Umschlag

Gabriella Wollenhaupt

Grappa in der Schlangengrube

Kriminalroman

Über dieses Buch

Sind Straftäter tatsächlich resozialisierbar? Die Beantwortung dieser Frage spaltet die Redaktion des Bierstädter Tageblattes, als der verurteilte Mörder Mischa Ashley im Rahmen des landesweiten Pilotprojekts ›Die zweite Chance‹ eine Anstellung im Verlagshaus bekommt. Seine Prognose ist glänzend, denn während seiner Haftzeit hat er mit dem Schreiben begonnen und seine Veröffentlichungen begeistern die Kulturschickeria. Polizeireporterin Maria Grappa bleibt skeptisch – und scheint recht zu behalten, denn eine Sponsorin des Exknackis wird brutal ermordet …

Die Autorin

Gabriella Wollenhaupt arbeitete viele Jahre als Fernsehredakteurin in Dortmund. Ihre freche Polizeireporterin Maria Grappa hatte 1993 ihren ersten Auftritt. Mit Grappa in der Schlangengrube stellt sie zum achtundzwanzigsten Mal ihre Schlagfertigkeit unter Beweis.

Zudem hat sich die Autorin gemeinsam mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz mit Blutiger Sommer auf einen Ausflug in den Vormärz und mit Schöner Schlaf in die Kunstszene begeben.

www.gabriella-wollenhaupt.de

Personen

Alexaantwortet gern, weiß aber nicht alles
Michael Aschendorf alias Mischa Ashleytrickst zu viel
Carsten »Bärchen« Biberschlägt sich durch
Hans Dammspringt in die Bresche
Leontine von Dasselbekommt plötzlich Angst
Maria Grappalernt immer noch dazu
Simon Harraslebt seine Vorurteile aus
Jutta Holdschafft nur eine Saison
Friedemann Kleisthält die Fäden in den Händen
Wayne Pöppelbaumist endlich angekommen
Heinz Sandersucht und findet
Lara Sanderweiß sehr genau, was sie will
Sarah, Stella, Susibekommen Frühlingsgefühle
Anneliese Schmitzbackt immer noch
Perihan Tercanlilernt die Politik kennen
Emil Winterlakelässt es krachen
Margarete Wurbel-Simonisholt den Säbel raus

 

Der Tod einer schönen Frau ist ohne Zweifel das poetischste Thema der Welt.

Edgar Allan Poe

Zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs gehört, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden.

Aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 21. Juni 1977

Aktenzeichen: 1 BvL 14/76 (Lebenslange Freiheitsstrafe)

Fingerspitzengefühl für einen Doppelmörder

Es begann mit der Redaktionskonferenz am Montag. Die Kollegen hatten sich wie üblich versammelt. Manchen sah man das Wochenende und die damit verbundenen Freizeitbeschäftigungen noch an. Fotograf Wayne Pöppelbaum hatte zwei Knutschflecke am Hals, Redaktionssekretärin Susi roch streng nach Knoblauch, Carsten »Bärchen« Biber hatte geschwollene Tränensäcke und trug dasselbe Hemd wie am Freitag – was auf lange Nächte schließen ließ, die nicht in der eigenen Wohnung stattgefunden hatten. Nur Kulturredakteurin Margarete Wurbel-Simonis sah aus wie das blühende Leben: Sie hatte ihrem Lieblingspianisten Lang Lang im Konzerthaus gelauscht und spürte die Musik wohl noch in sich wabern.

Und dann war da dieser Mann an Jutta Holds Seite, den niemand kannte.

»Das ist Herr Ashley. Er wird ein Praktikum bei uns absolvieren im Rahmen des Projektes ›Die zweite Chance‹«, erklärte die neue Chefredakteurin. »Er hat eine Strafe wegen Mordes verbüßt und will ein neues Leben anfangen. Die Prognosen der Psychologen geben zu den schönsten Hoffnungen Anlass. Ich bitte Sie alle, Herrn Ashley bei der Wiedereingliederung zu helfen, und erinnere Sie daran, dass in den Richtlinien unserer Zeitung der Begriff entschieden sozial verankert ist. Diesen Begriff werden wir jetzt mit Leben füllen. Dazu gehört Offenheit auch unseren Lesern gegenüber. Liebe Kollegin Grappa …«, sie schaute mich direkt an, »… ich möchte Sie bitten, ein paar Zeilen über unseren neuen Mitarbeiter zu verfassen. Erzählen Sie unseren Lesern, wer er ist und was er erlebt hat.«

»Aha«, machte ich. »Erlebt oder getan?«

»Legen Sie die Fakten auf den Tisch. In Ihrer bekannten empathischen Art. Ich verlasse mich da ganz auf Ihr Fingerspitzengefühl.«

Schleimerin! Wenn mir jemand »Fingerspitzengefühl« nachsagte, wurde ich misstrauisch.

»Danke für die Blumen«, entgegnete ich. »Wen hat er denn umgebracht?«

Auf Jutta Holds Stirn bildete sich eine steile Falte. »Herr Ashley wird Ihnen alle Fragen beantworten. Und noch etwas zur ›zweiten Chance‹. Es handelt sich um ein Wiedereingliederungsprojekt für Exhäftlinge, das von einer Gruppe angehender Kriminologen wissenschaftlich begleitet wird. Und nicht nur wir, sondern auch andere Presseorgane engagieren sich in dem Projekt. Herr Ashley ist uns zugeteilt worden, weil er eine Affinität fürs Schreiben hat.«

Ich sah Ashley an und er erwiderte meinen Blick aus eisblauen Husky-Augen. Seine Frisur erinnerte an ein ungemachtes Bett – das trug man jetzt. Allerdings mit vierzehn, nicht mit vierzig.

»Dann setzen wir uns nach dieser Konferenz zusammen, Herr Ashley«, versuchte ich zu lächeln. »Mein Fingerspitzengefühl wird Ihnen hoffentlich gefallen.«

»Sie können gern Mischa und du zu mir sagen«, lächelte er breit zurück.

»Und Sie nennen mich am besten Frau Grappa«, bemühte ich den Satz, den ich schon gefühlte hundert Mal auf unerwünschte Duz-Vorschläge geantwortet hatte.

Die Kollegen kicherten.

Jutta Hold strich sich über ihre weißblonden, raspelkurzen Haare. »Frau Grappa ist manchmal etwas eigen«, erklärte sie mild. »Hart, aber herzlich. Wenn Sie beide sich erst mal näher kennen, werden Sie sich bestimmt mögen.«

»Darauf würde ich nicht wetten«, grinste Sportredakteur Simon Harras und legte nach: »Wen haben Sie denn nun auf dem Gewissen, Herr Ashley? Oder soll das unter den Tisch fallen?«

»Ich muss doch sehr bitten, Herr Kollege. Hier fällt nichts unter den Tisch«, erregte sich Jutta Hold. »Aber es gibt auch keinen Grund, Herrn Ashley zu mobben. Ich appelliere an Ihre soziale Kompetenz.«

Ashley ballte seine Hand zu einer Faust, bis das Weiß seiner Fingerknochen zu sehen war. Souverän ist anders, dachte ich.

Nach der Konferenz googelte ich ihn. Mischa Ashley hieß Michael Aschendorf und unter diesem Namen hatte er seine Straftaten begangen. Als Jugendlicher hatte er »aus einer Laune heraus« einen Obdachlosen totgeprügelt. Schwere Körperverletzung mit Todesfolge. Die paar Jahre Jugendstrafe hatte er abgesessen, um kurze Zeit später als Erwachsener vor einem Schwurgericht zu stehen – nun wegen Mordes. Das Urteil lautete: lebenslange Haft. Das Opfer: eine Schuhverkäuferin, die ihn »von oben herab« behandelt hatte.

Nach fünfzehn Jahren hatte sein Anwalt einen Entlassungsantrag gestellt, wie es nach dem Gesetz möglich ist. Die Staatsanwaltschaft widersprach, das Tauziehen um die Freilassung dauerte rund zwei Jahre. Schließlich entschied die Vollstreckungskammer des Landgerichts, dass von Ashley keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr ausgehe. Seine Sozialprognose war hervorragend und so war er nun ein freier Mann, freilich unter dem Vorbehalt der Bewährung.

Es gab zahlreiche Zeitungsartikel über den Mord an der Schuhverkäuferin und den anschließenden Prozess – vor allem in der Regenbogenpresse. Das Opfer hatte sich während einer Anprobe über ein Loch in Ashleys Socken lustig gemacht. Er wartete, bis sie den Schuhladen verließ, verschleppte, vergewaltigte und erdrosselte sie.

Die Gerichtspsychologen schrieben das, was sie in solchen Fällen immer schreiben: Sie attestierten Ashley einen Mangel an Selbstwertgefühl, den er durch heftige Gewaltausbrüche kompensierte. Bei der Vergewaltigung der Frau habe er seine Macht über sie genossen und nicht primär aus Befriedigung des Geschlechtstriebes gehandelt. Der Mord sei geschehen, um die Straftat zu verschleiern. »Er hat sein Opfer durch den Wald gehetzt, gequält, geschlagen, brutal vergewaltigt und schließlich mit dem eigenen BH erdrosselt«, so wurde der Gerichtsmediziner zitiert.

In den Jahren im Knast wurde es pressemäßig ruhig um Ashley. Dann wieder eine Notiz, als sein Anwalt den Antrag auf vorzeitige Haftentlassung stellte.

Ashleys Chancen auf ein dauerhaftes Leben in Freiheit standen nicht schlecht. Der Direktor der Haftanstalt lobte den Mörder wegen seiner guten Führung und der erfolgreich absolvierten Anti-Aggressions-Therapien. Er habe das Abitur nachgeholt und mit dem Schreiben von Gedichten und Prosatexten begonnen.

Ich investierte in meine Recherche und bestellte Ashleys jüngst erschienenes Buch Nightmare bei einem Antiquariat. Schon die Leseprobe törnte mich ab. Untergrundliteratur. Der Dichter schilderte den spannenden Besuch auf einer öffentlichen Toilette:

Ich seh schon aus der Entfernung braune Bremsspuren in der Schüssel. Alles Scheiße hier. Oder Sperma. Volle Pariser glotzen mich an. Kein Klopapier. Alles vollgepisst. Ich gehe weiter. Der nächste Pott ist besetzt, der daneben frei. Ich lasse mich nieder. Nebenan stöhnt und drückt einer beim Kacken. Ich geh raus, trete die Tür ein und polier ihm die Fresse. Danach liegt neben dem Sperma sein Blut.

Ein echtes Schätzchen, dachte ich. Ob Jutta Hold wusste, wes Geistes Kind sie da in die Redaktion holte? Meine Lust, einen sadistischen Mörder bei seiner zweiten Chance redaktionell zu betreuen, ging gegen null. Ich wählte Holds Telefonnummer, doch die Leitung war besetzt. Auch ihre Sekretärin meldete sich nicht.

Ich verließ meine Einzelzelle und nahm den Weg zum Chefbüro. Noch war Zeit, alles abzuwimmeln.

Der Flur war leer, dicker Teppichboden schluckte das Geräusch meiner Schritte.

Die Tür zu Holds Büro stand halb offen. Ich hörte eine Männerstimme, sie hatte Besuch. Eigentlich wollte ich abdrehen, doch meine Neugier siegte. Leise drückte ich mich an der Wand entlang.

»Warum diese Grappa?«, fragte Ashley.

»Weil sie immun gegen dich ist«, antwortete Jutta Hold.

»Keine Frau ist gegen mich immun.«

Hold lachte. »Bleib mal auf dem Teppich, Mischa. Außerdem hoffe ich noch auf einen genialen Nebeneffekt.«

»Wie meinst du das?«

»Grappa muss weg. Sorg dafür, dass sie Fehler macht. Grobe Fehler, die vor einem Arbeitsgericht akzeptiert werden.« Wieder lachte meine Chefin.

»Du Miststück«, sagte er. »Schmeiß sie doch einfach raus! Du hast doch hier das Sagen.«

»So einfach ist das nicht«, stellte sie klar. »Grappa arbeitet seit gefühlten Jahrhunderten bei diesem Käseblatt und ist praktisch unkündbar. Lass dir was einfallen, dann kriegst du ihren Job. Als deine zweite Chance.«

Ich schob meinen Kopf nach vorn und sah, wie seine Hand in ihrer Bluse verschwand.

»Blau steht dir gut«, schnurrte der Mörder. »Harmoniert mit deinen wunderschönen blauen Augen.«

Mein Handy meldete sich. Mist. Am Klingelton erkannte ich, dass es Friedemann Kleist war. Die Hand in Holds Bluse trat den Rückzug an, Stühle wurden gerückt und Schritte näherten sich.

Ich drückte Kleist weg, rannte gleichzeitig über den Flur, verschwand im Lift und haute auf den Knopf U 2, das Kellergeschoss. Wahnsinnig langsam schloss sich die Tür – und trotzdem noch gerade rechtzeitig. Über mir trommelte Ashley gegen die Fahrstuhltür.

Das war knapp. Ich steuerte den Notausgang des Untergeschosses an und gelangte zum Parkplatz des Verlagshauses, auf dem mein Auto stand. Zum Glück hatte ich meine Schlüssel dabei. Ich stieg ein und fuhr einige hundert Meter die Straße hinunter. Meine Hände zitterten. Jutta Hold wollte mich loswerden und Ashley sollte ihr dabei helfen. Das waren ja prima Aussichten. Gut, dass ich meine Feinde jetzt wenigstens kannte.

Zehn Minuten später betrat ich das Großraumbüro wieder. Die Kolleginnen aus dem Sekretariat hatten sich um Mischa Ashley geschart. Der saß auf einem Stuhl vor dem PC, den ich im großen Büro zu benutzen pflegte. Als er mich sah, sprang er auf.

»Verzeihung«, murmelte er. »Ich wollte Ihnen nicht Ihren Platz streitig machen.«

»Das sollten Sie auch nicht versuchen«, lächelte ich zuckersüß und nahm Platz.

»Wo warst du, Grappa?«, fragte Susi.

»Frische Luft schnappen«, erklärte ich.

»Dein Herr Kleist hat angerufen«, plapperte die Sekretärin weiter. »Rufst du ihn zurück?«

»Mach ich.« Siedend heiß fiel mir ein, dass ich den Klingelton nicht geändert hatte. Wenn Kleist ausgerechnet jetzt noch einmal anriefe, wüsste Ashley Bescheid, wer gelauscht hatte.

Ich holte mein Handy hervor, tat so, als prüfte ich die eingegangenen SMS-Nachrichten und stellte es auf stumm.

»Habt ihr nichts zu arbeiten?«, fragte ich die drei Sekretärinnen.

»Wir wollten nur das Betriebsklima verbessern, indem wir uns …«, schnippte Sarah.

»… um den neuen Kollegen kümmern«, vervollständigte Susi.

»Das nennt man soziale Kompetenz, Grappa«, beendete Stella. »Weißt du, was das bedeutet?«

»Nein. Macht mir am besten eine Zeichnung. Aber in Farbe«, schlug ich vor. »Und jetzt Ende.«

Die drei trollten sich.

»Es war meine Schuld.« Ashley gab sich zerknirscht. »Wann setzen wir uns denn zusammen, Frau Grappa?«

»Ich melde mich. Ich recherchiere über Sie und bin noch nicht fertig damit.«

»Das brauchen Sie nicht!«, rief er aus. »Ich kann Ihnen doch alles erzählen, was Sie wissen wollen.«

»Ich mache mir lieber erst mein eigenes Bild. Und Sie lernen die erste Lektion in seriösem Journalismus: Man akzeptiert niemals Informationen, die einem einfach erzählt werden. Man muss sie immer durch mindestens eine andere Quelle bestätigen.«

»Wie Sie meinen. Dann stellen Sie mir Ihre Fragen eben später.« Wieder krampften seine Hände und wurden zu Fäusten.

»Wo hat man Sie denn hier untergebracht?«, fragte ich – nur um etwas zu sagen.

»Mein Schreibtisch steht im Volontärsraum«, erklärte er. »Die Telefonnummer kennen Sie ja bestimmt noch.«

Hold und Unhold

»Ihr werdet wohl keine Freunde«, prophezeite Wayne Pöppelbaum, der Fotograf, nachdem Ashley gegangen war.

»Das ist gut möglich.«

»Willst du dabei sein, wenn ich ein paar Fotos von ihm mache?«

Überrascht sah ich ihn an. »Fotos?«

»Ja, Frau Hold möchte deinen Artikel mit ein paar Bildchen garnieren«, bestätigte er.

»Im Netz gibt es ausdrucksstarke Fotos, die ihn in seiner Zelle zeigen.«

Wayne grinste. »Ich glaube nicht, dass die Chefin solche Fotos meint. Sie will außerdem auch mit drauf. Die Bildunterzeile habe ich schon: Hold und Unhold.«

»Ich finde ihn ganz okay«, krähte Sarah. »Du bist doch sonst so sozial engagiert, Grappa. Nun gib ihm seine zweite Chance!«

»Finde ich auch!«, kam es von Susi.

»Er bereut seine Taten«, behauptete Stella. »Das hat er mir selbst erzählt. Seine Schuld hat er gebüßt und alles in seinen Texten verarbeitet. Ich werde mir sofort das Buch bestellen, wo die drin sind.«

Dass Stella sich für das geschriebene Wort außerhalb der Boulevardpresse und Modekataloge interessierte, war mir neu.

Mäggi Wurbel-Simonis zog ein Blatt von ihrem Schreibtisch und wedelte damit. »Ich hab hier was von Ashley. Wollt ihr es hören?«

»Au ja«, ermunterte ich sie.

»Wartet, ich hole Popcorn«, rief Simon Harras. »Das ist gemütlicher.«

»Der Titel heißt: An meine Mutter«, begann die Kulturredakteurin, stellte sich in Position und rezitierte:

Du hast mich in die Welt gebracht – So ungewollt und ungeliebt. Du gabst mir nie die Brust. Du hast mich nicht mal angesehen. Mein Leben war dir scheißegal. Ich schrie nach dir. Du hast mich Schläge spüren lassen

Ich war so klein und du so bös. Hab mir geholt jetzt eine Frau. So schön, wie du es damals warst.

»Das reimt sich hinten ja gar nicht«, meinte Simon Harras enttäuscht.

»Das nennt man Prosalyrik«, schnippte Mäggi. »Gedichte müssen sich nicht hinten reimen.«

»Finde ich aber doch. Auf Brust reimt sich Lust«, erkannte Wayne Pöppelbaum. »Daraus hätte er doch was machen können. Du gabst mir nie die Brust, drum hattich ganz viel Frust. Oder so.«

»Ich find’s klasse. Was muss der Mischa als Kind gelitten haben«, sinnierte Stella.

»Seine Mutter ist an allem schuld«, schniefte Sarah.

»Genau. Die hat ihn nicht geliebt – vielleicht sogar gequält«, schluchzte Susi.

»Kein Wunder, dass er der Welt all das Böse zurückgibt«, nickte Stella.

»Das Gedicht ist erbärmlich«, urteilte ich. »Es hat keinen Rhythmus und die Aussage ist belanglos. Immer sind die anderen schuld. Das übliche Gejammer von Tätern, die nichts dazugelernt haben.«

»Aber die Kritiker lieben ihn«, wandte Mäggi ein. »Besonders die Frauen.«

»Bestimmt nicht alle, wenn sie erfahren, wozu er fähig war«, widersprach ich. »Ich habe nachgelesen, wie er die Frau damals getötet hat. Manche Zuschauer haben vor Entsetzen den Gerichtssaal verlassen.«

»Die Tat ist fast zwanzig Jahre her.« Plötzlich stand Jutta Hold in der Tür. »Und er hat dafür gebüßt. Unsere Strafgesetzgebung beinhaltet das Recht auf Resozialisierung, das dürfte Ihnen ja wohl bekannt sein.«

»Sein Opfer bleibt aber tot. Die junge Frau hatte ein kleines Kind! Und einen Mann, der sich während des Prozesses umgebracht hat. Ob der das auch so locker sehen würde?«

»Nein, natürlich nicht. Aber das steht nicht im Vordergrund dieses Resozialisierungsprojekts. Geben Sie Ashley eine Chance.« Hold war der Ärger anzusehen. Sie schlug mit der Faust auf das Sideboard. Die zum Turm gestapelten Zeitungen rutschten auf den Boden. Stella lief hin und hob sie auf. Hold atmete geräuschvoll aus. Unsere Blicke trafen sich. Beide wussten wir, dass es zu früh war für ein Blutbad.

»Ich finde die Idee, Straftäter wieder in die Gesellschaft zu integrieren, sinnvoll«, salbaderte ich. »Auch die Aktion ›Die zweite Chance‹ ist grundsätzlich begrüßenswert. Mal abwarten, ob Herr Ashley diese Chance wirklich nutzt.«

»Das wird er sicherlich«, lächelte Hold. Sie hatte sich wieder im Griff. »Wenn wir ihm alle dabei helfen. Auch Sie, Frau Grappa.«

Blau stand ihr wirklich gut. Ashley hatte recht. Es passte zu ihren Augen. Den wunderschönen.

Keine Angst vor dem Tod

Eine halbe Stunde später saßen Ashley und ich in der Kantine. Hier führte ich Interviews mit den Menschen, mit denen ich nicht unbedingt allein sein wollte. Obwohl die Mittagszeit vorbei war, kamen ab und zu Kollegen vorbei, um sich Kaffee oder belegte Brötchen zu holen. Vor mir lagen ein Block und ein Stift.

»Ich dachte, Sie nehmen unser Gespräch auf Band auf«, sagte er.

»Ich arbeite lieber so«, erklärte ich. »Ich notiere die wichtigsten Stichpunkte und Fakten. Wenn ich ein Drei-Stunden-Interview abhören muss, werde ich ja nie fertig.«

»Verstehe. Old School. Möchten Sie einen Kaffee?«

»Gerne. Milchkaffee. Dritte Taste von oben.«

Er erhob sich. Sein Gang war herausfordernd. Machohaft tänzelnd. Diese Attitüde beherrschte jeder Loverboy an den Stränden Afrikas.

Warum reagierte ich so angewidert auf ihn? Weil Hold ihm meinen Job in Aussicht gestellt hatte?

Ashley kam zurück, in der einen Hand zwei Kaffeepötte, die andere steckte in der Tasche seiner engen Jeans. Die wohlwollenden Blicke der Kantinenbesucherinnen verfolgten ihn. Zweifellos wirkte er auf Frauen.

Am Tisch angekommen, zog er das langärmelige Sweatshirt aus und präsentierte sich in dem dunkelblauen T-Shirt einer Nobelmarke. Seine Unterarme waren muskulös und leicht gebräunt. Ein kompliziertes mehrfarbiges Schlangentattoo zierte die Haut.

Er hatte meinen Blick bemerkt. »Mögen Sie keine Tätowierungen?«

»So ist es. Nicht mein Geschmack. Es wirkt billig.«

»Mein Tattoo war aber sehr teuer«, widersprach er lächelnd.

»Das mag sein, ändert aber nichts an meiner Meinung. Ich hatte mal eine Nachbarin. Bekennende Hartzerin, suchtkrank, strohdoof und verhaltensgestört. Ihre Tochter war sechs, hieß Pocahontas Doreen und lebte in einer Kinderklapse. Die hatte auch so ein Schlangentattoo, allerdings am Unterschenkel.«

»Das klingt aber böse, Frau Grappa«, seufzte er.

»Das macht nichts«, beruhigte ich ihn. »Ist Ihre Schlange wenigstens giftig?«

»Nicht giftiger als die Schlangen, die man tagtäglich so trifft.« Er nahm einen Schluck Kaffee.

»Haben Sie sich das im Knast stechen lassen?«

»Nein. In der Haft hat man nur Anker, Herzen oder Totenköpfe zur Auswahl. Vielleicht noch den Namen einer Frau. Ich habe mich nach meiner Haftentlassung tätowieren lassen.«

»Warum eine Kobra?«

»Sie hat keine Angst vor dem Tod. Wie ich.«

»Aha, keine Angst vor dem Tod«, sagte ich. »Weil Sie ihn schon in den Augen Ihrer Opfer gesehen haben?«

»Ich glaube nicht, dass Sie mir diese Fragen stellen sollten, Frau Grappa«, entgegnete Ashley. »Sollte es in unserem Gespräch nicht um meine Zukunft gehen? Das Projekt ›Die zweite Chance‹?«

»Dazu kommen wir schon noch«, versprach ich. »Ich stelle nur die Fragen, die sich unsere Leser auch stellen werden, wenn sie morgen lesen, dass ein Doppelmörder beim Bierstädter Tageblatt arbeitet. Und hier haben wir gleich die zweite Lektion Journalismus: Nicht der Interviewte definiert die Fragen, sondern der Interviewer. Es wäre nicht seriös, Ihre Straftaten zu ignorieren, oder?«

Ashley stand auf. »Ich brauch noch einen Kaffee. Sie auch?«

Ich lehnte ab.

Der Kaffeeautomat lärmte. Auf seinem Handy ging ein Anruf ein, Ashley hatte es auf dem Tisch liegen lassen und stumm geschaltet. Ich las: Jutta.

Er kehrte zurück, warf einen Blick auf das Display, erkannte, wer angerufen hatte, und schob das Handy in die Gesäßtasche seiner Jeans.

»Fangen wir also an«, sagte ich. »Wie kam es zum Tod des Obdachlosen? Sie waren damals siebzehn Jahre alt.«

Nun erzählte er die allseits bekannte Rechtfertigungsstory: von seiner schlimmen Kindheit, jugendlichen Verfehlungen, Schwierigkeiten in der Schule und Absturz in die Sucht. Den Mord an dem Obdachlosen bereute er natürlich, schob aber einen Teil der Schuld dem Alkohol zu.

»Wie ist Ihr Verhältnis zu Frauen?«

»Heute ist es entspannter«, behauptete er.

»Und wie war es früher?«

»Schwierig«, gab er zu. »Ich neigte zu Aggressionen, wenn es nicht so lief, wie ich wollte. Aber das ist jetzt vorbei.«

»Sie haben eine junge Frau brutal getötet, weil sie über ein Loch in Ihrem Strumpf gelacht hat. Die Gutachter haben Ihnen puren Sadismus vorgeworfen und von einem Blut- und Gewaltrausch gesprochen. Und das soll jetzt vorbei sein? Wie reagieren Sie denn heute, wenn Sie sich über eine Frau ärgern?«

»Ich habe das alles erfolgreich aufgearbeitet in einer Therapie.« Ashleys Stirn war schweißnass. »Meine Sozialprognose ist einwandfrei – sonst dürfte ich nicht an diesem Programm teilnehmen.«

»Das Kind Ihres Opfers dürfte jetzt etwa Mitte zwanzig sein. Was würden Sie ihm sagen?«

»Ich würde dieses Kind auf Knien um Verzeihung bitten.«

Das klang ehrlich und zum ersten Mal glaubte ich ihm. Andererseits – was sollte er sonst sagen?

Das wahnsinnige Machtgefühl

Nach dem Gespräch mit Ashley schnappte ich mir die Notizen, verzog mich in mein Büro und aktivierte mein Mobiltelefon. Friedemann Kleist hatte sich wieder gemeldet. Ich schickte ihm eine SMS und vertröstete ihn auf den Abend. Zuerst musste der Artikel geschrieben werden.

Doppelmörder Mischa A. will die zweite Chance

– fabulierte ich. Oder lieber:

Zweite Chance für entlassenen Straftäter

Nein, beides war nicht gut.

Mischa A.: »Ich will ein neues Leben ohne Gewalt«

Ja, das ging.

»In dem Moment, wo man Angst verbreitet und sieht das Opfer ängstlich zittern und um sein Leben betteln, kriegt man ein wahnsinniges Machtgefühl … Man kann sich nicht mehr zurückhalten.«

Diesen Satz hat ein Mann formuliert, der zwei Menschen getötet hat. Als Jugendlicher erschlug er einen Obdachlosen – angeblich im Alkoholrausch. Als junger Mann vergewaltigte und ermordete er die junge Mutter Elif K. Der Grund für den Gewaltausbruch: Die Schuhverkäuferin hatte sich über ein Loch in seiner Socke lustig gemacht. Mischa A. lauerte ihr auf, verschleppte sie in einen Wald, prügelte auf sie ein, vergewaltigte und erdrosselte sie.

Das Gericht verurteilte ihn zu lebenslanger Haft, siebzehn Jahre hat er abgesessen.

Jetzt will Mischa A. sein Leben ändern. Er hat einen Platz in dem Resozialisierungsprojekt ›Die zweite Chance‹ der Landesregierung bekommen. Ausgewählten Straftätern, die ihre Haft verbüßt haben und durch gute Führung aufgefallen sind, soll dabei geholfen werden, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Der 42-Jährige, der in der Justizvollzugsanstalt erfolgreich mit dem Schreiben von Prosa und Lyrik begonnen hat, wird ein halbes Jahr beim Bierstädter Tageblatt als Journalist arbeiten.

Auch ein Stück Prosa aus Ashleys Hafttagebuch, das ich im Netz gefunden hatte, wollte ich dem kulturell interessierten Tageblatt-Konsumenten nicht vorenthalten:

Ich schlafe nackt auf meiner Pritsche, es ist August, die Sommerhitze hat die Wände meiner Zelle glühend gemacht. Ich fürchte, zu verbrennen. Meine Gedanken ziehen zu mediterranen Sonnenstränden, ich suche Brüste mit glänzenden Spitzen und feuchte Venushügel zwischen leicht geöffneten langen Beinen.

Ob Jutta Hold das gefiel? Die Auseinandersetzung über meinen Text würde spannend werden.

Es klopfte. Wayne brachte die Fotos: Hold saß aufrecht auf ihrem Chefstuhl, er an der rechten Schreibtischecke, leicht nach vorn gebeugt, sodass sein Kopf den ihren nicht überragte. Ihr Lächeln hatte etwas Triumphierendes, sie blickte ihn direkt an, während Ashley irgendeinen Punkt im Raum zu fixieren schien.

»War diese Pose deine Idee?«, fragte ich.

»Was meinst du genau?«

»Die Kopfhaltung der beiden. Sieht sehr inszeniert aus. Sie thront über ihm. Da weiß doch jeder gleich, wer der Boss ist.«

»Ich hab mir das bestimmt nicht ausgedacht. Die Holde hatte schon alles vorgeplant und mir entsprechende Ansagen gemacht«, enthüllte der Fotograf. »Ich war nur der Befehlsempfänger.«

»Und das hast du dir bieten lassen?«

»Ich war erst überrascht, dann eher amüsiert«, antwortete er. »Sie kommandierte Ashley ganz schön rum. Mach dies, mach das und jetzt so. Sie duzte ihn, und als sie merkte, dass ich es merkte, war’s vorbei damit. Ich tat so, als hätte ich nichts mitbekommen. Wetten, dass die beiden schon in der Kiste waren?«

»Ich wette nicht dagegen«, grinste ich und schilderte ihm die Szene im Chefbüro inklusive Kampfansage gegen mich.

»Hold nimmt den Resozialisierungsgedanken offenbar sehr ernst«, lächelte er. »Voller Körpereinsatz! Hast du keine Angst, dass Hold und Ashley dich tatsächlich ausbooten?«

»Ich bin gewarnt. Das schaffen die nicht.«

»Grappa! Der Kerl ist gefährlich und sie kann bestimmt gut intrigieren.«

»Das kann ich auch. Und ich denke nicht, dass er mir was tut. Dazu ist er zu clever. Er will in höhere Kreise aufsteigen. Und der Job beim Tageblatt ist nicht nur seine zweite, sondern auch seine letzte Chance.«

Kost und Logis für Kleist

Friedemann Kleist war leicht angesäuert, als ich mich endlich meldete. »Ich dachte schon, du willst nichts mehr mit mir zu tun haben.«

»Niemals, und wenn doch, dann sag ich es dir vorher. Ich musste mich mit unserem neuen Praktikanten befassen. Die Chefin hat mich als seine Mentorin auserkoren. Nicht, dass ich darauf Bock hätte.«

»Sieht er gut aus?«

»Und wie!«, behauptete ich und stellte fest, dass das noch nicht mal gelogen war. Ashley erfüllte – zumindest äußerlich – das aktuelle Männerideal: groß, durchtrainiert, selbstbewusst, gut geschnittenes Gesicht und eine tiefe, melodische Stimme.

»Heißt dieser Traummann vielleicht Mischa Ashley alias Michael Aschendorf?«

Ich war baff. »Treffer!«

»Meine Kriminologiestudentinnen finden ihn auch sehr attraktiv. Wir begleiten das Projekt ›Die zweite Chance‹ wissenschaftlich und die Damen reißen sich darum, seinen Fall näher zu betrachten.«

»Dann sehen wir uns ja bald wieder regelmäßig!«, rief ich aus. »Darf ich dir Kost und Logis anbieten?«

»Darauf hatte ich gehofft. Ich habe demnächst einen Termin bei deinem Verleger. Eine Studentin wird all das, was Aschendorf bei euch anstellt, beobachten und dokumentieren, anschließend werden wir das im Seminar auswerten. Sie wird auch Interviews mit Ashleys neuen Kollegen führen – also euch, den Redaktionsmitgliedern.«

»Was hältst du von ihm?«

»Ich hatte ein Vorgespräch mit ihm und halte ihn für einen jähzornigen Narzissten«, antwortete Friedemann Kleist. »Und das ist freundlich ausgedrückt.«

»Und wie ist er dann in dieses Projekt gerutscht?«

Er seufzte. »Er hat viele Fürsprecher in Politik, Wissenschaft und im Kulturbereich, besonders weibliche. Die lieben seine Sperma-Prosa.«

»Warum fahren Frauen wohl so auf ihn ab?«

»Das Phänomen heißt Hybristophilie. Platt gesagt: sexuelle Erregung durch das Böse im Mann. Kommt fast nur bei Frauen vor.«

»Weil wir so gerne Opfer sind?«