image

Peter Godazgar (Hg.)

Die Stadt, das Salz
und der Tod

Mörderisches aus Halle an der Saale

Kriminalstorys

image

© 2018 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: info@grafit.de
Alle Rechte vorbehalten.
Die Veröffentlichung dieser Anthologie erfolgte mit der
Unterstützung des Syndikats e. V.
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Oleg Golovnev (Hintergrund), KHIUS (Rabe)
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
eISBN 978-3-89425-739-2

Über das Buch

Halle an der Saale ist eine Stadt der Superlative: älteste Bruderschaft, älteste dauerhaft existierende naturforschende Akademie, ältester weltlicher Knabenchor, älteste Schokoladenfabrik. Und nun ist sie auch noch die Stadt mit den schönsten Mordgeschichten.

Uwe Schimunek

Halle (üb)erleben

Innenstadt

Mir bleibt ungefähr eine halbe Stunde. Der Mann steht vorm Roten Turm und lauscht der Stadtführerin. Er sieht aus, als empfange er eine Offenbarung. Seine Verkleidung ist perfekt. Niemand auf der Welt würde den Kasper in seinen Shorts und dem Hawaiihemd für einen Kurier halten. Ich betrachte den Kerl im Spiegel. Die Scheibe der Wurststandtheke ist nicht gerade, der Mann wirkt dünner und länger, als er ist. Doch der Boss hat mir ein Foto gezeigt. Und gesagt, dass der Bote zur Tarnung eine Stadtführung machen würde, um die Daten an der Moritzburg zu übergeben.

»Hast du ein Bonbon?«

Neben mir steht ein Bengel von vielleicht acht Jahren, er trägt ein Bayern-München-Trikot. Den kann ich gerade nicht gebrauchen.

Ich beuge mich zu dem Knilch hinunter und flüstere ihm ins Ohr: »Ich esse niemals Bonbons. Mir schmecken kleine Kinder viel besser. Am liebsten mag ich die Ohren. Darf ich dir eines abschneiden?«

Der Junge guckt mich mit aufgerissenen Augen an. Für einen Moment steht er starr da. Dann schreit er: »Mama! Mama!«, und rennt weg. Zu so einer Tussi mit Jeans, Hornbrille und Lederjäckchen.

Ich schleiche mich lieber davon, ehe die Olle mir noch eine Szene macht. Im Getümmel vor einem Obststand tauche ich unter.

Hunderte Hallenser sind unterwegs und stopfen ihre Körbe voll, als würde morgen wieder die DDR ausgerufen werden.

Die Rentner an den äußeren Stiegen reichen mir nur bis zur Schulter. Nicht gut. Bei den Avocados stehen ein paar langhaarige Studenten. Da kann ich mich besser verstecken.

Ich nehme eine Frucht in die Hand und schaue rüber zum Turm. Die Stadtführerin trägt eine Baskenmütze über den blonden Locken und hält ihren Vortrag mit Hingabe. Sie zeigt auf eine Steinfigur am Gemäuer. Darunter wurden früher Bösewichte hingerichtet, sagt sie. Vielleicht hat der Rote Turm seinen Namen sogar von dem Blut, das dabei vergossen wurde.

Das gefällt mir. Ja, hier kann ich mir ein paar Jährchen vorstellen. Der Boss hat mir das Gebiet bis rüber nach Leipzig versprochen, eine Handvoll Männer zu meiner Verfügung und einen guten Anteil an den Geschäften. Der Bote und seine Handydaten sind meine Bewährung, meine Chance nach all den Jahren. Der Boss wechselte in diesen leisen Tonfall, als er von dem Smartphone sprach. Wenn er so redet, versteht er keinen Spaß. Deswegen laufe ich jetzt auch herum wie ein Prolet am Markttag – mit Jeans, T-Shirt, Basecap und Umhängetasche. Was tut man nicht alles für die Karriere.

Drüben berichtet die Stadtführerin über die Sanierung des Turms durch die stolze Hallenser Bürgerschaft im 19. Jahrhundert. Es klingt, als würde sie über Paris oder Florenz reden und nicht über Halle an der Saale. Hauptsache, sie hält den Mann bei Laune.

Läuft. Der Kerl guckt am Gemäuer hoch, als betrachte er den Eiffelturm. Über der Hüfte baumelt so eine Touristentasche. Als würde es ihm helfen, dass er sein Zeug vor dem Bauch trägt wie ein Känguru. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn er einen Designeranzug tragen würde wie auf dem Foto, käme ich nicht so leicht an sein Smartphone heran.

Die Stadtführerin berichtet gerade über das größte Glockenspiel Europas. Und zu jeder Stunde gibt es irgendein Händel-Gebimmel. So wie beim Big Ben in London. Ich habe das vorhin gehört. Klang eher wie Bennilein am Xylophon. Als wären bei der Überfahrt nicht nur der Tower, sondern auch die Glocken geschrumpft. Passiert das immer, wenn man nach Halle kommt?

Das erklärt die Stadtführerin nicht. Sie kündigt einen kurzen Fußweg an und hebt ihren Schirm in die Höhe. Fein, da kann ich der Truppe mit Abstand folgen.

Ich lege die Avocado zur Seite. Der Verkäufer, ein kleiner Mann mit asiatischem Gesicht, kommt näher und grinst. Ich werfe ihm einen Blick zu, der jede Frage verbietet. Erst verschwindet das Lächeln und dann der ganze Mann. Ich trotte los.

Auf dem Weg zum Kleinschmieden wird es eng. Der Schirm kommt kaum voran. Ich gucke auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten – dann erwartet der Boss die Übergabe an den Kontaktmann im Café nt. Langsam muss ich die Augen nach einer Gelegenheit offen halten.

Eine Straßenbahn rattert uns entgegen. So schnell, dass ich mich frage, ob der Fahrer die Menschen darin befördert oder die draußen jagt. Immerhin klingt sein Gebimmel nicht so heiser wie das aus dem Roten Turm.

Ich trete zur Seite und recke dem Fahrer meinen Mittelfinger entgegen. Dafür ernte ich eine weitere wütende Klingel-Arie und ein Kichern zweier besoffener Muttis. Ist mir beides egal. Ich beobachte lieber den Mann mit dem Kängurubeutelchen.

Er ist an der Ecke Große Nikolaistraße, Große Ulrichstraße stehen geblieben und lauscht wieder der Stadtführerin. Die erzählt gerade stolz vom Einkaufszentrum Rolltreppe. Das heißt so, Überraschung, weil es darin eine Rolltreppe gibt. Schon immer. Genauer gesagt, schon in den finsteren DDR-Zeiten – und damals war das noch eine echte Sensation. Ein Sportladen im Erdgeschoss heißt Cierpinski. So wie der berühmte Marathonläufer aus dem Osten. Die Stadtführerin imitiert jene legendäre, schon fast antike Radioreportage und ruft: »Liebe junge Väter oder angehende, haben Sie Mut! Nennen Sie Ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar!« Ihre Zuhörer gucken befremdet. Sind halt aus dem Westen und kennen nur: »Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen!«

Jetzt ist die Zeit gekommen. Die Stadtführerin hebt gerade ihren Schirm, als ich das Messer aus dem Gürtel ziehe und auf die Gruppe zugehe.

Ich senke den Blick. Spanne die Muskeln an. Kreuze die Hände vor der Brust. Werde schneller. Nur die Bauchtasche im Blick.

Mit der Schulter remple ich eine Omi an. Sie stolpert mitten in die Gruppe. Die Touristen stoßen gegeneinander wie Dominosteine. Beschimpfen die Oma. Quaken wie Enten. Stützen sich gegenseitig, als herrsche Seegang.

Und ich bin mittendrin. Treibe auf den Mann zu. Komme ihm näher und näher. Er hält sich an einem Alten mit buschigem Schnurrbart fest.

Jetzt. Mit zwei Schnitten trenne ich das Kängurubeutelchen vom Gurt und lasse es samt dem Messer in meine Umhängetasche gleiten. Gelernt ist gelernt.

Ich tauche durch den Pulk und richte mich auf. Freundlich sage ich »Tschuldigung!« und drehe in die Große Ulrichstraße ab. Das Fluchen hinter mir wird leiser. Ich höre, wie die Gruppe weiter auf die Oma einredet. Die Alte zetert zurück.

Ein paar Meter gehe ich noch und zähle dabei die Schritte. Als ich bei dreißig angekommen bin, stelle ich mich in eine Toreinfahrt und schaue mich um. Von der Touristengruppe ist nichts zu sehen. Von der Oma auch nicht. Wahrscheinlich haben die Urlauber die Alte einfach stehen lassen und setzen ihre Runde in der Großen Nikolaistraße fort, Richtung Kleine Uli – wie die Hallenser die Kneipenmeile in der Kleinen Ulrichstraße nennen. Da bleiben dem Blödmann noch ein paar Minuten bis zur Moritzburg, bevor der Stadtrundgang für ihn endet. Und vermutlich nicht nur der. Denn der Bursche hat bestimmt auch einen Boss, der in Geschäftsangelegenheiten keinen Spaß versteht.

Egal, nicht mein Problem. Ich trotte in den Hinterhof. Neben ein paar Mülltonnen bleibe ich stehen und öffne das Kängurubeutelchen. Die Brieftasche enthält eine Visa Card, eine BahnCard 50, eine Monatskarte für die Berliner Verkehrsbetriebe. Alle sind auf den Namen ›Frank Schmidt‹ ausgestellt, auf keiner befindet sich ein Foto. Der angebliche Herr Schmidt scheint weder Ausweis noch Führerschein dabeizuhaben.

Originell finde ich den Namen nicht – der Kerl könnte mein Bruder sein, denn in meinem Ausweis steht gerade ›Thomas Schmidt‹. Immerhin finde ich im Beutelchen meines Künstlernamensvetters Bares. Die Scheine stecken in einer Banknotenklammer, wie sie Mafiosi in Hollywoodkomödien haben. Ich nehme sie heraus – über dreihundert Euro.

Die Brieftasche schmeiße ich in den nächsten Mülleimer und stöbere weiter. Zwischen einer Schachtel Zigaretten und einem Faltplan von Halle liegt das Smartphone. Ich streiche über das Display. Natürlich gesperrt. Doch wie sagt der Boss immer: ›Ein Code ist nie sicher, höchstens teuer.‹

Das Beutelchen mit Kippen und Feuerzeug fliegt in hohem Bogen in die Tonne. Geld und Handy stecke ich in meine Umhängetasche.

Ein Blick auf die Uhr, mir bleiben zehn Minuten. Perfekt. Ich schlendere durch die Toreinfahrt zurück zur Straße.

»Da ist der Mann!« Der Bengel von eben steht auf dem Gehweg. Seine kleine Rotznase ist gegen das Licht fast nicht zu sehen. Doch das Bayern-Trikot erkenne ich sofort. Wie kommt der hierher?

Seine Mutter taucht hinter ihm auf und stürmt auf mich zu. Sie sieht aus, als käme sie aus einem Exorzistenseminar.

Ich versuche, ihr auszuweichen. Doch sie springt mir in den Weg wie eine Furie und stupst mich mit ihren Patschhändchen zurück zum Hinterhof.

Normalerweise schlage ich keine Frauen. Also, wenn sie keinen Ärger machen. Doch jetzt bleibt mir nichts anderes übrig. Ich balle die Faust.

»Hey! Mann!« Der Typ in den Shorts und dem Hawaii-hemd steht in der Toreinfahrt. Der auch noch?

Er kommt auf mich zu. »Was bist du denn für ’n Amateur? Denkste, ich laufe bei so ’ner Prüfung alleine durch die Scheißstadt? Und tapst hier rum wie ’n Elefant? Mann, Mann!«

Ich lasse die Faust sinken und überlege, wie ich abtauchen könnte. Der Hof ist von Mauern umringt. Raus geht’s nur durch die Einfahrt.

Der Mann wendet sich an die Furie und sagt: »Liebling, würdest du den Jungen kurz mitnehmen? Ich erledige das hier.« Er klingt freundlich, geht aber weiter auf mich zu.

Am besten warte ich, bis die Tante weg ist, und spurte dann los.

»Darling, lass mich das machen.« Die Frau klingt nicht mehr wie eine Furie, eher als würde sie die Worte zwitschern.

»Na gut«, sagt er und schaut mich nicht mal mehr an, sondern geht einfach mit dem Bengel auf die Straße.

Ich mache mich zum Sprint bereit und gucke zur Frau. Die zieht eine Wumme aus ihrem Rucksack. Mit dem Schalldämpfer sieht das Ding so lang aus wie ein Gewehr. Sie zielt auf meinen Kopf.

»Mal ganz ruhig«, sage ich. »Wir wollen es doch nicht übertreiben.«

Sie sagt nichts.

Ich ziehe Geld und Handy aus der Tasche. »Hier, das könnt ihr gern zurückhaben. Der Rest liegt hinten in der Tonne.«

»Die Ohren wolltest du dem Jungen abschneiden?«, fragt sie. Bevor ich antworten kann, fährt sie fort: »Ich werde dem Boss deine Ohren schicken. Und ihm sagen, dass er bei der nächsten Prüfung einen Rundgang durchs Klärwerk buchen soll. Ich habe keine Lust mehr, alle naselang eine Leiche aus der Innenstadt verschwinden zu lassen.«

Sie sagt’s und drückt ab.

Ralf Kramp

Kugeln vom Killer

Halloren Schokoladenfabrik

Als Mackensen zu Doberschütz ins Auto stieg, hatte er Mühe, seine Abscheu zu überwinden. Man musste wirklich nicht sonderlich pingelig veranlagt sein, um sich im Innenraum des völlig verdreckten Ford Focus unwohl zu fühlen. Die Scheiben waren nikotingelb, das Armaturenbrett war verstaubt und voller Sprenkel getrockneter undefinierbarer Flüssigkeiten. Aus jeder Nische quollen Plastikfolie, alte Pappbecher und zerknüllte Brötchentüten hervor, jede Ritze war verstopft mit Krümeln und Schmutz.

Mackensen hatte seinem Chef schon mehrfach angeboten, ihn mit seinem Auto abzuholen, aber Doberschütz hatte nur abfällig gegrunzt und ein »In Ihre scheißkleine Schleuder quetsche ich mich nicht noch mal rein« zwischen den wulstigen Lippen hervorgepresst.

Doberschütz saß da, den Blick verfinstert, den kleinen Schnurrbart angriffslustig gesträubt, den fetten Bauch gegen das Lenkrad gepresst. »So, und wohin soll’s nun gehen?«, raunzte er.

»Ins Charlottenviertel«, sagte Mackensen beflissen und guckte auf die Uhr. »Wir dürften gerade noch rechtzeitig da sein.«

»Ging nicht früher«, brummte Doberschütz und scherte aus der Parklücke aus. Hinter ihnen hupte jemand und Mackensens Chef röhrte: »Schnauze, du Arschgesicht!«

Als sie sich auf den Verkehr auf der Kröllwitzer Straße einfädelten, um die Saale zu überqueren, stellte Doberschütz die unvermeidliche Frage: »Und jetzt erklären Sie mir mal, warum das hier alles so verdammt geheim ablaufen soll. Wieso um halb neun abends, außerhalb der Dienstzeit? Was ist das für eine Extratour, Bürschchen?«

Gregor Mackensen hatte sich alles zurechtgelegt. Es war noch nie einfach gewesen, seinen Chef von irgendetwas zu überzeugen. Kriminalhauptkommissar Wilfried Doberschütz ließ gemeinhin keine anderen Meinungen als seine eigene gelten. Scharfsinnige Kollegen waren ihm ein Graus, und übereifrige Beamte bremste er brutal aus. Es war also angeraten, planvoll an die Sache ranzugehen.

»Na los«, blaffte Doberschütz, »spucken Sie’s aus. Ihr geheimnisvolles Getue geht mir schon seit ein paar Tagen auf den Sack.«

»Also, es ist so, Chef …«

Gerade wollte Mackensen loslegen, da unterbrach Doberschütz ihn auch schon wieder: »Gucken Sie mal, ob im Handschuhfach noch irgend so ’n Schokoriegel drin ist.«

Abgesehen davon, dass Mackensen bei dem Gedanken, mit den bloßen Händen das Fach zu öffnen, nackter Ekel packte, lieferte ihm Doberschütz mit seiner unstillbaren Fressgier einen viel besseren Einstieg in die heikle Erklärung. Er griff in den auf seinem Schoß ruhenden Umhängebeutel und förderte eine kleine Schachtel zutage. »Halloren Kugeln«, sagte er lächelnd. »Das ist viel besser als irgend so ein Schokoriegel.«

Doberschütz warf ihm einen schnellen, skeptischen Blick zu. »Was soll das? Wollen Sie sich lieb Kind machen, oder was?«

»O nein, Chef, das hat etwas mit unserem Einsatz zu tun.«

»Aufmachen«, knurrte Doberschütz.

Mackensen tat, wie ihm befohlen, und im nächsten Moment grabbelte sein Chef mit den Wurstfingern in der Schachtel herum, förderte ein paar Schokokugeln zutage und stopfte sie sich in seinen gefräßigen Mund.

»Alchfo«, schmatzte Doberschütz. »Ichföre.«

»Ich hatte zwei Wochen Urlaub«, begann Mackensen. »Wie Sie vielleicht wissen, reise ich nicht so gerne.«

Doberschütz brummte, ohne dass erkennbar war, ob es Zustimmung oder Spott signalisieren sollte.

»Also, Flugzeuge und so was kommen für mich nicht infrage. Am liebsten bleibe ich zu Hause. Wenn es unbedingt sein muss, fahre ich ein bisschen um Halle herum. Weitere Strecken lege ich sowieso nur mit der Bahn zurück.«

»Kommen Sie mal auf ’n Punkt!«, knarzte Doberschütz. »Bin doch nicht Ihr Seelenklempner.«

Mackensen räusperte sich und nickte mehrmals, um sich zu sammeln. »Also, am liebsten bleibe ich zu Hause und … ja, also Hobbys habe ich keine. Eigentlich … tja, also eigentlich habe ich nur meinen Beruf.«

Jetzt war Doberschützens Brummen eindeutig spöttisch gemeint.

»Ich arbeite alte Fälle durch. Ungelöste Fälle. Das macht Spaß. Wir müssen da vorne rechts.«

»Wohin fahren wir denn, verdammt noch mal?«

»Werden Sie gleich sehen, Chef. Sie werden staunen!« Mackensen knetete seine Stofftasche. »Und jetzt hatte ich zwei Wochen Zeit und …«

Doberschütz setzte den Blinker, bog rechts ab und nahm einem Radfahrer die Vorfahrt. »Sagen Sie nicht, Sie haben sich in Ihrem Urlaub durch alte Fälle geschnüffelt!«

»Wie gesagt, das macht Spaß.«

Doberschütz grabschte ein paar weitere Halloren Kugeln aus der Schachtel. »Nicht zu fassen.«

»Das können Sie vielleicht nicht verstehen. Ich beneide Sie darum, Chef, dass Sie nach Feierabend die Füße hochlegen und …«

»He, he, he, Bürschchen, glauben Sie ja nicht, dass ich abends einfach so abschalten kann!« Doberschütz warf ihm aus weit aufgerissenen Augen einen wässrigen Seitenblick zu. »Man ist schließlich rund um die Uhr Bulle! Glauben Sie denn etwa, ich hätte sonst den Würger von Kloschwitz geschnappt?«

Mackensen biss sich auf die Zunge. Er wusste so gut wie jeder andere, dass seinem Chef damals der glückliche Zufall zu Hilfe gekommen war. Das letzte Opfer des Serientäters Hartmut Zeisig hatte unter Kehlkopfkrebs gelitten und fröhlich durch seine künstliche Halsöffnung weitergeatmet, obwohl der Mörder ihm Nase und Mund mit Bauschaum gefüllt hatte. Der Killer war so verzweifelt gewesen, dass Doberschütz ihn nur noch am Tatort hatte aufsammeln müssen.

»Gleich links, und dann sind wir fast schon da.«

Doberschütz leckte sich schmatzend die Schokolade von den Lippen.

»Lecker, oder?«, fragte Mackensen.

»Mmmmh, kann man essen. Und was hat das mit unserem ›Einsatz‹ zu tun?«

»Kommt gleich, Chef, kommt gleich. Also, ich bin da auf eine Reihe von Morden gestoßen. Ungeklärte Morde. Eigentlich ist es mir völlig schleierhaft, dass die Kollegen da nicht längst eine Verbindung hergestellt haben. Aber Sie kennen das: vier Bundesländer …«

»Momentchen mal, soll das heißen, Sie schnüffeln jetzt schon woanders rum?«

»In Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Bayern und Niedersachsen.«

»Bei den Wessis? Geht’s noch? Können Sie sich nicht wenigstens ein paar von unseren eigenen …«

»Aber bei uns ist doch so gut wie alles aufgeklärt, Chef«, fiel Mackensen ihm ins Wort. »Ist ja auch kein Wunder. Hier gibt’s schließlich Kriminalhauptkommissar Doberschütz.«

Ein anderer Polizist hätte jetzt ein paar Worte der Bescheidenheit geäußert. Nicht so der fette Mann hinter dem Steuer. »Auch wieder wahr.«

»Also, diese vier Morde, die ich untersucht habe, scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander gemein zu haben. Eine junge Frau wurde 2010 in Aachen mit einem Ziegelstein erschlagen. 2012 wurde in Lübeck ein fast neunzigjähriger Greis in der Trave ertränkt. 2014 wurde eine sechsfache Mutter in Nürnberg mit einer Wäscheleine erdrosselt und 2016 wurde einem Müllmann in Hannover die Kehle aufgeschlitzt.«

Doberschütz bog links ab und schwieg. Auch Mackensen sagte nichts. Er erwartete eine Reaktion seines Vorgesetzten, die auch mit Verzögerung eintraf: »Kommt da noch was?«

»Also, wie gesagt, zunächst scheinen die Taten völlig unzusammenhängend.« Noch bevor Doberschütz etwas Abfälliges erwidern konnte, fuhr Mackensen fort: »Aber alle haben sich am 4. Mai ereignet. Immer hübsch im Abstand von zwei Jahren.«

»Am 4. Mai? Das ist heute.«

»Hmhmmm.« Mackensen gab ein fröhlich summendes Geräusch von sich und faltete die Hände über der schon halb leeren Pralinenschachtel. »Jetzt halb links.«

Doberschütz tat, wie ihm geheißen. Was hatte dieser Grünschnabel da ausgegraben? Bis jetzt hatte er immer gedacht, in der Birne unter dem Lockenkopf herrschte nichts als gähnende Leere. Der Kerl zwinkerte immer so versonnen durch seine Nickelbrille, als könne er kein Wässerchen trüben. Im Büro fiel er nie besonders auf und Doberschütz hatte ihn bis jetzt ausschließlich zu niederen Diensten missbraucht. Löste in seiner Freizeit also Kriminalfälle … Hm. Wofür hielt sich der Knilch denn? Für Nick Knatterton?

»Da vorne ist es. Das Hotel Dormero.« Mackensen reckte den Kopf. »Am besten parken wir dahinten, da haben wir den Haupteingang im Blick.«

»Weiß zwar nicht, was Sie vorhaben, aber …« Doberschütz manövrierte das Fahrzeug umständlich durch die schmale Martinstraße und wendete. Er holperte dabei mehrmals über den Bürgersteig, wobei er beinahe eine Oma mit Rollator erwischte. Als der Wagen schließlich stand, schaltete er die Zündung aus, fummelte die letzten Halloren Kugeln aus der Schachtel und sagte barsch: »So, und jetzt mal zur Sache, Freundchen. Ich hab mir Ihre Spinnereien lange genug angehört. Ich verplempere hier nicht meinen freien Abend, um Ihnen Nachhilfe in Polizeiarbeit zu geben. Karten auf den Tisch!«

Umständlich suchte Mackensen nach einer Möglichkeit, die leere Pralinenschachtel loszuwerden, bis Doberschütz sie ihm aus der Hand riss und auf den Rücksitz zu der Ansammlung anderen Mülls pfefferte. Dann fischte Mackensen einen Stapel Papiere aus dem Stoffbeutel. »Da hätten wir meine Akte.«

»›Ihre Akte‹«, spottete Doberschütz.

»Ja, ich gebe zu, dass ich heimlich ein paar Sachen aus dem Polizeicomputer …« Er warf seinem Chef einen hektischen Seitenblick zu. Der aber reagierte nicht. Es war ein offenes Geheimnis, dass Doberschütz selbst jede Gelegenheit nutzte, seine Mitmenschen über das Netzwerk auszuspionieren. Nachbarn, Kollegen oder Menschen, die ihm einfach unsympathisch waren. Er nutzte sein Wissen mit Vorliebe, um sich Vorteile zu verschaffen und von anderen Gefälligkeiten abzupressen.

Mackensen wedelte mit den Papieren. »Hier ist jedenfalls alles drin, was ich über die vier Morde herausfinden konnte.«

Doberschütz grabschte nach der Akte und fuhr mit den wulstigen Schokoladenfingern durch die Seiten. Er machte allerlei schnaufende Geräusche. Beiläufig wühlte er mit der Rechten in den Fächern der Mittelkonsole herum und förderte ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten zutage. Während er mit den Lippen einen Glimmstängel herauszog, wanderte sein Blick weiter über Mackensens Schriftstücke. Jetzt tastete er nach einem Feuerzeug. Leere Tablettenröhrchen, Pistazienschalen und Kaugummipapierchen quollen aus dem Fach und verschwanden in der Dunkelheit des Fußraums.

»Ich bin an allen vier Tatorten gewesen, ich habe in allen Fällen Erkundigungen eingeholt. Es gibt nichts, was gleich abgelaufen ist. Nichts außer …« Mackensen sah auf die Uhr und reckte wieder den Hals. »Da!«, rief er plötzlich schrill und Doberschütz fuhr hinter dem Steuer zusammen. Sein schlecht rasiertes Doppelkinn zitterte. »Haben Sie ’n Knall? Mich so zu erschrecken!«

»Da ist er! Starten Sie den Wagen!«

Ein Mann war aus dem Hoteleingang getreten, eine unscheinbare Gestalt mittleren Alters in einem grauen Übergangsmantel. Er schlenderte auf das Taxi zu, das in der Fußgängerzone wartete, und öffnete die Beifahrertür.

»Er hat ein Taxi für neun Uhr bestellt. Das habe ich vorhin im Hotel mitbekommen!«

»Wer?«, donnerte Doberschütz. »Wer denn, verdammt noch mal?«

»Friedhelm Olm«, rief Mackensen atemlos. »Es ist Friedhelm Olm aus Wiesbaden! Und wir müssen diesem Taxi folgen! Das ist unsere einzige Chance! Fahren Sie los!«

Doberschütz stieß einen seiner übelsten Flüche aus, knallte Mackensen Feuerzeug, Zigaretten und die Akte auf den Schoß und startete den Wagen. Als er aus der Parklücke schoss, schrammte er am Kotflügel des vor ihm geparkten Wagens vorbei und zwang den Fahrer eines Lieferwagens zu einer Vollbremsung. »Ich drehe Ihnen den verdammten Hals um, Sie Flachpfeife, wenn das hier eine Nullnummer wird«, keuchte Doberschütz. Schweißperlen traten auf seine Stirn.

»Vertrauen Sie mir, Chef«, presste Mackensen angestrengt zwischen den Lippen hervor. »Friedhelm Olm hat in den letzten acht Jahren vier Menschen umgebracht und wenn alles so läuft, wie ich es geplant habe, werden wir heute seinen fünften Mord verhindern und ihn auf frischer Tat erwischen.«

Das Taxi fuhr gottlob gesittet, es schien nicht auf eine heiße Verfolgungsjagd hinauszulaufen. Sie kurvten durch die Häuserblocks des Charlottenviertels, bogen zum Riebeckplatz ab und verließen den riesigen Kreisverkehr in Richtung Delitzscher Straße. Als sie unter der Eisenbahnbrücke durch waren, ging es nur noch geradeaus.

»Wohin will der?«, fragte Doberschütz, dessen Schweiß man jetzt auch riechen konnte. »Haben Sie eine Ahnung?«

Mackensen strahlte auf dem Beifahrersitz wie ein Honigkuchenpferd. »Oh ja, ich denke, ich weiß es.« Er griff wieder in seinen Stoffbeutel und holte eine weitere Pralinenpackung hervor. Er rappelte gut gelaunt damit.

»Was soll das? Haben Sie ’ne Meise?«

Mit beinahe sachlichem Tonfall begann Mackensen, sein Wissen mit seinem Vorgesetzten zu teilen: »Die in Aachen erschlagene Sabrina Fischenich hatte kurz vor ihrer Ermordung Printen gegessen. Diese harten, klebrigen Gebäckriegel, für die Aachen berühmt ist. Reinhold Gastmann, der in Lübeck ertränkte Rentner, hatte ein halb aufgegessenes Marzipanbrot in der Tasche seiner Windjacke und den Rest im Magen. Die erdrosselte Heidrun Pölser aus Nürnberg hatte kurz vor ihrem Tod Lebkuchen gegessen und der von der Müllabfuhr aus Hannover …? Na? Naaa?« Er sah Doberschütz erwartungsvoll an.

»Verflucht noch mal, was denn?«, blaffte der. »Hannover … Hannover … Was gibt’s denn da?«

»Bahlsen!«, feixte Mackensen. »Die berühmtesten Kekse Deutschlands! Und jetzt ist der Täter hier in Halle, weil …« Er wies bedeutungsvoll mit der flachen Hand in Richtung des riesigen, altehrwürdigen Fabrikgebäudes auf der rechten Straßenseite, dessen rötlich sandfarbener Anstrich im schwindenden Tageslicht nicht mehr so recht auszumachen war.

Das Taxi hielt und Doberschütz fuhr in gebührendem Abstand an den Fahrbahnrand. »Halloren«, murmelte er mit herunterhängender Unterlippe. »Die Schokoladenfabrik.«

»Ganz recht. Ich finde, es ist ja fast schon so etwas wie eine lokalpatriotische Verpflichtung, ihn hierherzulocken.«

Der Mann stieg aus dem Taxi. Mit in den Manteltaschen vergrabenen Händen stand er auf dem Gehweg und legte den Kopf in den Nacken, um die Fabrikfassade zu bestaunen.

»›Hierherzulocken‹?«, fragte Doberschütz ungläubig. Jetzt zündete er sich endlich die ersehnte Zigarette an. Er dachte gar nicht daran, ein Fenster zu öffnen.

»Nun ja, Chef, es war nun mal an der Zeit. Alle zwei Jahre, 4. Mai … Da bot sich Halle mit den Halloren Kugeln doch regelrecht an. Das richtige Werbeblättchen zum rechten Zeitpunkt im Briefkasten … Ich habe gewusst, dass er darauf anspringen würde!« Mackensen zupfte die Plastikfolie von der Halloren-Packung. »Ich meine, es ist die älteste Schokoladenfabrik Deutschlands! Das darf doch auf seiner Agenda nicht fehlen! Unsere Halloren Kugeln! Also ehrlich, Printen, Lebkuchen, meinetwegen, schön und gut, aber was wäre denn sonst noch gekommen? Negerküsse? Twix? Mon Chéri?«

Er hatte die Schachtel geöffnet und Doberschütz griff wieder zu. Zwischen zwei Zigarettenzügen vertilgte er schmatzend ein paar Kugeln. Gemeinsam beobachteten sie, wie Friedhelm Olm am Gebäude entlangschlenderte.

»Er sieht sich die Quelle an, den Ort, wo alles herkommt«, erklärte Mackensen.

»Scheint so.« Doberschütz tat einen tiefen Lungenzug, hustete rasselnd und zwei Zentimeter Zigarettenasche rieselten auf seinen fetten Bauch. »Aber warum das alles?«

»Ich weiß nur, dass Olms Eltern in den Siebzigern beim Brand ihres Süßwarenladens in Wiesbaden ums Leben gekommen sind.« Er tippte auf die Akte. »Steht alles da drin.«

»Scheißserienmörder mit ihren Scheißserienmördermotiven«, knurrte Doberschütz und drückte die Kippe in den Aschenbecher, sodass eine Handvoll anderer rauspurzelte. Dann aß er wieder Schokolade und rülpste.

»Da kennen Sie sich ja aus«, sagte Mackensen hintergründig.

War das Ironie? Wollte der Heini ihn verarschen? »O ja, da kenne ich mich aus«, raunzte Doberschütz. »Glauben Sie denn etwa, ich hätte sonst die Schwarze Witwe von Gröbzig geschnappt?«

Mackensen spitzte die Lippen. Jeder wusste, warum seinem Chef die sechsfache Mörderin ins Netz gegangen war: Als Ute Schmölln ihre jüngste Männerbekanntschaft zerstückelt und danach wie immer paketchenweise zwischen Magdeburg und Halle in den Papierkörben verteilt hatte, war ihr nicht aufgefallen, dass sie auf einer der Zeitungsseiten nicht nur ihre Handschrift im Kreuzworträtsel hinterlassen, sondern bei Weltmacht mit drei Buchstaben auch noch Ute eingetragen hatte.

»Verdammt, der steigt wieder ins Taxi!«, röhrte Doberschütz und startete den Wagen. »Was macht der Typ? Wird das etwa so was wie ’ne Rallye?«

»Jetzt begibt er sich an den Tatort«, hauchte Mackensen feierlich.

»Der spinnt doch! Und Sie auch!«

Sie folgten dem Taxi, das nun bis zur Kreuzung Fiete-Schulze-Straße fuhr und dort wendete. Doberschütz gab mächtig Gas und legte einen rasanten U-Turn hin, als die Ampel schon dunkelgelb zeigte. Mackensen rutschte tiefer in seinen Sitz. Wenn sein Chef sich weiter so auffällig benahm, konnte es sein, dass Olm sie bemerkte.

Es ging zurück in Richtung Innenstadt. Unter der Bahn durch, genau der Weg, den Sie gekommen waren. Fast sah es so aus, als wolle das Taxi seinen Insassen zurück zum Hotel bringen, aber dann hielt es auf der Magdeburger Straße an.

Olm stieg aus. Er sprach noch ein paar freundliche Worte zum Fahrer, bevor er die Tür schloss. Als das Taxi davongebraust war, überquerte er die Straße und Mackensen sagte düster: »Der Stadtpark. Es geht los.«

»Wie, ›es geht los‹? Was geht los?« Doberschütz hatte mittlerweile einen hochroten Kopf vor Aufregung. Der Schweiß tropfte ihm aus den struppigen Koteletten. »Geht der jetzt einen abmurksen, oder wie oder was?«

Statt einer Antwort nickte Mackensen nur mit zusammengekniffenen Lippen und schnallte sich ab.

Da packte Doberschütz ihn am Kragen und zog sein Gesicht ganz nah zu sich heran: »Wehe, das ist so eine billige Verarsche, Sie Würstchen.« Sein Mundgeruch kam direkt aus der Hölle. »Einen wie den alten Doberschütz linkt keiner, kapiert? Ich habe einundvierzig Jahre Polizeidienst auf dem Buckel und wenn Sie mir einen Bären aufbinden wollen, dann schaffen Sie nicht mal zehn! Ich hab noch ein paar Jungs, die mir einen Gefallen schuldig sind, die polieren Ihnen die Eier, hören Sie? Doberschütz verarscht keiner! Glauben Sie denn etwa, ich hätte sonst den Schlitzer von Glebitzsch ge…«

»Da, er verschwindet im Park!«, kreischte Mackensen und riss sich los.

Doberschütz verhedderte sich beim Aussteigen im Gurt. Als er aus dem Wagen sprang, klirrte eine leere Wodkaflasche auf den Asphalt. Sie schafften es mit Mühe, zwischen dem Verkehr über die vierspurige Fahrbahn und die Straßenbahngleise zu kommen. Mackensens Stofftasche flatterte an seiner Seite, Doberschütz’ Hemd rutschte aus der Hose, und sein aufgeblähter, haariger Bauch quoll hervor. Er keuchte wie eine Dampfwalze, als sie auf der anderen Straßenseite zwischen die Bäume stolperten.

»Wo ist er?«, japste Doberschütz. »Verflucht, suchen Sie den Dreckskerl, bevor er was anstellt, Sie Hanswurst!«

Unter dem dichten Blattwerk des Stadtparks herrschte bereits Dunkelheit. Mackensen spähte in alle Richtungen. »Sollen wir die Kollegen rufen?«, fragte er mit angehaltenem Atem.

»Bei Ihnen ist wohl ’ne Schraube locker! Wenn hier einer diesen Irren mit der Schokoladenmacke einkassiert, dann bin ich das!«

Das hatte Mackensen nicht anders erwartet. Das fette, alte Ungetüm witterte Ruhm und Ehre und beides teilte Doberschütz nur höchst ungern mit anderen.

Etwas knackte rechts im Geäst und sie fuhren zusammen. Ein Tier, vermutlich ein Karnickel. Weiter hinten schlenderte, eng umschlungen, ein junges Liebespärchen über den Gehweg. In der Ferne ertönte ein Martinshorn. Aus einer anderen Ecke der Stadt erklang ein Hupkonzert.

Dann sahen sie ihn. Der hellgraue Mantel war deutlich zu erkennen. Der Mann drückte sich in der Nähe einiger massiver Baumstämme herum. Mackensen und Doberschütz gingen hinter einem Gebüsch in die Hocke. In den Gelenken des Kriminalhauptkommissars knackte es so laut, dass man meinen konnte, Olm müsse es hören.

»Was macht er?«, fragte Doberschütz ächzend. »Können Sie was sehen?«

»Er sieht ein bisschen planlos aus«, wisperte Mackensen. »Ich habe keine Ahnung, wonach er seine Opfer aussucht. Er geht hin und her.«

Doberschütz war inzwischen auf die Knie gesunken und atmete rasselnd. »Verflucht, ich brauch ’ne Kippe.«

»Jetzt setzt er sich in Bewegung. Ob er jemanden gesehen hat? Aber da ist doch keiner … Wer wird es wohl diesmal werden? Zuerst die junge, schlanke Frau, dann der klapprige Greis … Er kommt näher.«

»Näher? In unsere Richtung?«

Schweißgeruch stieg zu Mackensen auf.

»Kommt er her?«

»Ja, tut er. Langsam. Er bummelt rum. Aber er kommt näher. Dann traf es diese Mutter, eine ganz durchschnittliche Frau. Der Müllmann war Kroate, glaube ich …«

Doberschütz sah, wie Mackensen schon wieder in seinen Stoffbeutel griff und eine weitere Schachtel Halloren Kugeln zutage förderte. »Was soll das denn, Sie Schwachkopf? Meinen Sie, mir ist jetzt nach Süßigkeiten?«

Was war das? Hatte der Kerl plötzlich Latexhandschuhe an? Wo kamen die her?

»Ja, jetzt steuert er direkt auf uns zu«, sagte Mackensen.

Doberschütz konnte das breite Grinsen des jungen Polizisten trotz der Dunkelheit deutlich erkennen.

»Zu schade, dass ich ihn nicht daran hindern kann, seinen fünften Mord zu begehen. Er kommt näher … näher … gleich ist er hier.«

»He, was soll der Scheiß? Was sollen die Handschuhe, Sie Wicht?« Doberschütz stützte sich mit der rechten Hand auf dem Boden ab. »Ticken Sie nicht mehr ganz sauber?« Er versuchte schnaufend, sich aufzurichten, aber als Mackensen ein Küchenmesser aus der Stofftasche zog, strauchelte er und stürzte auf den Rücken.

»Noch vier, fünf Meter vielleicht, dann ist er hier!«

»Sie Scheißkerl, ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen hier keine Show mit mir abziehen!«, röchelte Doberschütz.

Dann fuhr die Klinge durch seine fette Brust in sein finsteres, vernarbtes Herz.

Bevor eine tiefe Schwärze ihn einhüllte, sah er noch schemenhaft Mackensens strahlendes Gesicht, er sah die lustigen Löckchen, die ihm in die Stirn fielen, und die Augen, die fröhlich hinter den Gläsern der Nickelbrille zwinkerten.

»Glauben Sie denn etwa, ich könnte sonst in wenigen Sekunden den Süßwarenkiller von Wiesbaden schnappen?«

Thomas Hoeps

Rindertalg oder die große Chance, ein Märtyrer zu werden

Franckesche Stiftungen