Umschlag

Jan Zweyer

Starkstrom

Kriminalroman

 
 

 

Über das Buch

Europa verbarrikadiert sich: Ein meterhoher Metallzaun, der Flüchtlinge um jeden Preis fernhalten soll. Transitzentren, in denen Tausende Menschen festsitzen. Und eine Lotterie, die entscheidet, wer die Chance auf ein besseres Leben bekommt.

Als an der Abwehranlage ein Mensch stirbt, versuchen Politik und Sicherheitsfirmen mit allen Mitteln, den Vorfall zu verharmlosen. Zur gleichen Zeit begeben sich zwei senegalesische Flüchtlinge in die Hände einer Schlepperbande, um nach Europa zu gelangen. Von dem Zaun wissen sie nichts …

Jan Zweyer entwirft eine Zukunftsvision, in der Europa sich seiner Angst vor Flüchtlingsströmen vorbehaltlos hingegeben hat.

Der Autor

Jan Zweyer wurde 1953 in Frankfurt am Main geboren. Mitte der Siebzigerjahre zog er ins Ruhrgebiet, studierte erst Architektur, dann Sozialwissenschaften und schrieb als ständiger freier Mitarbeiter für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Er war viele Jahre für verschiedene Industrieunternehmen tätig. Heute arbeitet Zweyer als freier Schriftsteller in Herne.

Nach seiner Mittelaltertrilogie Das Haus der grauen Mönche und deren Fortsetzung Ein Königreich von kurzer Dauer begibt er sich mit Starkstrom in die nahe Zukunft.

 

Tausende Menschen ertranken in den letzten Jahren bei dem Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen. Sie flohen vor Krieg, Terror oder Hunger und suchten ein besseres, friedliches Leben. Doch sie fanden den Tod.

Prolog

Europa in naher Zukunft

Paolo Ricci hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Am frühen Morgen hatte sich der Techniker durch die berüchtigten Staus rund um Mailand nach Süden gekämpft, um seinen turnusmäßigen Kontrollbesuch am Zaun in Viadana durchzuführen. Einmal im Quartal unternahm er diese Fahrt, sofern ihn nicht außergewöhnliche Ereignisse zu einer häufigeren Inspektion zwangen.

Heute hatte nichts Besonderes angelegen, Routinearbeiten standen auf dem Programm: die Technik überprüfen, die Mitarbeiter einnorden, hier und da nach dem Rechten schauen. Riccis Besuche fanden grundsätzlich unangemeldet statt. Dieses Mal war er besonders unberechenbar vorgegangen: Sein letzter Kontrollgang lag gerade zwei Wochen zurück. Niemand hatte geglaubt, dass er in so kurzem Abstand in Viadana erscheinen würde. Sollten sich Nachlässigkeiten in die Arbeitsabläufe eingeschlichen haben, würde er sie so sicher aufspüren.

Paolo konnte dank seiner elektronischen Ausweiskarte durch einen mehrfach gesicherten Nebeneingang unbemerkt auf das Gelände gelangen und machte von dieser Möglichkeit dann und wann Gebrauch. Denn das Sicherheitspersonal an der Pforte kannte ihn und schlug, kaum dass er die Schranke passiert hatte, unverzüglich Alarm, um die Kollegen vor seinem Erscheinen zu warnen. Daran hatte er keinen Zweifel, war er selbst doch genauso vorgegangen, als er noch zu Ausbildungszwecken an der Pforte gesessen hatte. Außer ihm kannte nur der örtliche Leiter diese alternative Route. Der dürfte sich um diese Uhrzeit allerdings anders als Paolo bereits bei einem Glas Rotwein entspannen.

Ricci seufzte. Er saß in einem kleinen Raum im zweiten Stock des Verwaltungstrakts des Technikgebäudes, durch dessen winziges Fenster er auf das etwa einen Kilometer entfernt stehende lokale Kontrollzentrum sehen konnte. Darin stand das Herz der Überwachungsanlage, von dem aus die nicht direkt aus Hamburg oder Mailand organisierten Funktionen des Zauns gesteuert wurden. Außerdem lagen dort die Aufenthaltsräume der Sicherungsteams. Die Kontrolle dieses Bereichs hatte sich Paolo für später aufgehoben.

Im Technikgebäude standen die Generatoren, die die Energie für die gesamte Anlage lieferten, die An- und Abschalteinrichtungen der Stromversorgung, die Heizungsanlage und weitere Versorgungseinrichtungen wie Werkstätten oder Magazine.

Die Tür zum Flur hatte Ricci in der vergeblichen Hoffnung offen stehen lassen, sich so etwas Kühlung zu verschaffen. Aber das ganze Gebäude war überheizt. Der Mailänder erstellte eine Notiz auf seinem Smartphone. Der zuständige Schichtleiter konnte sich auf einen Rüffel gefasst machen.

Ricci überprüfte das Wartungsbuch, in das die Techniker jede Reparatur eintragen und mit ihrer Unterschrift quittieren mussten. Es schien alles in Ordnung zu sein.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war spät geworden und draußen bereits stockdunkel. Vor Mitternacht dürfte er nicht zurück in Mailand sein. Glücklicherweise hatte er Chiara gebeten, nicht mit dem Essen auf ihn zu warten. Sicher würde sie bald zu Bett gehen.

Ein Geräusch ließ Paolo aufschrecken. Er schlug das Wartungsbuch zu, legte es zurück an seinen Platz und lauschte. Wieder vernahm er ein leises Quietschen, als ob eine schlecht geölte Tür bewegt wurde. Seltsam. Die Eingangstür hatte er nach seinem Eintreten wieder abgeschlossen.

Eigentlich sollte sich um diese Zeit niemand mehr in dem Trakt aufhalten, es sei denn, eine Reparatur wäre erforderlich. Aber dann hätte der Kontrollrechner, der vor Paolo auf dem Schreibtisch stand und leise vor sich hin summte, eine entsprechende Meldung auf dem Bildschirm angezeigt. Wer war also noch im Gebäude?

Wieder vernahm er das Quietschen, gefolgt von dem Klang einer zufallenden Tür.

Paolo trat in den Flur hinaus. Auch hier brannte, wie in allen Gebäuden der Einrichtung, ständig Licht. Die Verantwortlichen im fernen Hamburg hofften, so Zaunverletzer abzuschrecken. Zwar war das nicht mehr als ein frommer Wunsch, denn mittlerweile hatte sich herumgesprochen, dass die Beleuchtung nie abgeschaltet wurde, trotzdem revidierte niemand diese kostspielige Entscheidung.

An der Treppe angekommen, lauschte der Mailänder erneut. Alles blieb ruhig. Hatte er sich geirrt und das Anspringen eines der Generatoren für das Geräusch einer sich schließenden Tür gehalten? Wahrscheinlich.

Bisher hatte Paolo noch niemanden getroffen – der geeignete Zeitpunkt, der Überwachungsanlage einen überraschenden Besuch abzustatten. Der Techniker holte seinen Mantel aus dem Raum und machte sich auf den Weg.

Als er ins Freie trat, hatte der Wind aufgefrischt. Er schlug den Kragen hoch und überlegte, ob er nicht seinen Wagen nehmen sollte. Dann wäre allerdings die Kontrollbesatzung möglicherweise vorgewarnt und das galt es zu vermeiden.

Der hundert Meter entfernte Zaun bot im Licht der Scheinwerfer ein beeindruckendes Bild. Silbrig glänzte der Maschendraht, die Bereiche zwischen den elektrisch geladenen Zäunen waren glatt geharkt und vollständig ausgeleuchtet, sodass jeder Fußabdruck gut zu erkennen war. Paolo blieb in der geöffneten Tür stehen und zündete sich eine Zigarette an.

Plötzlich traten aus dem Schatten des Technikgebäudes drei Männer ins Blickfeld des Mailänders. Sie kamen von der anderen Seite des Gebäudes, aus der Richtung, in der der Parkplatz lag. Einer von ihnen schob eine Karre, in der etwas Undefinierbares lag, ein anderer trug lange Stangen, an deren Enden ein Brett befestigt war. Sie ähnelten extrem langen Schneeschaufeln. Um den Hals des Dritten baumelte eine Kamera.

Die Unbekannten gingen zügig zum inneren Zaun, der verhindern sollte, dass jemand vom Überwachungspersonal irrtümlich in den gesicherten Bereich gelangte. Sie öffneten die Schleuse zur Sperrzone, passierten durch sie den inneren Zaun, dann den letzten mit geringer Spannung geladenen Abwehrzaun. Wie hatten sie es mit der Karre und den Stangen geschafft, unbemerkt in diesen mehrfach geschützten Bereich vorzudringen?

»He, Sie. Was machen Sie da?«

Der Kerl mit der Kamera fuhr herum. Als er Paolo sah, rief er seinen Begleitern etwas zu. Der eine ließ die Stangen fallen, der andere die Schubkarre los. Wie auf Kommando rannten alle drei Richtung Kontrollzentrum.

Paolo wusste, dass das Gebäude durch eine Mauer gesichert war. Um dieses Hindernis zu umgehen, hätte er erst zum Parkplatz zurücklaufen müssen, um von dort der Straße zu folgen. Der kürzere Weg führte jedoch durch den Sicherheitsbereich.

Paolo musste erst mittels eines Schalters den Strom in der Schleuse abschalten und diese mit seinem Ausweis öffnen, bevor er den abgesicherten Bereich betreten und den Flüchtigen, die bereits einige Hundert Meter Vorsprung hatten, folgen konnte. Im gesicherten Bereich des Zaunes selbst befanden sich keine Alarmschalter. Kurz erwog Paolo, zurück ins Gebäude zu laufen, um dort die Überwachungstechniker zu informieren. Er entschied sich jedoch dagegen, denn möglicherweise würden die Flüchtenden seine Abwesenheit nutzen, um sich unbemerkt davonzustehlen. Das wollte er um jeden Preis verhindern.

Zunächst verlief der Zaun gerade, sodass Paolo sich in der Nähe des Abwehrzauns halten konnte. Als er die Karre passierte, erkannte er, dass sich darin ein totes Schwein befand. Aber darüber konnte er sich später wundern. Zunächst musste er die Fliehenden stellen.

Und dann? Was, wenn die Kerle bewaffnet waren? Was, wenn sie sich einfach auf ihn stürzten? Also begann er, laut zu schreien. Vielleicht hörte ihn ja einer seiner Kollegen im Kontrollzentrum. Wenn nicht würde er auf seine militärische Kampfausbildung vertrauen. Vielleicht hatte er eine Chance. Auf jeden Fall würde er nicht aufgeben, das verbot sein Pflichtgefühl.

Japsend beschleunigte er weiter, denn die drei Männer hatten das Kontrollzentrum fast erreicht. Dort befand sich eine weitere Schleuse, durch die sie – einen entsprechenden Ausweis und die Kenntnis der Codezahlen vorausgesetzt – den Sicherheitsbereich verlassen konnten. Die Zeit drängte.

Der Zaun verlief jetzt in einem lang gestreckten Bogen. Die Männer vor ihm rannten zu seiner Verwunderung rechts entlang der äußeren Zäune, so weit wie möglich vom Abwehrzaun entfernt. Da dieser Außenbogen länger war, konnte Paolo Zeit einsparen und die drei vielleicht noch stellen. Er wandte sich nach links.

Den grellen Blitz und die unglaubliche Hitze, die ihm entgegenschlug, nahm er noch wahr. Dann aber fiel er nach vorn und stürzte in den Abwehrzaun, der eigentlich nur mit Schwachstrom geladen sein sollte. In einem Reflex verkrampfte sein Körper, als Tausende von Ampere durch seine Muskeln schossen. Flammen züngelten empor, Rauch stieg auf, Riccis Haut färbte sich schwarz, platzte und sein Blut kochte. Davon jedoch spürte Paolo glücklicherweise nichts mehr.

1

Vier Wochen zuvor

»Durchbruchsversuch«, meldete die nüchterne Computerstimme. »Groß-Tirol, Sektor zwölf.«

Ein rotes Lämpchen blitzte rhythmisch über dem Großbildmonitor an der Wand des Kontrollraums, der in gedämpftes Licht getaucht war.

Peter Nielsen, Leiter der Nachtschicht, sah nicht hin. Diese Meldung hörten er und seine Kollegen mehrmals täglich. Er wusste, um welchen Abschnitt es sich handelte, schließlich hatte er dort vor Jahren den für angehende Führungskräfte obligatorischen Auslandseinsatz absolviert. Als Sektor zwölf wurde der Zaunabschnitt bei Viadana bezeichnet, der Kleinstadt am nördlichen Ufer des Po, direkt an der Außengrenze Zentraleuropas gelegen.

Der Computer wiederholte die Nachricht. Nielsen seufzte, schaute nun doch hoch und setzte die vorgeschriebene Prozedur in Gang. Er tippte auf eine Taste des in sein Pult eingelassenen Monitors. Ab jetzt würden alle Gespräche, die er über sein Mikrofon führte, zu Kontrollzwecken aufgezeichnet. Er wartete, bis der Farbwechsel von Rot zu Grün signalisierte, dass er sprechen konnte, gab den Code für Viadana ein und sagte dann auf Englisch in das Mikrofon seines Headsets: »Sektor zwölf, wir haben einen Durchbruchsversuch.«

»Ich weiß«, antwortete der zuständige Techniker nach einem Moment. »Ein Sicherungsteam ist bereits unterwegs.«

Die übergeordnete Sektorenkontrolle schaltete sich ebenfalls in das Gespräch ein. »Guten Abend, hier ist Mailand. Grüße nach Berlin.«

Nielsen, dem die Stimme bekannt vorkam, fragte auf Deutsch: »Bist du das, Paolo? Hier spricht Peter.«

»Peter! Schön, von dir zu hören. Wie geht es dir?«

»Prima, wenn ich davon absehe, dass ich dieses Gespräch mit dir bei der Arbeit anstatt in einer Trattoria führe.«

Paolo Ricci ließ sein kehliges Lachen hören, wurde dann aber abrupt ernst. »Das Überwachungsteam ist eingetroffen. Willst du die Bilder sehen?«

»Mein Gott, seid ihr schnell. Der Alarm wurde vor nicht einmal zwei Minuten ausgelöst.«

»Das Team war für Wartungsarbeiten am Zaun schon in der Nähe.«

»Verstehe. Schick sie mir.« Nielsen schaltete um.

Einen Moment später flackerte der Großbildmonitor und die Karte Zentraleuropas wurde durch Aufnahmen des Einsatzortes ersetzt, festgehalten von der Helmkamera eines Mitglieds des Überwachungsteams.

Es dauerte etwas, bis sich Nielsen an den starken Kontrast gewöhnte. In den Abschnitten, in denen die starken Leuchten den Sicherheitsbereich des Zaunes ausstrahlten, war es taghell, überall sonst herrschte tiefe Nacht. Entsprechend dunkel waren die Schatten, die einzelne Zaunstangen warfen.

Das Bild wackelte, weil der Kameraträger rannte. Es war den Entwicklungsingenieuren trotz aller Anstrengungen immer noch nicht gelungen, Stabilisatoren zu bauen, die solche Bewegungen vollständig ausglichen. Nielsen erkannte schemenhaft zwei flüchtende Personen.

Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter den Kopf. Immer wieder dasselbe Schauspiel. Wurden die Menschen denn nie klüger? Von Jahr zu Jahr war das Überwachungssystem der GoFeCo, wie die Öffentlichkeit Nielsens Arbeitgeber, die Good-Fence-Cooperation nannte, immer weiter perfektioniert worden. Seit einigen Jahren hatte es fast niemand mehr über die Grenze geschafft. Die meisten scheiterten bereits am ersten Abwehrzaun. Der war rund fünf Meter hoch. Dahinter befand sich auf einer Breite von zehn Metern ein ineinander verflochtener Drahtverhau mit messerscharfen Widerhaken, die jedem ungeschützten Menschen üble Verletzungen zufügen konnten. Die meisten Durchbrecher versuchten deshalb, den Verhau mit Drahtscheren zu zerschneiden. Sie wussten nicht, dass feine Sensordrähte jede Beschädigung sofort an die für diesen Sektor zuständige Überwachungszentrale meldeten. Da das Schneiden einige Zeit in Anspruch nahm, waren die Überwachungsteams in aller Regel bereits am Tatort, bevor der Durchbruch erfolgte.

Wer es trotzdem über den ersten Abwehrzaun schaffte, musste einen fünf Meter breiten Streifen voller verdeckt angebrachter Stolperdrähte passieren, die den Durchbrecher nicht nur zu Fall brachten, sondern selbstverständlich weiteren Alarm auslösten. Wurden auch diese Barrieren wider Erwarten überwunden, folgte das dritte und eigentlich unüberwindbare Hindernis: vier weitere, jeweils sechs Meter hohe Zäune, die allesamt unter Strom standen. Der erste führte nur Schwachstrom, der lediglich ein unangenehmes Kribbeln auslöste – als Warnung für das Folgende, denn die Stärke steigerte sich mit jedem Hindernis. Und wer meinte, sich mit Isolierzangen, -handschuhen oder -kleidung schützen zu können, wurde spätestens am letzten Zaun bitter enttäuscht. Hier waren hoch über den Köpfen der Durchbrecher Elektroschussanlagen angebracht, die, von Gewichtssensoren im Boden gesteuert, Drähte abfeuerten, welche kurzfristig starke Ströme übertrugen. Jeder, der von ihnen getroffen wurde, fiel bewegungsunfähig zu Boden und wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt.

Die Konstrukteure dieser Taser-Selbstschussanlage waren sehr stolz auf ihr Produkt. Es sei human und ebenso ungefährlich wie der stromführende Zaun, hatten sie versichert. Um die Behauptung ihrer Firma glaubwürdig bestätigen zu können, musste sich jede angehende Führungskraft während des Traineeprogramms einmal dieser Waffe aussetzen. Auch Nielsen hatte sich damals unter Krämpfen im Sand gewälzt. Von einigen Stunden Kopfschmerzen und einem gewaltigen Muskelkater abgesehen, war ihm nichts geschehen. Trotz anderslautender Bedenken hatten die Taser noch keinem Durchbrecher anhaltenden Schaden zugefügt. Was aber auch schlicht daran liegen konnte, dass es noch nie einer bis zum letzten Hindernis geschafft hatte, wie Kritiker der GoFeCo vorwarfen.

»Wie geht es Karla?«, wollte Ricci wissen, während Nielsen auf dem Monitor erkannte, dass die beiden Durchbrecher fast eingeholt waren.

»Keine Ahnung. Wir haben uns vor zwei Jahren getrennt.«

»Oh, das tut mir leid.«

Riccis Bemerkung versetzte Nielsen einen Stich. Er hatte immer noch nicht verwunden, dass seine Freundin ihn verlassen hatte. Zwar war die Trennung nach den ewigen Streitereien nur folgerichtig gewesen, trotzdem vermisste er seine Ex. Aber das ging niemanden etwas an.

Also log er: »Keine Ursache. Es war besser so für uns beide. Wir haben uns auseinandergelebt. Außerdem hatte Karla kein Verständnis für meine Arbeit.«

»Na denn.« Ricci machte eine Pause. »Ich glaube, das Sicherungsteam hat sie.«

»Sieht so aus.«

Auf dem Bildschirm war zu erkennen, wie fünf Uniformierte zwei junge Männer umringten, sie dann zu Boden warfen, durchsuchten und ihnen schließlich die Hände auf den Rücken fesselten.

»Durchbruchsversuch abgewehrt«, plärrte es aus dem Lautsprecher.

»Durchbruch geschah mittels Leitern und Matten. Keine Schäden am Zaun. Einsatz erfolgreich beendet«, meldete der Leiter des Sicherungsteams vor Ort. »Durchbrecher werden zur Zentrale gebracht und dem Richter übergeben. Ende.«

Nielsen kannte das Verfahren. Ein Schnellrichter würde die Gefassten wegen des Versuches der illegalen Einreise nach Zentraleuropa zu sechs Monaten Gefängnis in speziellen Auffanglagern, verharmlosend Transitzentren genannt, aburteilen. Es gab keine Verteidiger, keine Anhörung, keine mildernden Umstände, keine Einzelfallprüfung, kein Asylverfahren. Denn Asyl beantragen konnte nur, wer europäischen Boden erreichte. Der Prozess selbst nahm nicht mehr als fünfzehn Minuten in Anspruch. Wer sich nicht ausweisen wollte oder konnte, weil er seine Papiere auf der Flucht verloren hatte, landete nach der Verbüßung seiner Strafe in den Transitzentren auf Sizilien, in Griechenland, Spanien oder Rumänien – auch nichts anderes als Gefängnisse, nur viel, viel größer. Alle anderen wurden in ihr Heimatland abgeschoben. Ausnahmslos.

Aus den Zentren selbst gab es nur zwei Wege: Entweder räumte der Durchbrecher ein, woher er stammte, und wurde zurück in sein Heimatland geschickt oder ihm gelang ein Treffer in der monatlichen Lotterie, bei der pro Ziehung fünfhundert Glücklichen der Weg nach Zentraleuropa offenstand. Sechstausend im Jahr. Teilnehmen durften allerdings nur jene, die lediglich einmal versucht hatten, illegal einzureisen. Wer häufiger am Zaun festgenommen wurde, hatte das Recht verwirkt, jemals Asyl in Zentraleuropa zu erhalten. Manche dieser Menschen vegetierten schon seit Jahren hinter den Gittern der Transitzentren.

Dieses Vorgehen war nationales Recht der EU-Mitgliedstaaten und durch entsprechende Beschlüsse der EU-Kommission manifestiert. Der Europäische Gerichtshof hatte die Regelungen in mehreren Verfahren für zulässig erklärt und die höchsten Gerichte der Nationalstaaten hatten diese Entscheidung übernommen. Eine Intervention der Generalversammlung der Vereinten Nationen wurde durch die Staaten Zentraleuropas schlicht ignoriert. Und bis in den Sicherheitsrat der UN schaffte es dieser Sachverhalt nie, die mühsam wiedererlangte Stabilität des europäischen Kontinents wollte keines der ständigen Mitglieder dieses Gremiums gefährden.

Jahrelang hatten einzelne Staaten der früheren Europäischen Union an der Schwelle eines Bürgerkrieges gestanden. Separatisten in vielen Ländern forderten immer lauter die Unabhängigkeit – die zum Teil nationalistischen Regierungen stellten sich dagegen. Militanter Widerstand in Schottland wurde von der britischen Regierung gewaltsam zerschlagen. Tausende Menschen kamen bei den Unruhen ums Leben. Die Europäische Union sah lediglich zu. Schließlich hatte Großbritannien schon Jahre zuvor die EU verlassen. Dann hatte sich die Londoner Regierung durchgesetzt – zum Preis einer Friedhofsruhe im wahrsten Sinne des Wortes. Eine Vereinigung Irlands allerdings konnte sie nicht verhindern.

Auch in Katalonien und Südtirol flammten Aufstände auf. Da es sich bei diesen Regionen allerdings um wirtschaftlich starke Gebiete handelte, unterstützten einige EU-Staaten, die keine weiteren Ausgleichszahlungen an diese Länder leisten wollten, unter der Führung Deutschlands schließlich den Loslösungsprozess. Das führte dazu, dass Spanien und Italien nach heftigen diplomatischen Scharmützeln die EU verließen. Weitere Länder folgten, als Kerneuropa beschloss, auch ihnen die Finanzmittel drastisch zusammenzustreichen. Ein Krieg zwischen den Staaten konnte nur mühsam verhindert werden. So gab es nun ein zweigeteiltes Europa. Die Staaten an der Peripherie, zusammengeschlossen in der Europäischen Assoziation, und die Kerneuropas.

Nur der Flüchtlingsstrom endete nicht. Um ihn einzudämmen, bauten die Regierungen Zentraleuropas, getrieben von starken rechtspopulistischen Parteien in ihren Ländern, einen Zaun, der ein Vermögen gekostet hatte und dessen Unterhalt Unsummen verschlang. Trotzdem brachen Tag für Tag Tausende auf, um Europa und damit ein besseres Leben zu erreichen.

Natürlich konnten Verfolgte nach wie vor Asyl beantragen. Das betonten die verantwortlichen Politiker immer wieder. Das Asylrecht werde nicht eingeschränkt. Aber dazu mussten sich die Flüchtlinge auf dem Boden Zentraleuropas befinden. Und um eben das zu verhindern, war der Zaun gebaut worden. Ohne politischen Willen würde sich diese Praxis in den nächsten Jahren nicht ändern. Nielsen war das nur recht. Sein Arbeitsplatz hing davon ab.

»Danke. Guter Job«, bestätigte Ricci dem Überwachungsteam. Dann wandte er sich wieder an seinen Kollegen im fernen Deutschland: »Du bekommst den Einsatzbericht per Mail. Ach ja, es wäre schön, wenn wir uns mal wiedersehen würden. Die Trattoria im Quadrilatero della moda, in der wir uns früher häufiger getroffen haben, gibt es noch.«

»Haben sie immer noch das vorzüglich gegrillte Schwein auf der Speisekarte?«

»Natürlich.«

Wieder seufzte Nielsen. »Nur – die Arbeit …«

»Ach, komm. Wir sollten uns so schnell wie möglich treffen. Chiara würde sich bestimmt auch freuen, dich wiederzusehen.«

»Wenn ich es mir genau überlege – vielleicht Anfang Mai. Ja, in der ersten Maiwoche. Da habe ich Urlaub. Was hältst du davon?«

»Das geht in Ordnung. Ich nehme mir einige Tage frei. Und Chiara dürfte bis dahin ihren Bruch ausgeheilt haben.«

»Was ist ihr denn zugestoßen?«

»Sie ist über eine Schubkarre gestolpert.«

»Wie bitte?«

Ricci kicherte. »Eine lange Geschichte. Aber ich glaube nicht, dass unser Arbeitgeber Verständnis dafür aufbringt, wenn wir uns ausführlich darüber unterhalten.«

»Wohl kaum. Wann sprichst du mit ihr?«

»So schnell wie möglich. Lass uns in Kontakt bleiben. Ciao, Peter.«

»Machs gut, Paolo.«

Als Nielsen wieder in den Routinebetrieb schaltete, hatte er die Festnahme der zwei Männer schon fast vergessen. Er freute sich auf das morgige Wochenende. Endlich ausschlafen, lesen und etwas Fahrrad fahren.

2

Der Wind pfiff um das einstige Schulgebäude, das die Franzosen erbaut hatten. Der von ihnen bezahlte Lehrer war zurück nach Dakar gegangen, als die europäischen Hilfslieferungen gekürzt wurden und das Kultusministerium Senegals in der fernen Hauptstadt sein Gehalt nicht mehr zahlen konnte oder wollte. Seitdem war die Schule verwaist und diente den Dorfbewohnern als Versammlungsraum.

Aber selbst wenn das Lehrergehalt weitergeflossen wäre, hätte es keine Schüler mehr gegeben, die der Pädagoge hätte unterrichten können. Denn in den letzten Jahren hatte sich die Steppe immer weiter ausgebreitet. Der jährliche Sommermonsun war schwächer geworden, bis er in den letzten Jahren fast ganz ausblieb. Seit zwanzig Monaten hatte es kaum geregnet und die wenigen Tropfen, die vom Himmel fielen, verdunsteten schnell auf dem sprichwörtlich heißen Stein. Die Brunnen der Bauern versiegten und die von den Europäern mit großem Tamtam eingeweihten Bewässerungssysteme verrotteten in der gnadenlosen Sommersonne. Immer weitere Wege mussten die Frauen und Kinder zurücklegen, um Wasser aus den wenigen verbliebenen Quellen in ihr Dorf zu schaffen. Stunde um Stunde schleppten sie die prallen Lederschläuche auf den Rücken durch die Steppe, trugen Kanister auf Schultern und Köpfen. Unterricht wird nebensächlich, wenn das Verdursten von Mensch und Vieh droht. Die Felder lagen schon lange brach. Für sie reichte das Wasser nicht, das die verbliebenen Bewohner heranschleppten.

Jetzt, im Januar, wehte der Harmattan kontinuierlich aus Nordosten. Er trug den Staub der Sahara mit sich und blies auch die wenigen fruchtbaren Sedimente von den Äckern, die eigentlich das Überleben der Einheimischen sichern sollten, wenn es denn endlich wieder einmal regnete. Aber kein Tropfen fiel vom Himmel.

Viele Bewohner hatten das namenlose Dorf deshalb auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen und waren in die rund einhundert Kilometer westlich liegende Provinzhauptstadt Tambacounda gezogen, andere auf der Flucht vor Hunger und Durst gleich ins ferne Dakar. Aber egal wohin sie sich auch wandten, sie waren Bauern und Ziegenhirten und hatten nichts anderes gelernt. Das jedoch waren Berufe, die die großen Städte nicht brauchten. Und so vegetierten die Zugezogenen in den Elendsquartieren, verdingten sich als Tagelöhner und waren froh, wenn sie sich wenigstens eine karge Mahlzeit leisten konnten.

Die im Dorf Zurückgebliebenen wussten nicht, dass der fehlende Regen und die immer weiter voranschreitende Wüstenbildung ein Ergebnis des Klimawandels waren. Die großen Industrienationen hatten trotz einiger gefeierter halbherziger Beschlüsse die Erwärmung der Erde nicht gestoppt, im Gegenteil. Jedes Jahr brachte neue Hitzerekorde. Die Dörfler wussten auch nicht, dass Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, wollten sie überleben, im fernen Europa verharmlosend als Wirtschafts- oder gar Wohlstandsflüchtlinge bezeichnet wurden, die keinerlei Recht auf Asyl hätten.

Tatsächlich waren diese Bezeichnungen sogar formal korrekt. Im Senegal gab es keine Kriege, keine marodierenden Warlords, keine islamistischen Terrorgruppen. Nur Hunger und Durst, die allerdings ebenso töten konnten wie Schnellfeuergewehre. Es dauerte nur länger.

Eines Tages kamen drei große Geländewagen in das Dorf. Ihnen entstiegen bullig aussehende Männer, die einen vornehm gekleideten Städter in ihre Mitte nahmen. Der ließ die Ältesten in eben jenem Gebäude zusammenrufen, das vorher die Schule beherbergt hatte. Er erzählte von einem besseren Leben hoch im Norden, von Reichtum und Überfluss, von kostenloser Gesundheitsversorgung, Schulen und Universitäten für jeden. Wer dorthin reise und arbeite, könne die Familien im Dorf unterstützen. Und er, Moussa Mané, werde die Reise organisieren. Wer Interesse an seinem Angebot habe, müsse sich nur in Agadez einfinden, einer nigrischen Stadt am Südrand der großen Wüste. Von dort würden seine Leute einen sicheren Transport durch die Sahara nach Libyen organisieren, dann eine kleine Seereise über das Meer und schon sei man in Europa. Treffpunkt sei die Bar Le petit étranger, die kenne jeder vor Ort. Dort müssten Interessierte nur nach ihm fragen und schon könne die Reise ins Glück beginnen. Und weil ihm das Schicksal seiner Landsleute so am Herzen liege, nehme er lediglich zweitausendfünfhundert Euro pro Person, ein Spottpreis. Die dreieinhalbtausend Kilometer in die Wüstenstadt könnten Interessierte mit Bussen zurücklegen, seine Männer draußen seien gerne bei der Reiseplanung behilflich.

Die Dorfbewohner rissen sich um die Hinweise – sie waren ja kostenlos. Und schon kurz darauf hatte fast jede Familie im Dorf einen fotokopierten Zettel in der Hand, auf dem die Stationen der Fahrt aufgelistet waren.

Zufrieden schwang sich der vermeintliche Gönner wieder in seinen SUV. Die Fahrer gaben Gas und die Wagen verließen das Dorf in der Steppe, Staubwolken hinter sich herziehend.

Drei Tage später versammelten sich die Männer des Dorfes erneut in der Schule, um über das Angebot Moussa Manés zu sprechen.

»Warum über etwas reden, was jenseits unserer Möglichkeiten liegt?«, beschwerte sich einer der Anwesenden. »Ich müsste draußen auf den Feldern sein.«

»Um was zu tun?«, gab ein anderer zurück. »Staub fegen? Oder den Pflanzen beim Vertrocknen zusehen?«

»Du hast ja keine Ahnung. Deine Ernteerträge waren schon immer gering.«

»Was willst du damit sagen? Dass ich ein schlechterer Bauer bin als du?«

»Genau das.«

Streit brach aus, alle redeten durcheinander. Einige Bewohner drohten anderen mit den Fäusten, beschimpften sich gegenseitig. Der Druck, ihre Familien ernähren zu müssen, ohne zu wissen, wie, lastete auf ihnen und suchte ein Ventil. Die sonst herrschende friedliche Balance war in Gefahr.

Ein zahnloser Mann meldete sich. Niemand, er eingeschlossen, wusste, wie alt er war. Sein Rücken war krumm und das Gehen bereitete ihm Mühe, aber sein Geist war wach und klar. Sein Wort wog fast so schwer wie das des islamischen Heiligen, doch der Marabout saß abseits und schwieg.

Der Zahnlose erhob sich. »Hört auf, euch zu streiten. Niemand von uns hat zweitausendfünfhundert Euro.«

»Eben. Das sind mehr als eineinhalb Millionen Francs«, rief einer dazwischen.

»Richtig. Aber wenn wir alle zusammenlegen, reicht es vielleicht für zwei von uns.«

»Und wer soll gehen? Du etwa?«

Einige lachten.

»Nein. Zwei unserer Söhne.«

»Und dann?«

»Suchen sie sich Arbeit in Europa und schicken uns von ihrem Verdienst, was sie entbehren können.«

Die Männer schwiegen nachdenklich.

Dann fragte einer: »Wer soll gehen?«

»Das entscheiden wir gemeinsam. Aber erst müssen wir klären, wer wie viel geben kann.«

»Wenn ich meine Ersparnisse für diese Reise opfere, hat meine Familie in einem Jahr nichts mehr zu essen.«

Der Zahnlose stand erneut auf. »Wenn du jetzt auf deinem Ersparten sitzen bleibst, wird sie in zwei Jahren nichts mehr haben. Also, wer beteiligt sich?« Er hob als Erster die Hand.

Zögernd folgten weitere, bis schließlich alle Männer des Dorfes ihr Einverständnis erklärten. Dann machten sie sich daran aufzuschreiben, wer wie viel beisteuern konnte.

Wieder meldete sich der Alte. »Es sind fast sechstausend Euro zusammengekommen. Das sollte reichen.«

»Überlegt euch gut, was ihr da vorhabt.« Der Marabout war in die Mitte des Raumes getreten. »Es sind Tausende von Kilometern bis zum Meer. Die Reise ist beschwerlich und vor allem gefährlich. Banditen lauern an jeder Ecke. Viele Flüchtlinge werden ausgeraubt, manche umgebracht. Und selbst wenn unsere Söhne das Meer erreichen, sind sie nicht in Sicherheit. Die Boote für die Überfahrt sind klein und überfüllt. Viele kentern, es sind schon Tausende ertrunken.«

»Woher willst du das wissen?«, unterbrach ihn einer der Männer und ließ so mangelnden Respekt erkennen.

»Ich bin der Einzige im Dorf, der noch Batterien für sein Radio besitzt, wie ihr wisst. In einer Sendung wiesen Angestellte unserer Regierung auf die Gefahren der Flucht hin.«

Seit mit dem Wasser auch die Dieselvorräte für den Generator zur Neige gegangen waren, gab es keinen Strom mehr im Dorf. Ein einziges Mal war ein Tanklastwagen aus Tambacounda gekommen, aber auch das lag schon Monate zurück. Seitdem waren ihre Radios und Mobiltelefone stumm geblieben.

»Ach was, das sind doch die Befürchtungen von Waschweibern.«

»Du nennst mich ein Waschweib?« Die Stimme des Marabouts klang bedrohlich.

»Nein, nein«, versicherte der Angesprochene eilig. »Nicht dich habe ich gemeint, sondern die Leute im Radio, von denen du erzählt hast. Dir glaube ich jedes Wort und stimme zu, dass wir gründlich beraten müssen. Aber den Regierungsbeamten traue ich nicht über den Weg. Was haben sie uns schon alles versprochen? Und was ist davon eingetreten? Nichts.«

Viele der Männer nickten zustimmend.

»Also, sollen wir das Risiko, auf das uns der Heilige hingewiesen hat, eingehen?«

Die Beratungen zogen sich noch Stunden hin. Schließlich hatten die Männer eine einstimmige Entscheidung gefällt. Bahdi Kara und Djibi Diolp sollten gehen. Sie waren jung und kräftig, sprachen leidlich Französisch und hatten sogar einige Brocken Englisch aufgeschnappt, Fähigkeiten, die ihnen in der Fremde sicher nützen würden. Und ihre Familien waren es, die am meisten in die Reise investiert hatten. Der Druck, ihr Bestes zu geben, um das Überleben der Daheimgebliebenen zu sichern, war so bestimmt groß genug.

Der Marabout ließ nach den beiden schicken, denn sie standen erst an der Schwelle zum Mannsein, waren daher noch nicht alt genug, um an der Versammlung teilzuhaben. Als die Auserwählten vor ihm standen, teilte er ihnen das Votum der Versammlung mit. Beiden war der Stolz anzusehen, mit dieser wichtigen Aufgabe betraut zu werden.

»Und denkt daran: Das Schicksal nicht nur eurer Familien, sondern des ganzen Dorfes hängt von euch ab. Versagt ihr, müssen wir alle hungern und sterben. Ihr seid unser aller Hoffnung. Zeigt euch dieser Aufgabe und des Vertrauens, welches wir in euch setzen, würdig.«

Der Weise hob die Hand, um beide zu segnen. Gehorsam senkten Bahdi und Djibi die Köpfe. Nur wer genau hingehört hatte, konnte den resignativen Tonfall des Marabouts wahrnehmen.

3

Das Schrillen des Telefons riss Karla Touré aus ihrer Arbeit. Die Journalistin des Herolds, eines großen, in Hamburg erscheinenden Nachrichtenmagazins, recherchierte gerade für einen geplanten Artikel über Migranten. Ungehalten über die Störung, griff sie zum Hörer.

»Ja?«

»Zentrale. Ich habe hier ein Gespräch aus Dakar in der Leitung. Den Namen des Anrufers konnte ich nicht richtig verstehen, er hat aber explizit nach Ihnen gefragt. Sein Französisch ist nicht das beste. Soll ich Sie verbinden?«

Wer rief sie aus der senegalesischen Hauptstadt an?

»Stellen Sie durch.«

Als Karla das leise Knacken hörte, das den Umschaltvorgang begleitet, meldete sie sich mit ihrem Namen.

»Gaata, bist du das?«, fragte jemand auf Wolof, der wichtigsten Sprache des Senegals.

Gaata. Das hieß Kleines. Seit Jahren war sie nicht mehr mit ihrem früheren Kosenamen angesprochen worden. Aufgewachsen als Tochter eines deutschen Diplomaten und einer senegalesischen Wissenschaftlerin in Dakar, hatte ihre Mutter sie so genannt. Aber die war schon vor Jahren verstorben. Und ihr Vater hatte diesen Spitznamen nicht gemocht. Er passt nicht zur dir, hatte er gemeint. Du bist das genaue Gegenteil.

Ein Gedanken schoss Karla durch den Kopf. Konnte es vielleicht sein, dass …? »Mbaye, bist du’s?«

»Ja.«

Der Sohn der Köchin, die in der Botschaft gearbeitet hatte. Die alleinerziehende Mutter hatte Mbaye jeden Morgen zur Schule gebracht. Ein entfernter Verwandter holte ihn nach Unterrichtsende ab und brachte ihn zum Botschaftsgelände, wo er die Zeit bis zum Dienstschluss seiner Mutter überbrückte.

Karla hatte sich mit ihm angefreundet, fehlerfreies Wolof von ihm gelernt und war quasi mit ihm aufgewachsen. Mbaye war der einzige Senegalese außerhalb ihrer Familie, mit dem sie engeren Kontakt gehabt hatte, von den restlichen Bediensteten abgesehen. Er war weit mehr als ein Spielkamerad gewesen. Karla hatte keine Geheimnisse vor ihm gehabt.

Nachdem ihr Vater in ein anderes Land versetzt worden war, hatten Mbaye und sie noch einige Briefe gewechselt. Dann aber wurden Karlas Schreiben nicht mehr beantwortet und sie hatte sich nach einiger Zeit damit abgefunden, ihren Jugendfreund niemals wiederzusehen.

»Wie geht es dir?«, fragte sie. »Wie bist du an meine Nummer gekommen? Was macht deine Mutter? Hast du …«

»Langsam, eines nach dem anderen. Meine Mutter ist tot. Sie starb vor fünf Jahren bei einem Autounfall.«

»Das tut mir leid«, erwiderte Karla leise. Die Erinnerung überrollte sie wie eine große Welle. »Sie war eine liebevolle Person und eine exzellente Köchin. Besonders ihr Thieboudienne schmeckte mir.«

»Ich weiß, du hast immer eine zweite Portion gegessen. Ich habe mich damals oft gefragt, wie ein Mädchen solche Unmengen Fisch und Reis vertilgen kann.« Mbaye machte eine Pause. »Ich habe vor einigen Wochen zufällig einen Artikel von dir in einer hiesigen Zeitschrift gelesen. Es ging darum, warum die Trockenheit zunimmt und sich die Wüsten ausbreiten.«

»Ach, den meinst du. Er erschien ursprünglich auf Deutsch, nach einer Anfrage aus Dakar habe ich ihn ins Französische übersetzt.«

»Ja. Darunter standen dein Name und der Hinweis auf die Zeitung, bei der du arbeitest. Ich habe nicht alles in dem Artikel verstanden, aber du hast recht. Unser Boden wird immer trockener, seitdem der Regen nur noch so spärlich fällt. Ich ernte kaum noch etwas …«

»Du bist Bauer?«, unterbrach sie ihn.

»Ja. Nördlich der Stadt habe ich eine kleine Farm. Aber meine Frau und die Kinder hungern. Arbeit gibt es auch nicht.«

»Brauchst du Geld?«, fragte Karla sofort.

»Sicher, aber nicht von dir. Ich nehme keine Almosen.«

»Vergiss bitte deinen Stolz. Außerdem sind das keine Almosen. Betrachte es als einen Kredit, den du zurückzahlst, wenn es dir wieder besser geht.«

»Es gibt im Senegal keine Zukunft für uns«, antwortete Mbaye in bitterem Tonfall. »Nirgendwo in Westafrika.«

»Was willst du machen?«

»Nach Europa gehen, am besten nach Deutschland. Erst ich, um Arbeit zu finden und genug zu sparen, um meine Frau und die Kinder nachzuholen.«

»Hast du ein Visum?«

»Nein. Das ist der Grund für meinen Anruf. Kann mir dein Vater helfen?«

Karla schluckte. »Ich glaube nicht. Man hat ihn vor drei Jahren in den Ruhestand geschickt. Er hat sich öffentlich negativ über die Außenpolitik der damaligen Bundesregierung geäußert. Das darf ein Diplomat niemals tun. Aber es war ihm ein Herzensanliegen. Er wusste, dass er Regeln brach, hatte aber wohl nicht wirklich damit gerechnet, dass die Reaktion seines Dienstherrn so massiv erfolgte. Selbst wenn er könnte, würde er nie wieder einen Fuß in ein Ministerium setzen. Vor allem nicht in das Auswärtige Amt.«

Ihr Freund schwieg. Dann bat er mit belegter Stimme: »Fragst du ihn trotzdem?«

Sie zögerte mit der Antwort, sagte aber schließlich: »Ja, das tue ich.«

Das war eine glatte Lüge. Aber Karla brachte es nicht übers Herz, Mbaye zu erzählen, dass sie mit ihrem Vater gebrochen hatte, nachdem dieser sich gegen ihre damalige Beziehung ausgesprochen und sie massiv unter Druck gesetzt hatte. Zwar hatten seine Bedenken sich als richtig herausgestellt und sie war inzwischen von ihrem Freund getrennt, aber Karla hatte ihrem Vater diese Einmischung in ihr Leben nie verziehen.

»Erhoffe dir nicht zu viel. Höchstwahrscheinlich wird er dir kein Visum besorgen können.«

»Dann muss ich es eben auf eigene Faust versuchen.«

»Mbaye, das ist gefährlich. Du kannst dabei ums Leben kommen.«

»Ich weiß. Aber habe ich eine Wahl?«

»Wie willst du das schaffen? Zentraleuropa ist gesichert wie eine Festung.«

»Es gibt Menschen, die Hilfe anbieten. Wir müssen nur nach Agadez, ihnen das Geld bezahlen und dann bringen sie uns durch die Wüste und über das Meer.«

»Du meinst Schlepper?«

»Es ist mir egal, wie du sie nennst. Sie sind unsere letzte Hoffnung.«

Mbaye klang so verzweifelt, dass Karla fast die Tränen kamen. »Wie kann ich dich erreichen?«, fragte sie.

Er gab ihr seine Handynummer. »Wann rufst du zurück?«, wollte er wissen.

»In spätestens drei Tagen.«

»Danke, Gaata.«

4

Die randlose Brille des Staatssekretärs im deutschen Innenministerium schien vor seinen Augen zu schweben, so filigran waren die Bügel gearbeitet. Klas Grinter schob seine Sehhilfe hoch, als es klopfte und sein persönlicher Referent das Büro betrat.

»Ich habe die neuesten Zahlen vom Zaun«, meinte dieser und schloss die Bürotür hinter sich.

Grinter zeigte auf den Konferenztisch in einer Ecke des Zimmers. »Einen Moment.«

Doktor Kevin Baader, Prädikatsjurist und voller Hoffnung, für seine Dienste nach der nächsten Bundestagswahl mit einem gut dotierten Posten in der EU-Kommission belohnt zu werden, setzte sich und schenkte zwei Tassen Kaffee ein. Dann wartete er darauf, dass sein Chef das Aktenstudium beendete.

Der Staatssekretär trug den Spitznamen ›Aktenfresser‹. Kein Dokument oder Memo landete auf dem Schreibtisch des Ministers, das Grinter nicht freigegeben hatte. Sein Vorgesetzter erfuhr, was Grinter wollte. Und das war nicht immer alles.

Der Innenminister zitierte gerne breit grinsend den Spruch: ›Viel Wissen macht traurig.‹ Und das sah Grinter, was seinen Dienstherrn anging, ebenso. Für ihn selbst galt diese Maxime jedoch nicht. Er wollte über alles, was in seinem Ministerium von Bedeutung war, informiert werden. Am besten noch, bevor es sich ereignete.

Baader schaute nach draußen. Es schneite heftig aus den tiefen Wolken, die den Himmel über dem Regierungsviertel verhängten. Obwohl nur einen Steinwurf entfernt, war das Bundeskanzleramt am anderen Ufer der Spree lediglich schemenhaft zu erkennen. Der Referent wusste, dass Grinter sich insgeheim berufen fühlte, einmal dort das Sagen zu haben. Aber noch war es nicht so weit. Am jetzigen Amtsinhaber kam niemand vorbei.

Der Staatssekretär schraubte seinen goldenen Füller zu, stand auf, kam zum Tisch und setzte sich mit dem Rücken zum Fenster.

Auch so eine Eigenart der Mächtigen, dachte Baader. Wessen Gesicht im Schatten liegt, der hat es leichter, Gefühlsregungen zu verbergen.

»Danke«, meinte Grinter knapp und zeigte auf den Kaffee. »Was haben Sie?«

Baader öffnete die Handakte und nahm das Memo heraus. »In der letzten Woche gab es europaweit nur fünf Durchbruchsversuche. Je einer in Katalonien und Tirol, drei in der Ukraine.«

»Keiner in Ungarn?«, wunderte sich der Staatssekretär.

»Nein. Seit die dortige Regierung erklärt hat, notfalls mit der Schusswaffe gegen Grenzverletzer vorzugehen, weichen die Flüchtlinge von der Balkanroute nach Norden Richtung Ukraine aus. Wie ich aus dem Außenministerium erfahren habe, bereiten die Regierungen Polens und der Slowakei ähnliche Erklärungen vor.«

»Ärgerlich, das ist Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten.«

Diese Parteien waren europaweit auf dem Vormarsch. In Frankreich drohte der Front National schon zum zweiten Mal die Präsidentenwahl zu gewinnen, in den Niederlanden verfügte die Rechtspartei mit ihrem konservativen, kleineren Koalitionspartner über eine satte Mehrheit im Parlament. Ähnlich sah es in Österreich und Belgien aus. Nur in Deutschland war es der rechten Gruppierung trotz erheblicher Wahlerfolge nicht gelungen, Regierungspartei zu werden.

Grinter und seine Parteifreunde führten das darauf zurück, dass sie es gewesen waren, die den Bau des Zaunes angeregt und im Europäischen Parlament und der Kommission durchgedrückt hatten. Baader hielt das für Blödsinn. Das Kopieren der politischen Positionen der Rechtspopulisten hatte diese nicht in die Bedeutungslosigkeit zurückgeworfen, im Gegenteil. Je mehr die große Koalition nach rechts rückte, desto salonfähiger wurden die Parolen der Extremisten, umso mehr Stimmen bekamen sie bei den Wahlen.

»Gab es Verletzte?«

»Nein. Jedenfalls nichts von Bedeutung.«

»Wie viele sitzen auf Sizilien und in Spanien?«

Baader holte tief Luft.

»Und in den anderen beiden Transitzentren?«

Der Referent schluckte. »Wenn Sie die genauen Zahlen wünschen, müsste ich …« Er machte Anstalten, sich zu erheben.

»Nein, schon gut. Überschlägige Angaben reichen mir.« Der Ton des Staatssekretärs blieb jovial, aber sein Gesichtsausdruck sagte etwas anderes.

Viele solcher Fehler durften Baader nicht mehr passieren, das wusste der Dreißigjährige, sonst war es das mit Brüssel. »In den zehn Zentren in Griechenland sitzen jeweils rund zehntausend Grenzverletzer, je zwanzigtausend befinden sich in den drei auf Sizilien. In Südspanien und Rumänien insgesamt knapp hunderttausend.«

»Und diese Zentren kosten uns was?«

»Meinen Sie nur den deutschen Anteil?«

»Natürlich.«

Diese Zahlen hatte der Referent immerhin parat. »Circa sechshundert Millionen im Jahr, etwa ein Drittel der Gesamtkosten.«

»Sind darin die Zuwendungen für die dortigen Regierungen bereits eingerechnet?«

»Ja. In die Haushalte der vier Staaten fließen jährlich rund vierhundertfünfzig Millionen. Diese Beträge sollten eigentlich ausschließlich für den Unterhalt der Lager und die Verpflegung der Inhaftierten verwendet werden. Aber wie man so hört, ist das nicht der Fall.«

Grinter winkte ab. »Lassen Sie mich mit diesen Kinkerlitzchen zufrieden. Ist das alles?«

»Das sind die offiziellen Zahlen.«

Einen kurzen Moment überlegte der Staatssekretär, was sein Referent da andeutete. Dann wusste er es wieder. »Sie meinen die Werbespots, die wir in den lokalen Medien der Länder schalten?«

Diese Spots waren von den führenden europäischen Werbeagenturen entwickelt worden und sollten die Bevölkerung der betroffenen Länder davon überzeugen, welche Vorteile sich aus der Existenz der Transitzentren für sie ergaben: Arbeitsplätze, Steuererleichterungen, lukrative Handelsabkommen.

»Richtig. Sie schlagen mit weiteren fünfzig Millionen jährlich zu Buche.«

»Das ist viel Geld.«

»Aber weniger, als wir ausgeben müssten, wenn wir die Flüchtlinge nach Zentraleuropa ließen.«

»Wie steht es mit den Grenzsicherungskosten? Ich meine unseren Anteil, den wir an die GoFeCo im Rahmen der europäischen Vereinbarungen zahlen müssen. Ist der Betrag gestiegen?«

»Ja, um fünf Millionen. Wir wenden rund einhundert Millionen jährlich dafür auf.«

Grinter machte ein ernstes Gesicht. »Sind darin die Kosten für die virtuellen Meergrenzen enthalten?«

»Nein. Da kommen weitere fünfzig Millionen dazu.«

»Wenn das so weitergeht, benötigen wir bald wieder einen Grenzsoli. Das kostet Wählerstimmen.«