sich ihrer Überzeugung sicher.

Das Haus der Gastgeber lag im Rottacher Geldghetto unterhalb des Wallbergs. Hierher zogen vor allem Menschen mit Vermögen und dem Wunsch nach Idylle. Die Grundstücke bekamen sie von einheimischen Erben, die viel von Heimat hielten, aber mehr noch von hoher Rendite.

Das Paar hatte die politischen Freunde zu einer Soirée der besonderen Art eingeladen. Dabei handelte es sich um eine exklusive Runde von Leuten, deren Treffen immer mit einem kurzen Impulsvortrag eines Gastes begannen. Heute war es eine Dame aus der längst untergegangenen Welt der westdeutschen Politik, die ihre Sicht, wie es in der Einladung geheißen hatte, »auf die drängenden Fragen der Zeit, der Umvolkung«, vortrug.

Sie hob zur Fortsetzung an. »Was ist der zivilisatorische Fortschritt unserer Nation? Es ist die ruhige Rede bei Konflikten. Getreu dem Motto: keine Gewalt. Aber das wird von den Orientalen als Schwäche ausgelegt. Diese Männer haben noch nie in einem demokratischen Land gelebt. Ihnen ist das leistungsorientierte … verzeihen Sie mir bitte, Monsignore …«, sie blickte bedauernd zu einem anwesenden kirchlichen Würdenträger, der ihr jedoch nur milde zulächelte, »… protestantische, europäische Arbeitskonzept fremd. In ihrer Welt sind Frauen nicht gleichberechtigt, sondern Menschen zweiter Klasse. Sie wissen nichts davon, dass Kindesmisshandlung und Tierquälerei verboten sind, dass unsere Polizei nicht korrupt ist und keine Folter anwenden darf. Diese Menschen staunen und lachen über die Zurückhaltung der Polizei wie in der Kölner Silvesternacht, sie verspotten eine humane Justiz und eine offene Gesellschaft. Und …« Es folgte eine sekundenlange Pause, die ihr nun die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicherte. »… Sie haben ein anderes Verhältnis zur Wahrheit – sie gilt als unhöflich.«

Es folgten Gelächter und ein langer Applaus.

Kapitel 1

Tegernsee

Es war das einzige Boot mit einem roten Segel. Ochsenblutrot. Das war ihr Wunsch gewesen. Weiß konnte jeder.

Es hatte eine geräumige Kajüte, in der man Nächte verbringen konnte, und war von jedem Ufer aus sofort zu erkennen. Boot 1 hatte er es getauft. Bei Außenstehenden erweckte das den Eindruck, als besäße er mehrere Boote gleichzeitig. Der eigentliche Grund aber war schlichter: Alois Rattler hatte keine Fantasie. Es war ein Boot. Es war sein erstes. Also Boot 1. Wenn es der Anstand nicht verböte, hätte er Viola auch mit ›Frau 2‹ angesprochen. Das wäre einfacher für alle Beteiligten, fand er.

Seine Frau Viola beherrschte diesen Sport, Rattler selbst war lediglich begabt für das Setzen und Reffen der Segel auf der zwölf Meter langen Jacht. Am Abend zuvor hatten seine Mitarbeiter das Boot in Bad Wiessee ins Wasser gelassen. Am Montag würden sie es wieder herausholen, auf einen Trailer bugsieren und über die Alpen nach Sardinien bringen.

Die Rattlers waren noch vor Sonnenaufgang am Steg erschienen. Sie wussten, dass der Südwind bis acht, spätestens bis neun Uhr für das Segeln geeignet war. Danach würden sie sich unter Deck zurückziehen.

Er hatte die Lebensmittel aus dem Auto, einem Bentley, geholt und hinunter in die Kajüte gebracht. Währenddessen hatte er innegehalten, weil er Viola etwas sagen wollte, aber im selben Moment war ihm entfallen, was es war.

Die Gasflaschen standen im Klubhaus in einem für sie vorgesehenen Schrank. Er wuchtete sie ebenfalls in das Boot und dachte einmal mehr, dass er zwei Flaschen für ihren Törn restlos übertrieben fand. Aber Viola hatte darauf bestanden, nachdem sie aufgrund eines leeren Gasvorrats vor Sardinien schon einmal nicht mehr das Essen aufwärmen und sich nur am Champagner schadlos halten konnte. Sie hatte damals bis Porto Cervo kein Wort gesprochen. Das war ihre Strafe für ihn gewesen. Sie wollte Perfektion. Und er hatte sie ihr jederzeit zu geben.

Jetzt, wo die Sonne über der Neureuth stand, würde der Wind nachlassen. Zeit, in der Kajüte das frühe Mittagessen vorzubereiten.

Alois saß ausnahmsweise am Steuerrad, die Jacht war nicht einmal dreihundert Meter vom Anlegesteg in Gmund entfernt. Drüben im Westen leuchtete Rattlers leer stehende Villa im Licht des Vormittags. Er würde sie in diesem Jahr auf den Markt bringen. Sie hatte sich gerechnet. Trotzdem stimmte ihn der Gedanke, das Anwesen an fremde Menschen zu veräußern, etwas wehmütig. Denn das repräsentative Gebäude war das Projekt seiner ersten Ehefrau Luise gewesen. Die Verhandlungen mit dem Bauern, die Streitereien mit dem Gemeinderat und den dreimaligen Wechsel des Architekten – das alles hatte er mit ihr durchgezogen. Aber sie war passé. Dafür hatte er nun die jüngere, ehrgeizigere und vor allem seinen dunklen Wünschen entsprechende Viola an Bord. Luise war immer seekrank gewesen. Viola hielt jedem Sturm stand. Dachte er, als er sein Gesicht in die Sonne hielt und tief durchatmete. Es roch etwas faulig, wie er fand.

»Was ist das?«, rief er hinunter in die Kajüte.

»Was ist was?«, kam es genervt zurück.

»Was ist das für ein Gestank?«, fragte er von oben und ärgerte sich im selben Augenblick. Viola hatte sich vor einem Jahr die Nase richten lassen, ihr Geruchssinn war seitdem nicht mehr zurückgekommen. Er hatte den Pfuscher durch Sonne, Mond und Sterne verklagt, ihn an einem Abend auf dem Parkplatz seiner Praxis abgepasst und ihm mit einer Eisenstange beide Hände zertrümmert. Aber riechen konnte Viola immer noch nicht.

»Ich rieche nichts«, erwiderte sie in diesem Moment überflüssigerweise.

»Schon okay, wollen wir mit dem Champagner beginnen?«, lenkte er ein.

»Erst die Arbeit, dann das Essen.«

Er verstand, kramte in der Tasche seiner weißen Segelhose nach der Tablettenbox und schluckte die blaue Pille trocken herunter.

»Klarmachen zum Ankern. Zieh dich aus.«

Er tat wie geheißen und legte seine Hose ab, während der eiserne Haken in die Tiefe rasselte. Kaum hatte Alois die drei Stufen zur Kajüte bewältigt, wo Viola auf ihn wartete, sah er die drei Kerzen, registrierte, wie seine Frau nach dem Feuerzeug griff. Hier unten nahm er den fauligen Geruch, der ihn an Deck bereits gestört hatte, noch stärker wahr, stellte aber keinen Zusammenhang her zwischen dem, was er sah, und dem, was er roch. Stattdessen freute er sich auf einen der seltenen romantischen Augenblicke mit Viola.

Ein Fehler.

Das Feuer. Das Gas. Die Enge.

Als Ingenieur hätte er es besser wissen müssen.

Kapitel 2

Gmund

»Es ist lässig, mit zwanzig Single zu sein. Das ist freie Auswahl auf dem Basar. Es ist nicht lässig, mit fünfzig Single zu sein. Das ist Resterampe.«

Max Quercher seufzte. Er hatte guten Willen zeigen wollen und war mit Arzu und ihrem Sohn Max Ali zu der Badestelle in Gmund gefahren. Früh morgens, noch bevor das Schadvolk aus München kam und die Idylle zertrampelte.

Hier waren der See und das Tal in ihrer ganzen Magie zu sehen. Weiter südlich, direkt auf der Grenze zu Österreich, prangten wie eine natürliche Barriere die Blauberge, schimmerten grau im Licht der Morgensonne. Der Wallberg, der in wenigen Stunden überfüllt mit Touristen sein würde. Quercher sah die Klosterkirche von Tegernsee und seinen Heimatort Bad Wiessee, in dem er nicht mehr lebte, seitdem er vor zwei Jahren für einen Auftrag in den Norden gezogen war. Vor drei Monaten war er jedoch wieder ins Oberland zurückgekehrt, im Zuge dessen aber nach Ostin auf die Ostseite in einen alten, renovierungsbedürftigen Bauernhof gezogen.

»Also, Arzulette, ich bin nicht fünfzig, ich bin neunundvierzig Jahre alt. Ich bin glücklicher Single. Das ist für dich als Alleinerziehende, die sich auf Partnerportalen ständig jünger und kinderlos macht, nicht zu verstehen. Aber mir geht es gut.«

Der nördlichste Badestrand war flach, was für den ›Sauschratz‹, wie Quercher Arzus Sohn nannte, ideal war. Der konnte dank seiner Hilfe immerhin schon schwimmen.

Querchers einstige Kollegin vom LKA hatte wie er den Dienst quittiert und ihn überredet, eine gemeinsame Firma zu gründen. Das erste Gespräch dazu hatte im Café Wagner in Gmund stattgefunden. Sie hatte ihm gegenüber gesessen und auf ihn eingeredet. Auch wenn das jahrelang nie funktioniert hatte – diesmal war es anders. Ihre Idee schien schlüssig zu sein.

»Internetkriminalität ist die heißeste Branche schlechthin. Identifikationsklau, Stalking, Mobbing, Phishing. Völlig egal. Ich bin die Expertin für das Netz, du machst die Arbeit vor Ort, beschmust die Kunden beziehungsweise die Kundinnen und wir machen uns ein nettes Leben hier draußen am See. Oder noch besser: Ich bringe eine Handvoll Kunden vom LKA mit, die sehr gern Beratung und Schutz haben wollen. Die sind bereit, jeden Preis zu zahlen, damit wir die Dinge für sie richten.«

Nach zwei Kännchen Kaffee, drei Mokkatortenstücken und einem Obstler hatte er schließlich zugestimmt. In den ersten Monaten ihrer Freiberuflichkeit saßen sie mit jungen Menschen in einem sogenannten Co-Working-Office in Gmund, bis Querchers Ex-Freundin den beiden eine Bleibe in einer ihrer zahlreichen Immobilien anbot. Er hatte sich anfangs dagegen gewehrt, wurde aber von den Frauen schlicht überstimmt. Somit hatten Arzu und er jetzt eine Bleibe in einer ehemaligen Traditionsgaststätte in Gmund direkt an der Bundesstraße gefunden.

Überhaupt Regina. Sie hatten sich nach seiner Zeit in Nordrhein-Westfalen im Guten voneinander getrennt. Kein Schreien, kein Weinen. Es hatte letztendlich einfach nicht gepasst. Regina hatte keine Lust mehr auf das Unstete, das ihre Beziehung immer geprägt hatte. Sie suchte Verlässlichkeit. Er wiederum konnte oder wollte ihr die nicht geben. Reginas Leben war zudem das Verwalten des Vermögens. Quercher hingegen hatte schlicht keins, kam zwar dank der Pension gut über die Runden, aber war dennoch weit entfernt von den Summen, die seiner Freundin zur Verfügung standen. Am schwersten allerdings wogen die unterschiedlichen sozialen Erwartungen. Regina traf ihresgleichen in München, Salzburg oder in den USA. Quercher war gern allein, und wenn er sich mit Menschen traf, handelte es sich zumeist um ehemalige Kollegen aus Weyarn, Dachau und Fürstenfeldbruck, die in Reginas Beisein tendenziell eher wortkarg waren. Reginas Freunde hatten jedoch in erster Linie Interesse an spannenden Polizeischnurren, die Quercher ihnen aber keinesfalls liefern wollte. Denn seine Arbeit war nicht spaßig gewesen. Sie bestand vielmehr aus dem täglichen Umgang mit dem Abgrund menschlicher Handlungen.

Einmal, ziemlich am Ende ihrer Beziehung, hatte er auf einer Party in einer Münchner Penthouse-Wohnung ein wenig die Nerven verloren. Eine Tochter aus reichem Hause hatte ihm ihr Manuskript für einen Krimi aufs Auge drücken wollen. Konstruierte Fälle, idiotische Dialoge – wie eben die meisten dieser Machwerke berufsfremder Schreiber. Quercher hatte sich eine Weile schweigend angehört, wie die Frau euphorisch von ihren Recherchen berichtete, ehe er sie irgendwann unterbrach und begann, ihr von seinem ersten Fall als Polizist zu erzählen. Interessiert hatten die anderen Anwesenden ihre Gespräche am Tisch beendet und auf eine reißerische Story gehofft.

»Wir kamen in eine Wohnung in einem sogenannten Problemviertel am Rande Nürnbergs. Jemand hatte sich anonym über das Bellen eines Hundes beschwert. Die Eltern waren Drogenabhängige. Eines der beiden Kinder, ein Junge, nicht einmal vier, hatte der Vater im Rausch auf den Balkon gezerrt. Mitten im Winter, draußen herrschten Temperaturen unter zehn Grad. Das zweite Kind, ein Säugling, war von der Mutter im Badezimmer eingesperrt worden, zusammen mit dem Kampfhund der Nachbarn. Wir haben alles getan, um das Baby zu retten. Haben Sie schon einmal versucht, ein von einem Hund zerfleischtes Stück Mensch zu reanimieren? Das hat unsere komplette Aufmerksamkeit erfordert. So vergaßen wir, auch den Balkon zu kontrollieren. Was dazu führte, dass der Junge erfror, während wir vergeblich versuchten, dem Säugling zu helfen.«

Der Rest des Abends verlief für Quercher eher schlecht.

Hinzu kam ein Wendepunkt, der weniger persönlich als politisch motiviert war. Regina hatte im letzten Sommer die Einladung zu einem Salon angenommen. Bei dem Vorstand eines börsennotierten Fernsehsenders hatten sich Schriftsteller, Journalisten und Wirtschaftsbosse versammelt. Sogar der eitle grüne Bürgermeister einer südwestdeutschen Stadt war dabei gewesen. Quercher war zudem die Enkelin eines bekannten Klavierunternehmers vorgestellt worden. Alles in allem eine Mischung, die Quercher schon auf dem Hinweg Magenschmerzen verursacht hatte.

Dennoch begann der Abend unerwartet witzig. Die Menschen waren locker, konnten mit Querchers Garstigkeit gut umgehen, zollten ihm für vergangene Ermittlungserfolge, von denen sie wohl durch Regina erfahren hatten, ihren Respekt. Es wurde etwas Fingerfood gegessen, ein junger Mann aus Eritrea servierte – für den Gastgeber eine der wenigen »gelungenen Integrationen«.

Aber dem Herrn des Hauses ging es an diesem Tag um mehr: Man wollte diskutieren, sich »austauschen« über die aktuellen Themen. Querchers Tischdame war eine attraktive Mittfünfzigerin, die er aus dem Fernsehen als Gerichtsreporterin und bekennende Feministin kannte. Sie hielt ein Eingangsreferat, nannte Zahlen über die Zunahme von Kriminalität unter Migranten und beschrieb Fälle von staatlichem Versagen, die, so sie denn der Wahrheit entsprachen, tatsächlich haarsträubend waren.

Das alles war zu erwarten. Denn reiche Menschen hatten grundsätzlich Angst vor Menschen, die nicht reich waren – Quercher kannte das von Regina. Sie hatten Angst vor Neid, vor Unverständnis für ihre überbordende Lebensweise, die für sie, eingelullt in ihren Kreisen, doch selbstverständlich war. Kritik von den unteren Schichten war unerwünscht. Man gab jederzeit gerne eine kleine Spende für die Minderprivilegierten, stellte sich auch für einen Fototermin an die Gmunder Tafel, gab mit einem reinen Lächeln Essen aus, doch wirkliche, nachhaltige Nähe galt es zu vermeiden.

Nach der Gerichtsreporterin erhob sich ein Mann, der Quercher fatal an die Figur Graf Zahls aus der Sesamstraße erinnerte. Hager, Hakennase, Mephisto-Frisur.

Quercher kannte ihn. Das war einer der Locher-Brüder. Mehrfache Millionäre, die hier im Tal in den vergangenen Jahren kräftig ihr Geld in Beton verwandelt hatten, zum Vorteil des eigenen Egos, zum Nachteil des Tals, wie viele Einheimische fanden, die aber dennoch ihre Grundstücke zum Verkauf gestellt hatten.

»Wir haben einen einst gefeierten Journalisten in unseren Reihen. Einer, der sich, kaum hatte er dem linksliberalen Mainstream den Rücken zugekehrt, neuen Ideen zuwandte, von den einst treuen ›Freunden‹ verspottet und letztlich mit einem Quasiberufsverbot belegt wurde. Matthias Miszschick!«

Alle hatten begeistert applaudiert, auch Regina, als ein älterer Mann ohne Hals, aber mit Brille den Raum betrat, sich an den Sesseln und Stühlen vorbeischlängelte, am Ende der Tafel positionierte und seine Ideen aus dem Stegreif vorbrachte. Leise und eindringlich, was das Publikum auf eine beunruhigende Weise unmittelbar mitzureißen schien, begann er seine Rede.

»Ein führender EU-Politiker wie Peter Sutherland träumt von der Abschaffung der Nationalstaaten. Für eine Bundeskanzlerin sind Deutsche bereits nur jene, ›die schon länger hier wohnen‹. Das Volk, von dem ›Schaden abzuwenden‹ sie geschworen hat, ist also nur ein vorüberziehender Nomadenstamm und die Flüchtlingskrise ein Streit um Weideplätze.«

Alle lachten, Quercher hatte auf seinen Teller gesehen und verstohlen nach seinem Telefon gesucht.

»Ein EU-Papier bezeichnet ›Flüchtlinge‹ als ›Neuansiedler‹. Warum wohl?« Er trank einen Schluck aus seinem Weißweinglas, ehe er fortfuhr.

Quercher hatte Regina, die ihm gegenübersaß, eine WhatsApp geschrieben. Hast du deinen Ariernachweis dabei?

»Führende Vertreter der Kirchen in Deutschland haben auf Bitten ihrer muslimischen Gastgeber bei einem Besuch auf dem Tempelberg das Kreuz von der Brust genommen, das Symbol, mit dem sie sich äußerlich zum Christentum bekennen, also versteckt. Andere Christen, die das in dieser Gegend tun, werden von jenen freundlich Bittenden geköpft. Macht uns das Angst?«

Mir macht Angst, dass ich noch nichts gegessen habe, tippte Quercher eine zweite WhatsApp.

Regina funkelte ihn daraufhin böse an.

»In Zeiten, liebe Freunde, in denen unsere politische Klasse des Weiteren vorschlägt, muslimische Lieder zur Christmette zu singen, was, nebenbei bemerkt, abgesehen von dem Affront gegen christliche Messbesucher auch für die angesprochenen Muslime unerträglich ist. Es würde selbstverständlich eine Einladung zur Häresie bedeuten. Wir Christen feiern an Weihnachten die Geburt des Messias. Es ist ein gedankenloser Versuch der Willkommenskultur, Unterschiede plattzusitzen. Es gibt, verehrte Freunde, Gründe für die Entstehung einer Identitären Bewegung. Es gibt den Zustrom von knapp einer Million antisemitischer, aufklärungsfeindlicher, analphabetischer Muslime. Es wird ernsthaft über verfassungswidrige Kinderehen diskutiert. Unsere Grünen begrüßen all das aus Folkloregründen, da es in den Herkunftsländern der Neuankömmlinge so Sitte sei.«

Der anwesende Bürgermeister zeigte auf sich und schüttelte heftig den Kopf. Der Gastgeber legte dem Mann daraufhin beschwichtigend die Hand auf den Arm.

»Die politischen Eliten in ihrem Selbstzerstörungskurs sind unrettbar«, fuhr Miszschick unbeirrt fort. »Die Multikulti-Elite ist in der Geiselhaft ihrer eigenen ideologischen Verblendung gefangen. Alle Versuche, ein neokonservatives Ventil für die Identitätsfrage zu finden und zu etablieren, sind gescheitert. Schon jetzt beginnt ein Abwandern enttäuschter ›Realos‹ in unsere Reihen. Es franst aus an den Rändern der etablierten Systemparteien. Ein Graben besteht zwischen Volk und sogenannter Elite. Es kommt zum Bruch. Viele Leute, die eigentlich nur ihr kleines Leben leben wollen, haben das Vertrauen in diesen Staat verloren. Der Mann wird im Job gemaßregelt, wenn er den falschen Witz reißt, gar als sexistisches Raubtier bezeichnet. Aber wenn der Orientale seine Frau schlägt, seine Tochter nicht zum Schwimmunterricht schickt, dann ist das eben nur ein kultureller Unterschied. Wenn die Frau im Geburtsvorbereitungskurs nur noch von Muslimas umgeben ist, die arabisch oder türkisch reden, dann soll sie das einfach klaglos ertragen. Es sind ja schließlich alles irgendwie Deutsche. Diese Menschen aber, die sich nicht mehr verstanden fühlen, blicken irgendwann scheu nach anderen Kräften und Leitfiguren, die Ordnung und Sicherheit ausstrahlen. Und genau darum soll es heute hier gehen: um die Frage nach Volk, Elite, Ordnungsmacht und dem kommenden Aufstand.«

An dieser Stelle hatte Quercher sich entschuldigt und war zu Fuß vom Leeberg nach Hause gelaufen. Er hatte nicht auf Regina gewartet. Sie schien den Abend genossen zu haben. Er nicht. Sie waren einfach verschieden. Diese Menschen, mit denen seine Freundin sich umgab, waren von seiner Welt, seiner Sicht der Dinge meilenweit entfernt.

Hinzu kam sein wichtigster Wunsch im Leben: Er war einfach gern allein. Nicht einsam. Wie er immer wieder betonte. Manchmal taten ihm familiäre Gefühle gut, so wie jetzt, als er auf einer großen Decke, faul einen Joint rauchend, in der Morgensonne lag und die Gesellschaft von Arzu und Max Ali genoss. Aber immer?

Wobei sich Quercher nicht sicher war, ob der eigentliche Auslöser für die Trennung von Regina weniger die politische Wende seiner Freundin, sondern vielmehr ein Schicksalsschlag gewesen war, der ihn persönlich weitaus stärker getroffen hatte.

Seine geliebte Hundedame Lumpi hatte plötzlich nicht mehr gefressen. Das war vor einem Jahr gewesen. Es war schwül, eine ungewöhnliche Frühsommerhitze lag über dem Tal. Quercher vermutete, dass dies der alten Dame aufs Gemüt und auf den Appetit schlug. Aber die Diagnose der Tierärztin war eindeutig: Ein Tumor, kinderfaustgroß an der Milz, ließ keine Wahl.

Quercher hielt Lumpis grauen Kopf im Arm, während das Gift ihren Körper durchzog, wickelte sie anschließend in ihr geliebtes Schafsfell, trug sie hinaus in den Wald, nahm den Spaten und hob eine tiefe Grube aus. Regina rief währenddessen den Schreiner Lercher an und bat ihn, für die Hündin eine Kiste zu zimmern. Lercher brachte sie wenig später zu Quercher und fuhr dann wieder schweigend davon. Bis zum Einbruch der Dunkelheit kniete Quercher vor dem kleinen Grab, seine Hand auf der frisch aufgeworfenen Erde. Niemand hörte, wie Quercher nicht aufhören konnte zu schluchzen. Bis er irgendwann wie leer war. Keine Träne, kein Wimmern mehr. Lumpi war gegangen. Jetzt war er allein.

Im Moment genoss er die wiedergewonnene Freiheit. Keine sozialen Verpflichtungen, keine stilvollen Abende mit lustigen Gesprächen, die er ungefähr so dringend brauchte wie Herpes.

Mit Regina war er für einige Zeit in die Welt der plappernden Paare eingetaucht. Wo man Geburtstage oder Jubiläen nicht vergessen durfte, wo ein kleiner Blues am Morgen sofort analysiert wurde. Wo ein harmloses Vorsichhinstarren zu sofortigen Arbeitsaufträgen führte. Wo man als Mann nur noch auf dem Klo seine Ruhe fand.

Jetzt lebte er in seinem unfertigen Bauernhaus, arbeitete mit der verrückten Arzu und machte genau das, was ihm Spaß bereitete. Und irgendwann war er sicher auch wieder für eine Bindung bereit – zu einer Hundedame.

Quercher schüttelte sich, um die Erinnerung zu vertreiben, und erhob sich. »Komm, Miss Turketta, wir gehen jetzt ins Wasser.«

Arzu schüttelte den Kopf. Sie hatte ihren Laptop mitgenommen und chattete mit einem Kunden. »Kann nicht. Einer muss schließlich das Geld verdienen. In zehn Tagen will deine Ex-Freundin unsere Firma prüfen. Da du dich bekanntermaßen eher ungern um doppelte Buchführung kümmerst, muss ich das ja machen.«

»Kann man Türkinnen in der Hinsicht trauen?«

»Garantiert mehr als abgehalfterten Bayern mit Hang zur Privatinsolvenz.«

Quercher nahm grinsend eine Flasche mit Sonnenmilch und spritzte größere Mengen davon auf ihren Rücken, wo er sie anschließend hingebungsvoll verteilte. Arzu war ihm als Frau egal – und er ihr sowieso. Irgendwann waren sie einfach zu Quasigeschwistern mutiert. Das hatte bisweilen schon groteske Züge angenommen. Zum Beispiel als Arzu einen Mann kennenlernen wollte und Quercher den Typen zunächst kontrolliert und zu guter Letzt für schlecht befunden hatte. »Du bist schlimmer als meine Brüder in Istanbul, du Vollchauvi!«, hatte Arzu sich echauffiert. Woraufhin Quercher lediglich gegrinst und sie den Typen in den Wind geschossen hatte.

»Max Quercher, werde erwachsen«, giftete sie und wischte sich die überschüssige Sonnenmilch, so gut es ging, vom Rücken.

»Ich werde erwachsen und lerne Buchhaltung.«

»Nachgewiesenermaßen sind Frauen die besseren Buchhalter.«

»Absolut. Gib Männern Geld, es ist weg. Gib Frauen Geld, sie kaufen eine Nähmaschine. Habe ich neulich noch gelesen. Eigentlich sind Frauen eh die besseren Menschen«, frotzelte er.

»Wenn du es doch nur einmal verstehen würdest«, erwiderte Arzu ungerührt. »Lass mich jetzt arbeiten und geh in dieser kalten Suppe da drüben schwimmen. Meine türkischen Knochen sind Wasser im warmen Zustand gewohnt, nicht so eklig eisiges. Im Übrigen kommt tatsächlich gleich noch deine Ex.«

Quercher tat unberührt. Aber Madame von Valepp hatte, wie Arzu ihm natürlich brühwarm mitgeteilt hatte, einen Neuen. Sie wusste nicht viel. Regina hielt sich bedeckt. Nur eine Tatsache hatte Arzu nicht für sich behalten können: Der Neue war deutlich jünger!

Das wiederum ließ Quercher nicht kalt. Im Gegenteil: Es kränkte ihn. »Solange sie ihren Loverboy nicht mitbringt …«, ätzte er.

»Uhhh, der alte Mann wird garstig, wenn der Nachwuchs kommt?«

»Ach was, da bellt der Mops die Sonne an. Wenn Regina junges Fleisch braucht, um wieder jünger zu wirken, bitte!«

»Oh, da schreit ja förmlich die verletzte Männerseele.«

Arzu feixte noch, als Quercher lapidar abwinkte und hoch erhobenen Hauptes Richtung Ufer lief.

Der Wind, der den Morgen über beständig von Süden her über den See gestrichen war, ließ nach. Das Wasser strahlte jedoch immer noch karibikgrün. An Sommertagen wie diesen war der See geradezu überirdisch schön. Fast jeder Geruch, den Quercher wahrnahm, erinnerte ihn an seine Kindheit. Das nasse Holz des Steges, der frisch gemähte Rasen und eben das Wasser des Sees, das einen unvergleichlichen Duft abgab.

Quercher war jetzt warm genug. Zeit, schwimmen zu gehen. Er klopfte sich auf den Bauch, strich über seine Narben an den Hüften und sah sich um. Links vor dem Strandbad Seeglas beendete ein Kitesurfer notgedrungen seinen Ausflug – der Wind war zu schwach. Auch die protzige Jacht mit dem knallroten Segel, die bereits seit geraumer Zeit ihre Runden zog, war offensichtlich genug zur Schau gestellt worden. Ein Mann ließ den Anker ins Wasser.

Sollte er springen oder langsam die Leiter hinuntersteigen? Vielleicht war Regina mit dem Nachwuchs-Lover gerade am See angekommen und würde Quercher beobachten? In dem Fall wäre das seniorenhafte Treppensteigen uncool.

Es war ihm nur für einen Moment nicht egal, welchen Eindruck er machte. Dann griff er beherzt nach dem Handlauf der Leiter und stieg hinunter. Die Stufen waren von Moos überzogen und rutschig. Er ließ sich ins Wasser gleiten, tauchte ab, blies die Luft aus seinen Lungen, öffnete die Augen und sah hinab in die Tiefe, ehe er sich an die Oberfläche zurückschraubte.

Ein Ruck, eine dumpfe Welle erschreckte ihn. Als Quercher auftauchte, musste er sich zunächst das Wasser aus den Augen reiben, um etwas erkennen zu können. Eine Rauchwolke stand über der Jacht, Flammen schossen in die Höhe. Nur eine Armlänge vor ihm entfernt schwammen Plastikteile, Tampen und Holz. Er vernahm Schreie und verharrte unsicher auf der Stelle. Ob er sich dem Boot nähern sollte? Vielleicht explodierte es noch einmal.

Quercher drehte sich in Richtung Steg, von wo aus Arzu mit anderen Badegästen das Geschehen verfolgte und mit den Armen ruderte. Sie standen etwas erhöht und konnten dadurch besser über das Wasser sehen als Quercher.

Im nächsten Moment bemerkte er, wie Menschen aus dem Loch krabbelten, das durch die Explosion in die Seitenwand der Kajüte gerissen worden war. Sie brannten lichterloh, wirbelten mit den Armen, versuchten, zwischen dem Relingsdraht hindurch ins Wasser zu gelangen. Doch das Segeltuch hatte Feuer gefangen. Der Wind riss es vom Mast, und ehe die beiden Personen sich in den See retten konnten, drückte der Stoff sie auf das Deck. Ihre Oberkörper und die Arme hingen über den Seilen der Reling und ließen sie wie angezählte Boxer aussehen. Nur dass sie bei lebendigem Leib verbrannten. Die Schreie der beiden Todgeweihten wurden immer wieder vom Knistern und Zischen der Flammen übertönt.

Quercher schwamm zu der Jacht, so schnell er konnte, sah dann aber, dass die Boote der Polizei und der Rettungswacht ebenfalls schon vor Ort waren, und drehte um.

In diesem Moment wurden die Reste des Segeltuchs ein letztes Mal vom Wind aufgewirbelt und gaben den Blick frei auf ein bizarres Bild: Wie Sonnenanbeter lagen die zwei Toten auf den brennenden Resten der einst so imposanten Jacht, die Arme wie bei einer Anpreisung weit auseinandergestreckt. Aus einigen Stellen der verkohlten Körper quoll Rauch.

Kapitel 3

München

»Ich habe immer ein schlechtes Gefühl, wenn jemand so spektakulär am Tegernsee stirbt«, murmelte Constanze Gerass, die Chefin des bayerischen LKA. Die Fünfundfünfzigjährige hatte in der Vergangenheit nicht nur mehrfach Erfahrungen mit aufsehenerregenden Todesfällen in dieser Gegend gemacht, sondern zudem auch einen renitenten Ermittler vor Ort gehabt – und beides hatte sie grundsätzlich an den Rand des Wahnsinns getrieben.

Ihr gegenüber saß Judith Goldberg, eine junge, aber bereits ausgesprochen erfolgreiche Ermittlerin. Sie war erst seit elf Monaten im bayerischen Landeskriminalamt, hatte aber schon eine Bilderbuchkarriere als Polizistin und Juristin hingelegt. Ihr letzter Fall war spektakulär durch die Presse gegangen. Sie hatte mit ihrem Team eine rechtsradikale Terrorzelle aufdecken und festnehmen können, kurz bevor dieser ein Anschlag gelungen war. Goldberg war Gerass’ Wunderwaffe, mit der sie bei dem Minister angeben konnte: klug, entschlossen, hoch analytisch und vorzeigbar. Es gab nur einen Schönheitsfehler: Die meisten Kollegen wollten nicht mit ihr zusammenarbeiten. Denn sie war als Streberin und Freundin der Chefin verschrien. Die hatte Goldberg auch der Presse als Vorzeigecop präsentiert. Hinzu kamen Fernsehinterviews. Die bayerische Polizei, modern und offen für leistungsbereite Frauen. Kam gut in der Staatskanzlei an, nur im LKA bildete sich der Neid und somit die Abneigung. Aber weder Gerass noch Goldberg selbst stießen sich daran – solange die Ergebnisse auf beiden Seiten stimmten.

Ihr Aufstieg bei der Polizei war kometenhaft. Keine Prüfung, die sie nicht als Beste abgeschlossen hatte. Bis zu ihrem einunddreißigsten Lebensjahr hatte sie diverse Dezernate in Bayern durchlaufen und hätte anschließend einen gut dotierten und vor allem sicheren Job im Ministerium annehmen können, wählte aber wiederum die Ochsentour und begann ein Jurastudium. Abends, wenn die Kollegen feierten oder zu ihren Familien gingen, büffelte sie und schloss dadurch auch das Studium in Rekordzeit ab. Judiths Leben war ein einziger Technodance. Monoton, aber laut, schnell und vor allem betäubend. Sie hatte sich schon kurz nach Eintritt in den Polizeidienst die langen Locken abgeschnitten und trug die Haare raspelkurz, ehe sie im Laufe der Karriere wieder wuchsen. Jetzt waren sie schwarz, wellig und reichten bis zur Hüfte. Offiziell gab es keinen Freund, geschweige denn einen Ehemann. Hinter ihrem Rücken wurden deshalb Gerüchte über ihre sexuelle Präferenz gestreut. Doch das war ihr egal. Sie liebte einen Kollegen – heimlich. Das Ganze offiziell zu machen, war nicht möglich – es wäre der Karriere nicht dienlich. Das sprach sie dem Kollegen gegenüber aber nie aus. Dachte sie daran, drückte sie unwillkürlich ihren Daumennagel in den Arm, bis ein Bluterguss folgte.

»Sie sind jetzt fast vierzig Jahre alt«, sagte Constanze Gerass, während sie aus dem Fenster blickte. Ihr Finger klopfte dabei stakkatoartig auf das Fensterbrett. Eine Bewegung, die ihr selbst nicht mehr auffiel, wenn sie nicht jemand darauf hinwies. Ein Zeichen, dass sie hoch konzentriert war. Bereit zum Sprung.

»Achtunddreißig.«

»Wie bitte?«

»Ich bin achtunddreißig Jahre alt.«

»Die Aktion mit den Nazis lief gut, aber … also …«

»Brachte mich zu sehr mit den Kollegen vom Verfassungsschutz in Kontakt?«

Gerass war überrascht. Judith Goldberg schien ihre Gedanken und ihre Schlussfolgerungen schon weit im Voraus erahnen zu können. »Ja, das muss mit einer positiven anderen, möglichst rein kriminalistischen Sache aus dem Blickfeld verschwinden.«

»Das verstehe ich.«

»Sie haben den Tegernsee-Fall bekommen. Das ist ein regionaler Fall, der kaum Potenzial für Schlagzeilen jenseits der Heimatzeitung haben dürfte.«

Goldberg schwieg. Das war natürlich alles nicht so lokal, wie Constanze Gerass es beschrieb. Denn sonst wäre der Fall nicht beim LKA gelandet.

»Geben Sie mir doch einen ersten Überblick.«

Judith Goldberg nickte und drückte auf eine kleine Fernbedienung, woraufhin ein Beamer Bilder auf eine der Zimmerwände projizierte. Zeitgleich rumpelten Jalousien vor den Fenstern herunter. »Die Kollegen von der Kripo in Miesbach haben bereits eine Menge Vorarbeit geleistet. Erstes Bild: Alois und Viola Rattler. Er wurde dreiundsechzig Jahre alt. Bauunternehmer mit verschiedenen Schwerpunkten: Baustoffhandel, eine Spedition, Umweltsanierung und Immobilienentwicklung. Seine Frau Viola, sechsundvierzig Jahre, Rechtsanwältin. Hat in der Kanzlei des Politikers Garzweiler gearbeitet, wechselte in das bayerische Justizministerium, wurde dort …«

»Ja, ist bekannt. Die Affäre Zweigert. Hat aber nach allem, was wir bislang wissen, keine Verbindung mit dem Unfall«, unterbrach die Chefin sie abrupt.

Goldberg zog erstaunt die Augenbrauen hoch, woraufhin Gerass unmittelbar gereizt reagierte. Sie hatte sich die Karriere bis zur Chefin des bayerischen LKA mit Bissigkeit und Erfolgen erkämpft. Als Frau wusste sie, dass man sich immer wieder Respekt verdienen musste. Die junge Kollegin war zwar durchaus auch bissig und durchsetzungsfähig, ähnelte ihr vielleicht sogar in vielerlei Hinsicht. Aber dennoch hatte sie ihr als Vorgesetzte Respekt zu zollen. Und das würde Constanze Gerass ihr in der nächsten Zeit auch unmissverständlich klarmachen.

»Ein Wachmann fand sie am späten Abend in recht zweifelhafter Pose in ihrem Büro. Er soll gefesselt gewesen sein und eine Windel getragen haben. Bekannt«, ergänzte Gerass.

Keine der Damen schmunzelte. Beide wussten, dass sich der Ministerialbeamte Zweigert nach Durchsickern dieser Affäre vor den Regionalzug nach Ingolstadt geworfen hatte.

»Nun zum Tathergang«, nahm Judith Goldberg den Faden wieder auf, ohne auf den Kommentar ihrer Chefin weiter einzugehen. »Zweites Bild: die Jacht Boot 1, zwei Jahre alt, auf einer Schiffswerft am Ammersee exklusiv für Rattler gebaut. Er und seine Frau wollten sich an diesem Sonntag noch zu einem kleinen Törn aufmachen, ehe das Boot nach Sardinien überführt werden sollte, wo die beiden an der Costa Smeralda ein Ferienhaus besitzen. Um 07:12 Uhr hatten sie den Hafen in Gmund verlassen, waren fast zwei Stunden im nördlichen Teil des Sees unterwegs. Hierzu gibt es mehrere übereinstimmende Zeugenaussagen, zudem können wir das auch anhand des GPS-Signals beider Handys verifizieren. Das Boot ist auffällig wegen seiner roten Segel. Man kennt es dort in der Gegend. Um 09:05 Uhr warfen sie südlich vom Gmunder Strand den Anker aus, gingen beide hinunter in die Kajüte.« Goldberg drückte erneut auf die Fernbedienung in ihrer Hand. »So, drittes und viertes Bild. Ich lege sie einmal nebeneinander.«

Völlig unberührt schauten die beiden Damen auf die Fotos, die die zerstörte Kajüte der Jacht zeigten. Brand- und Explosionsspuren ließen eine schnelle Orientierung für den Betrachter kaum zu. Goldberg musste mit einem Laserpointer die Details erklären.

»Hier am Bug des Schiffs lag das große Bett. Es war quasi der Form des Schiffskörpers angepasst und verjüngte sich nach vorn. Links befand sich die Toilette mit Dusche, rechts die Küche mit Stauraum. In der Mitte stand ein Tisch. Der ist vollständig aus der Verankerung gerissen worden, hat aber die Wucht der Explosion abgemildert, denn er wirkte wie ein Bollwerk für die auf dem Bett liegenden Rattlers. Lediglich Viola Rattler wurde der rechte Arm fast abgerissen. Auch Teile der Rücken- sowie der Kopfhaut wurden sofort verbrannt. Dennoch verlor die Frau nicht das Bewusstsein. Ich darf an dieser Stelle der toxikologischen Untersuchung vorgreifen: Viola Rattler hatte kurz vorher größere Mengen Kokain und blutdrucksteigernde Mittel eingenommen.«

»Abhängigkeit?«

»Vielleicht. Zwar regelmäßiger Konsum, aber nicht so stark, dass die Rechtsmedizin Schädigungen erkannt hat.«

»Gut, dann fahren Sie bitte fort.«

»Wir haben nach Rücksprache mit der Spurensicherung, den Technikern hier aus dem Haus und der Kripo in Miesbach folgende Theorie: Offensichtliche Explosionsursache waren zwei handelsübliche Propangasflaschen. Eine davon war undicht. Das Gas entwich, wurde von einer Kerze am Boden entzündet, woraufhin es in der Folge zu einer Verpuffung kam. Die wiederum ließ die zweite Flasche explodieren. Diese Detonation erfolgte im Unterschrank der Spüle, zerriss das Metall, entzündete wiederum zwei Kanister Speiseöl und Putzmittel. Über dem Bett …«, Goldberg leuchtete mit dem Pointer an eine Schrankwand, »… standen mehrere Flaschen hochprozentigen Alkohols, die ebenfalls zerbarsten durch die Wucht der Explosion. Die Flüssigkeiten ergossen sich über das auf dem Bett liegende Paar. Rattlers gerieten in Flammen, fanden aber den Weg ins Freie. Das Dach der Kajüte war weggesprengt worden. Dadurch hatten sich die Segel entzündet. Die beiden Verletzten kletterten von der Steuerbordseite, also rechts, an Deck, das von einer Stahlseilreling eingefasst war. Von hier aus wollten sie ins Wasser springen, doch das herunterfallende brennende Segel machte den Plan zunichte. Beim Eintreffen der Rettungsmannschaften waren bereits beide Personen tot. Todesursache bei Alois Rattler war ein zweifacher Herzinfarkt und bei der Frau polytraumatische Verletzungen, die zu einem Schock führten. Außerdem kollabierte die Lunge. Viola Rattler ist quasi erstickt. Ihr Mann zeigte zwar beim Eintreffen der Rettungskräfte noch letzte Lebenszeichen, verstarb dann aber vor Ort.«

Gerass nickte. »Also, Unfall oder Anschlag?«

Ein Sekretär trat ein, grüßte Goldberg kühl und wisperte Gerass etwas ins Ohr.

Die nickte und nahm dem jungen Herrn mit der Undercut-Frisur eine Tasse Tee aus der Hand. »Wollen Sie auch etwas trinken, Frau Goldberg?«

»Cola light, bitte.« Kaum war die Tür geschlossen, fuhr Goldberg fort. »An den Körpern der beiden Toten wurden keinerlei Hinweise auf Gewalteinwirkung gefunden. Das Boot ist von der Kriminaltechnik ausführlich begutachtet worden. Es konnte aufgrund des massiven Schadens nicht weggeschleppt werden, sondern wurde stattdessen mit aufblasbaren Tanks gesichert. Vier Tage später sank es aber trotzdem nach einem heftigen Sturm im Tal und liegt jetzt auf circa siebzig Metern Tiefe. Die üblichen Arbeiten der KTU waren zu diesem Zeitpunkt aber schon abgeschlossen. Sie hatten keine Hinweise auf eine Manipulation der Gasflaschen ergeben. Also sind wir so weit sicher, dass es sich um einen Unfall handelte. Unsachgemäßer Betrieb von Propangasflaschen auf engem Raum. Kein Einzelfall.«

»Aber?«

Goldberg zögerte einen Moment, denn ihr war bewusst, dass sie jetzt dünnes Eis betrat. »Rattler wollte immer eine große Nummer im Tal werden. Verscherzte es sich mit dem Gemeinderat. Kaufte Gasthäuser und Almen, um sie wenig später zu schließen. Einfach, weil er beleidigt war und weil er es konnte. Seine Frau war Rechtsanwältin im Tal, legte sich mit allen und jedem an. War schlicht verhasst. Aber: Familie Rattler spendete jedes Jahr im hohen fünfstelligen Bereich an die CSU im Bezirk Oberland.«

Gerass rieb sich die Augen. In fünf Minuten stand das nächste Meeting auf dem Programm, Thema ›Islamisten in Unterfranken‹. Sie musste aufs Tempo drücken. Spendengelder waren jetzt nicht der Schwerpunkt ihrer Arbeit. »Gut, ich muss ja nun nicht in jedes Detail dringen, Frau Goldberg. Was ist denn nun Ihre Schlussfolgerung: Unfall oder Fremdverschulden?«

Goldberg konnte ihr Erstaunen über die Frage nur schwer verbergen. Für sie war die Spendengeschichte alles andere als unwichtig. Sie hatte noch über verschiedene Zeugenaussagen sprechen wollen. Aber ihre Vorgesetzte war ungeduldig.

»Es gibt keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung«, antwortete sie deshalb. »Aber Rattler hatte genügend Feinde. Das will in seiner Gehaltsklasse zwar nicht zwingend was heißen. Aber er war zum einen im Baugewerbe tätig. Zum anderen machen Großspenden, die irgendwann nicht mehr erfolgten, auch keine Freunde. Kurz: Motive gäbe es genug, Hinweise auf einen Mordanschlag nicht.«

Gerass erhob sich aus ihrem Stuhl, um zu signalisieren, dass das Treffen hiermit beendet war. »Wir könnten das Boot heben«, sagte sie. »Den genauen Tathergang mithilfe einer 3-D-Tatort-Ausmessung nachstellen. Wir könnten zudem in Rattlers Bekannten- und Freundeskreis sowie bei seinen Geschäftspartnern auf den Busch klopfen.« Sie warf Goldberg einen prüfenden Blick zu. »Würden Sie es tun?«

Goldberg sah an Gerass vorbei, hinaus in den Sommertag von München. Wenn sie Nein sagte, könnte sie endlich zwei Tage freimachen und ausschlafen. Bei einem Ja würde sie die nächsten Tage mit Aktenstudium und Zeugenaussagen im Präsidium verbringen. Manchmal sind die Dinge eben schlicht, dachte sie.

»Nein.«