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Silke Ziegler

Stille Sünden

Ein Fall für Sina Engel

Kriminalroman

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© 2018 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: info@grafit.de
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Shaiith
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
eISBN 978-3-89425-747-7

Über dieses Buch

Dieser Fall geht der alleinerziehenden Hauptkommissarin Sina Engel unter die Haut. Der elfjährige Fabian ist von zu Hause weggelaufen. Die eisigen Temperaturen erhöhen den Druck, ihn zu finden: Lange kann ein Kind auf der Straße nicht überleben. Dann wird ein Flüchtling vor seiner Unterkunft erschossen, der Mörder entkommt unerkannt. Auch hier drängt die Zeit.

Unterstützung erhält Sina von Matthias Sommer, mit dem sie ein kurzer Flirt verbindet. Zwischen den beiden knistert es noch immer. Können sie das Gefühlschaos hinter sich lassen und die Fälle aufklären?

Die Autorin

Silke Ziegler, Jahrgang 1975, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Weinheim an der Bergstraße. Die gelernte Finanzassistentin arbeitet nach Anstellungen in diversen Kreditinstituten inzwischen an der Universität Heidelberg.

Die Reisen, die Silke Ziegler mit ihrer Familie unternimmt, inspirieren sie immer wieder zu neuen Geschichten.

www.autorin-silke-ziegler.de

Widmung

Für Papa

Prolog

Weinheim

Er konnte seinen Hass kaum bändigen. Seit Stunden kreisten seine Gedanken um das Liebste in seinem Leben, das Wichtigste und Beste, was ihm je widerfahren war. Er hatte keine Ahnung, wie er mit dem vorhin Gehörten umgehen sollte. Dieser eine Moment hatte seine Welt einstürzen lassen und er fand einfach keinen Ausweg aus seinem Dilemma. Alles, was ihn ausmachte, wurde von Bösem überschattet. Und auch, wenn er sich immer wieder eingeredet hatte, er schaffe es, sich nicht von den Dämonen beherrschen zu lassen, war ihm tief in seiner Seele bewusst, dass er einer großen Selbstlüge aufgesessen war. Was sollte er bloß tun? Ihm war klar, dass er mit niemandem über seine finsteren Gedanken reden konnte.

Verzweiflung stieg in ihm hoch. Hilflosigkeit, gepaart mit diesem unbändigen Hass, schnürte ihm fast die Kehle zu. Er musste etwas tun. Er konnte nicht abwarten. Es war seine verfluchte Aufgabe, das Wertvollste in seinem Leben zu beschützen. Nichts hatte sich geändert. Wie war das nur möglich? Ja, wie war das möglich? Ausgerechnet er stellte diese Frage? Er, der schwieg. Er, der noch nie jemanden hinter seine Fassade hatte schauen lassen.

Wieder fiel sein Blick auf den Zeitungsbericht. War das hier vielleicht der viel zitierte Wink des Schicksals? Wäre er heute nicht hergekommen, hätte er den Artikel wohl niemals entdeckt. Und hätte er heute Nachmittag nicht das Gespräch geführt, wüsste er nicht, welches grauenvolle Unheil sich über seinem Leben zusammenbraute.

Er spürte, dass etwas passieren würde. Dass etwas passieren musste. Möglicherweise war jetzt der Zeitpunkt gekommen, der alles ändern würde. Der ihm endlich den langersehnten Frieden bringen konnte. Er würde schützen, was ihm wichtig war. Mit aller Macht!

Noch einmal widmete er sich dem Artikel, während langsam ein Plan in ihm Gestalt annahm. Erst nur bruchstückhaft, doch mit jedem Satz, den er las, wurde die Idee konkreter. Konnte es wirklich so einfach sein? Übersah er nicht doch einen entscheidenden Aspekt?

Er rief sich sämtliches Wissen, das er für die Umsetzung benötigte, in Erinnerung. Je länger er darüber nachdachte, desto deutlicher erschien sein Vorhaben vor seinem inneren Auge.

Ja, es konnte funktionieren. Es erforderte eine gehörige Portion Mut, aber er war sich sicher, dass er im entscheidenden Moment in der Lage sein würde, das Richtige zu tun. Vielleicht, nein, wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben!

Er hatte so verflucht lange warten müssen. Doch das Schicksal gab ihm endlich die Chance, die Welt wieder zurechtzurücken, das Böse zu vernichten.

1

Montag, 16. Januar

Weinheim

Fabian verstand die Welt nicht mehr. Seine Wangen glühten. Apathisch starrte er auf die grünbraunen, mit unzähligen Rissen durchzogenen Keramikfliesen auf dem Boden. Er wagte kaum, seinen Kopf zu heben, geschweige denn aufzustehen. Die Holzlatten der Bank gruben sich in das Fleisch seines nackten Hinterns. Er schämte sich zutiefst.

»Alles in Ordnung?«

Eine schwere Hand legte sich auf seine linke Schulter. Nein, nichts war in Ordnung. Als Fabian schluckte, fühlte sich seine Kehle rau wie Schmirgelpapier an.

»Fabian?«

Langsam hob er den Kopf.

»Du weißt, was ich dir gesagt habe?«

Fabian konnte den Anblick des freundlich lächelnden Gesichts kaum ertragen. Alles in seinem Inneren krampfte sich zusammen. Sein Unterleib rebellierte gegen die stechenden Schmerzen, die seinen Körper erschütterten. Die gesamte Situation fühlte sich falsch an. Ganz und gar falsch.

»Du bist jetzt einer der Großen«, fuhr die Stimme fort, während Fabian seinen Blick wieder senkte. »Aber du willst sicher nicht, dass die anderen neidisch werden. Du bist etwas ganz Besonderes, das habe ich dir schon mehrfach gesagt. Aber es wäre nicht gut, wenn sie wüssten, dass wir beide, also du und ich, dass wir uns so … gut verstehen. Kapierst du das?«

Fabian spürte, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten. Ja, er verstand. Und natürlich freute er sich über das Lob und die Aufmerksamkeit. Über die einmalige Chance, die sich ihm hier bot. Hatte er nicht genau davon geträumt? Warum nur fühlte er sich dann so miserabel? Warum schämte er sich für das, was gerade geschehen war? Der Mann, dem er bedingungslos vertraute, dessen Worte er ungefiltert in sich aufsaugte, hatte ihm doch erklärt, dass es völlig legitim sei, was sie getan hatten. Es gehöre zum normalen Prozess des Erwachsenwerdens dazu. Fabian sei jetzt an genau dieser Schwelle. Kein Kind mehr, aber eben auch noch nicht richtig erwachsen.

Das stimmte. Schon lange schloss er die Tür hinter sich, wenn er zu Hause ins Bad ging oder sich umzog, da er nicht wollte, dass seine Mutter ihn sah. Sie respektierte sein Verhalten, hatte noch nie ein Wort darüber verloren. Umso schockierter war er gewesen, als ihm eben gesagt wurde, was er tun solle. Natürlich spürte Fabian, dass etwas mit ihm passierte, dass sein Körper sich veränderte. Dass er sich veränderte. Doch warum gehörten solche furchtbaren Schmerzen dazu? Er verstand die Welt nicht mehr.

»Fabian, ich habe dich gefragt, ob du das kapierst?«

Hörte er Ungeduld aus der sonst so ruhigen und besonnenen Stimme heraus? Er nickte schwach.

»Du bist jetzt ein Mann. Weißt du, Mütter reagieren manchmal seltsam, wenn ihre Söhne erwachsen werden. Selbstständig. Und eigene Entscheidungen treffen wollen.«

Der Schmerz in Fabians Unterleib verstärkte sich.

»Daher sollte dieses Treffen unter uns bleiben«, fuhr die Stimme unerbittlich fort. »Du hast ihr doch nichts von dem Termin gesagt, oder? Es sollte eine Überraschung sein, wie ich dir versprochen hatte.«

Fabian schüttelte den Kopf. Nein, wie vereinbart, hatte er seiner Mutter nichts gesagt. Da sie um diese Uhrzeit noch arbeitete, hatte er sich nicht einmal eine Ausrede einfallen lassen müssen.

Eine Überraschung. Verlegen presste er seine Beine zusammen. Mit einer Überraschung hatte er bisher etwas Freudiges verbunden, etwas, das ihn von den Socken haute. Zum Beispiel als seine Mutter ihn vor einigen Wochen mit der Nachricht überraschte, dass sie im Sommer gemeinsam verreisen würden. Es wäre das erste Mal überhaupt, dass er allein mit ihr wegfuhr, seit sein Vater ausgezogen war. Er wusste, dass das Geld knapp war und seine Mutter hart arbeitete, um ihnen ein paar Tage Urlaub ermöglichen zu können. Ja, das war eine richtige, eine tolle Überraschung gewesen.

»Zieh dich jetzt an und geh nach Hause.«

Noch immer traute sich Fabian kaum, irgendwo anders hinzuschauen als auf den Boden direkt vor ihm. Mit abgewandtem Kopf erhob er sich langsam und angelte sich unbeholfen seine Shorts und seine Jeans.

»Geht es dir gut, Fabian?«

Nein, es ging ihm nicht gut. Er wollte heim, weg von diesem Ort, weg von diesem Menschen, der Dinge mit ihm getan hatte, für die er keine Bezeichnung wusste. Doch er nickte erneut.

»Ich würde mich freuen, wenn wir uns demnächst wieder einmal allein treffen könnten.«

Warum klang die Stimme so verdammt heiter und zuversichtlich, während Fabian sich wie Dreck fühlte, beschmutzt und elend?

»Es ist unser kleines Geheimnis. Wie gesagt, die anderen könnten neidisch auf dich sein. Und das möchte ich unbedingt verhindern. Denn ohne dich …« Die Stimme hielt inne. »Das möchte ich mir, ehrlich gesagt, gar nicht vorstellen.«

Fabian gelang es kaum, mit seinen zittrigen Fingern den Knopf der Hose zu schließen. Hektisch riss er seine Jacke vom Haken, zog sie an und blickte zur Tür.

»Ach so, komm, ich schließe dir auf. Bis dann, Fabian. Wir sehen uns. Es war wirklich schön mit dir.«

Ohne ein Wort des Abschieds stürmte er hinaus und stolperte über den Flur. Mit tränenblinden Augen rannte Fabian zu seinem Fahrrad, entsicherte das Schloss und zerrte das Rad umständlich aus dem Ständer. Er wollte nichts mehr hören.

Während er nach Hause fuhr, steigerten sich seine Schmerzen ins Unerträgliche. Seine Wangen waren kalt von dem eisigen Wind, der seine Tränen nicht zu trocknen vermochte. Er hatte Angst. Angst davor, dasselbe noch einmal erleben zu müssen. Angst, da plötzlich alles, was er bisher zu wissen geglaubt hatte, hinfällig war. Niemand hatte ihn darauf vorbereitet, dass Erwachsenwerden einem Durch-die-Hölle-Gehen glich. Dass Dinge von ihm erwartet wurden, die so unglaublich demütigend und furchterregend waren, dass allein ihr Benennen grauenvolle Gefühle in ihm wecken würde.

Als Fabian vor dem Hochhaus in der Konrad-Adenauer-Straße, in dem er mit seiner Mutter wohnte, abstieg, fühlte sich sein Hintern völlig taub an. Er schob sein Rad in den Keller und schloss es sorgfältig ab.

»Fabian«, ertönte sein Name.

Als er sich umsah, stand Frau Müller vor ihm. Sie lebte in der Wohnung nebenan.

»Hallo«, murmelte er leise und wollte sich eilig an ihr vorbeidrücken.

»Alles in Ordnung bei dir?« Eine Sorgenfalte erschien auf ihrer Stirn.

Er nickte stumm.

»Arbeitet deine Mutter noch?«

Wieder nickte er.

»Du weißt ja, wenn irgendetwas ist, kannst du jederzeit zu mir rüberkommen.«

Die Herzlichkeit in der Stimme der älteren Frau trieb Fabian erneut Tränen in die Augen. Hastig wandte er sich ab und steuerte auf den Fahrstuhl zu.

Nachdem er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, rief er in die Stille: »Mama?«

Wie erwartet, kam keine Antwort. Seine Mutter arbeitete heute bis sechs Uhr in der Kanzlei, bevor sie direkt im Anschluss zu dem Café fuhr, in dem sie den ganzen Abend bedienen würde. Er würde sie erst morgen früh wiedersehen.

Fabian ging ins Wohnzimmer und ließ sich bäuchlings auf die Couch fallen. Er musste noch die Mathe- und Englisch-Hausaufgaben für morgen erledigen. Doch er hatte keine Lust. Während er auf das Sofa starrte, kreisten seine Gedanken unentwegt um das eben Erlebte. Wie sollte er seiner Mutter je wieder unbefangen in die Augen sehen? Er schämte sich abgrundtief für das, was er getan hatte. Minutenlang blieb er reglos liegen. Tränen rannen über seine Wangen, während er darüber nachdachte, wie er sich verhalten sollte. Sicher würde ihm jeder sofort ansehen, was er getan hatte. Auch Frau Müller hatte ihn mit diesem merkwürdigen Blick bedacht, als ob sie Bescheid wüsste.

Sein Magen rebellierte. Bestimmt hatte seine Mutter ihm eine Portion Mittagessen in den Kühlschrank gestellt, doch er hatte keinen Hunger. Fabian richtete sich auf und griff nach der Fernbedienung. Da spürte er plötzlich, wie seine Shorts feucht wurde. Erschrocken hielt er einen Moment inne, weil er das Gefühl nicht einzuordnen wusste.

Fabian watschelte unsicher ins Badezimmer hinüber und zog seine Jeans aus. Ängstlich betrachtete er den kleinen roten Fleck im Schritt seiner Hose. Er hob den Toilettendeckel, schob die Shorts über seine Oberschenkel und setzte sich. Der Stoff war blutdurchtränkt. Fabian musste verletzt sein. Was sollte er tun?

Hilflos ließ er seinen Blick durchs Bad schweifen, bis ihm etwas einfiel. Er öffnete den Waschbeckenunterschrank und holte die Packung Damenbinden heraus, die seine Mutter regelmäßig unter größter Geheimhaltung an ihm vorbeizuschmuggeln versuchte.

Nachdem Fabian sich gewaschen hatte, holte er sich eine engere Unterhose und legte die Binde vorsichtig hinein. Obwohl es sich seltsam anfühlte, gab ihm das weiche Material ein wenig Sicherheit. Die verschmutzte Shorts stopfte er in eine kleine Tüte. Was sollte er bloß seiner Mutter sagen? Sicher würde sie Fabian sofort durchschauen. Vielleicht würde sie ihn sogar zu einem Arzt schleppen. Allein der Gedanke daran, jemandem erzählen zu müssen, was er getan hatte, verursachte Panik in ihm. Nein, er musste weg. Er konnte nicht hierbleiben. Niemand durfte je erfahren, was heute geschehen war. Niemand. Vor allem seine Mutter nicht. Sie würde es niemals verstehen. Sicher wäre sie maßlos von ihm enttäuscht.

Fabian setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und überlegte. Als sein Blick erneut auf die kleine Tüte mit der blutigen Shorts fiel, fasste er einen Entschluss.

2

Dienstag, 17. Januar

»Marc kommt später«, erklärte Polizeiobermeister Gerhard Runz, während er im Türrahmen erschien.

Sina blickte von ihrer Akte auf.

»Er muss zum Arzt, hat irgendetwas an der Hand.«

»An der Hand?«, wiederholte Sina und stand auf. »Was macht unser Übernachtungsgast?«

Gerhard zuckte mit den Achseln. »Ich wollte erst mit dir reden, bevor ich nach ihm schaue.«

Sie nickte.

Gestern Nachmittag waren zwei Weinheimer Streifenbeamte angefordert worden, als der Inhaber eines kleinen Bekleidungsgeschäfts in der Fußgängerzone einen jungen Mann beim Klauen erwischt hatte. Da bei dem Festgenommenen eine Halskette entdeckt wurde, die vor drei Wochen bei einem Einbruch in einem Haus in der Nordstadt entwendet worden war, hatten Sina und ihr Team vertretungsweise die weiteren Ermittlungen übernommen. Die Kette war noch gestern Abend eindeutig von der bestohlenen Besitzerin als die ihre identifiziert worden.

»Gut, dann wollen wir doch mal sehen, ob er nach seiner Nacht in unserer Fünfsternesuite gesprächiger ist als gestern.«

Gerhards Miene nahm einen skeptischen Ausdruck an. »Vielleicht spricht er überhaupt kein Deutsch.«

Sina lachte. »Die übliche Ausrede.« Sie nahm die Akte der Diebstahlanzeige an sich und verließ hinter ihrem Mitarbeiter das Büro. »Ganz ehrlich, Gerhard: Wir haben elf Einbrüche aufzuklären. Elf!« Sie nickte nachdrücklich. »Wenn dieser Mistkerl nicht redet, übergebe ich ihn ohne Wenn und Aber an Mannheim. Und soll ich dir was sagen? Es ist mir völlig gleichgültig, was dort mit ihm passiert. Ob er noch ein halber Jugendlicher ist, aus welchen Motiven er sich für diesen Scheiß hat anwerben lassen – ganz egal. Entweder er kooperiert mit uns oder er kann sich in der JVA mit den älteren Mitgefangenen rumschlagen.«

Elf Einbrüche in zwei Monaten. Es war leider nicht unüblich, dass in der dunklen Jahreszeit die Einbruchquote rasant stieg. Schlecht gesicherte Türen, trotz der Kälte gekippte Fenster und auf hundert Meter erkennbar verlassene dunkle Wohngebäude. Sie konnten nicht mehr tun, als an die Vernunft der Menschen zu appellieren und darauf aufmerksam zu machen, nicht allzu offensichtliche Hinweise zu hinterlassen, wenn sich abends und nachts niemand in den Häusern und Wohnungen aufhielt. Zwei der Einbrüche hatten sich sogar tagsüber ereignet. Und ohne Hilfe aus der Bevölkerung hatten sie kaum eine Chance, die Bande zu schnappen. Denn dass es sich um eine organisierte Gruppe handelte, schien fast sicher.

Sina nickte grimmig. »Dann wollen wir mal.« Sie legte die Akte im Verhörraum auf den Tisch und steuerte mit Gerhard die Zelle an. »Alles ruhig.«

»Vielleicht schläft er noch.«

Sina grinste. »Ich hatte den Kollegen unten eigentlich gesagt, sie sollen ihm um sieben Frühstück bringen.«

Sie schloss die Tür auf, während Gerhard dicht hinter ihr stand.

Der Mann saß auf der Pritsche und hatte seinen Kopf in den Händen vergraben. Als er die beiden Polizisten hörte, blickte er auf.

»Guten Morgen«, begann Sina. »Wir würden Ihnen gern einige Fragen stellen. Bitte kommen Sie mit.«

Der Verdächtige erhob sich langsam und steuerte auf die Beamten zu. Sina trat zur Seite. »Bitte.« Sie zeigte den Flur hinunter. Gerhard berührte den jungen Mann am Oberarm und begleitete ihn zum Verhörraum. Sina folgte ihnen und schloss die Tür von innen.

Der Festgenommene stand unschlüssig neben dem rechteckigen Tisch.

»Bitte nehmen Sie Platz.« Sina schob sich einen Stuhl zurecht und wartete, bis sich der Verdächtige endlich gesetzt hatte. »Verstehen Sie Deutsch?« Sie sah ihr Gegenüber auffordernd an.

Der junge Mann schwieg.

Sie seufzte und blickte kurz zu Gerhard. »Hören Sie«, Sina lehnte sich vor und stützte ihre Ellenbogen auf. »Sie haben zwei Optionen.« Sie streckte Zeigefinger und Daumen in die Luft. »Entweder Sie kooperieren, dann werde ich mich dafür einsetzen, dass wir uns für Ihre Hilfe erkenntlich zeigen. Oder …«, Sina machte eine bedeutungsvolle Pause, »… Sie verstehen uns nicht. In diesem Fall kann ich nichts für Sie tun. Wir lassen Sie nach Mannheim überstellen und …« Sie ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. »Sie sind noch sehr jung und haben Ihr ganzes Leben vor sich. Halten Sie nicht Ihren Kopf für irgendwelche Hintermänner hin. Keiner von denen wird Ihnen helfen. Das garantiere ich. Wie alt sind Sie? Sicher haben Sie Familie in … Rumänien? Bulgarien?« Mit Genugtuung registrierte Sina, wie der Mann unsicher seine Finger knetete. Unmerklich nickte sie Gerhard zu. »Also, wie ist Ihr Name?« Sie bemühte sich um ein ermunterndes Lächeln. »Wie heißen Sie?«

Der junge Verdächtige wandte seinen Kopf ab.

»Also?«, wiederholte Sina geduldig. »Wie heißen Sie?«

»Radu«, presste der Mann leise zwischen seinen Zähnen hervor.

»Radu?«, wiederholte Sina. »Ist das Ihr Vor- oder Ihr Nachname?«

Ängstlich blickte ihr Gegenüber zwischen Sina und Gerhard hin und her. »Radu Georgescu.«

Sie unterdrückte ihre Zufriedenheit. »Radu Georgescu. Darf ich Radu sagen?«

Er nickte.

»Woher kommen Sie, Radu?«, schaltete sich Gerhard ein.

Erschrocken blickte der junge Mann auf. »România«, flüsterte er.

»Rumänien.« Gerhard nickte. »Und wie alt sind Sie?«

Der Mann starrte schweigend auf die Tischplatte.

»Radu, wie alt sind Sie?«

»Neunzehn.«

»Sie sind noch sehr jung«, erinnerte ihn Sina ein weiteres Mal. »Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten und uns helfen, die Einbrüche aufzuklären, gibt es die Möglichkeit, das Strafmaß etwas abzusenken. Sie könnten noch nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden. Wenn das Gericht zu der Ansicht kommt, dass Sie der Drahtzieher der Einbrüche sind, wird das aber nicht passieren.«

Der junge Mann schüttelte erschrocken den Kopf. »Ich nix Chef.«

Sina blickte ihn einen Moment lang schweigend an, bevor sie sich räusperte. »Ja, das glaube ich Ihnen. Aber …« Wieder beugte sie sich vor und senkte ihre Stimme. »… wenn Sie uns nicht sagen, wer Sie zu den Einbrüchen angestiftet hat, dann …« Sie verzog bedauernd ihr Gesicht.

»Nein, nein«, wieder schüttelte er den Kopf. »Ich nix Chef.«

»Hören Sie, Radu«, sprang jetzt Gerhard ein. »Sicher haben Sie doch Familie in Rumänien? Eltern? Geschwister?«

Radu nickte. »Mutter dort. Und Schwester. Drei Stück.«

»Sie haben drei Schwestern, die mit Ihrer Mutter noch in Rumänien leben«, fasste Sina zusammen, während der Verdächtige heftig nickte.

»Kleine.«

»Jüngere Schwestern.«

»Mutter keine Geld. Keine Essen.«

Sina wechselte einen kurzen Blick mit Gerhard, bevor sie sich wieder dem jungen Mann zuwandte. »In Ordnung, Radu. Ihrer Familie geht es nicht gut. Ihre Mutter ist allein mit Ihren drei jüngeren Schwestern zu Hause in Rumänien. Ihr Vater …« Sie blickte ihr Gegenüber fragend an.

»Nu. Keine Vater.« Er hob abwehrend seine Hände.

»Wenn Sie kooperieren, Radu, werden wir versuchen, Ihrer Familie zu helfen.« Sina wechselte ihre Sitzhaltung. »Haben Sie das verstanden?«

Der Rumäne nickte.

»Wir versuchen, Ihrer Mutter und Ihren Schwestern zu helfen. Aber …«, Sina verengte ihre Augen, »… Sie müssen erst uns helfen. Wir benötigen Namen. Wir müssen wissen, wer an den Einbrüchen beteiligt war und wer Sie dazu angestiftet hat. Sie müssen uns alles sagen, was Sie wissen. Wirklich alles. Nur dann können wir etwas für Ihre Familie tun.«

Der Verdächtige schluckte und betrachtete sekundenlang seine Hände, ohne etwas zu erwidern.

»Radu?«, unterbrach Sina sein Grübeln.

»Gutt. Ich helfen. Sie helfen Familie.«

Sie nickte. »Wir sehen, was wir tun können.«

»Und Geschäft?«

»Wenn wir durch Ihre Mithilfe die Einbrüche aufklären können, werden wir den Ladeninhaber bitten, die Anzeige gegen Sie zurückzunehmen.« Sina öffnete die Akte. »Aber nur dann«, wiederholte sie streng.

Müde schloss Sina ihre Bürotür hinter sich. Das Gespräch mit dem jungen Einbrecher hatte über zwei Stunden gedauert. Obwohl die Verständigung einigermaßen funktionierte, war die Beantwortung ihrer Fragen sehr schleppend erfolgt. Natürlich, der Rumäne hatte Angst. Die mafiaähnlichen Strukturen der Einbrecherbanden aus Osteuropa waren ihr hinlänglich bekannt. Radu Georgescu war innerhalb dieses Geflechts nur eine winzige Nummer. Niemand würde sich darum scheren, wenn er plötzlich unter ungeklärten Umständen verschwände. Und der Rumäne wusste das auch. Sina musste Kriminalrat Gans über die neuesten Erkenntnisse informieren. Sicher würde er die entsprechenden Experten aus Heidelberg mit den weiteren Ermittlungen beauftragen. Das organisierte Verbrechen bewegte sich in einer Größenordnung, die die Kapazitäten von Sinas Team erheblich überstieg.

Sie starrte aus dem Fenster. Der Himmel war wolkenlos, die Temperaturen lagen nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt. Der Bahnhofsvorplatz war fast leer, für Pendler war es bereits zu spät am Tag.

Als ihr Telefon klingelte, kehrte Sina zu ihrem Schreibtisch zurück und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Natascha«, begrüßte sie ihre Schwester.

»Guten Morgen, Süße. Hat meine kleine Nichte dich schlafen lassen?«

Sina musste lächeln, als ihr Blick auf das Foto auf dem Schreibtisch fiel, das eine schlafende Clara zeigte. »Ja, immerhin zwei Stunden am Stück. Ich schätze, auf sechs Stunden habe ich es insgesamt schon gebracht.«

»Ach je«, seufzte Natascha. »Vielleicht solltest du langsam ans Abstillen denken.«

»Ja, lange halte ich das nicht mehr durch«, bestätigte Sina. »Mama meinte heute Morgen, sie wolle mir Clara in den nächsten Tagen mal eine Nacht abnehmen.«

»Eine gute Idee«, stimmte Natascha zu. »Du gehst ja mittlerweile auf dem Zahnfleisch. Was macht die Arbeit?«

Sina blickte auf die Akte des Rumänen. »Das Übliche.«

»Und sonst?«

Sina schwieg einen Moment. Natürlich wusste sie, worauf ihre Schwester anspielte. Und wenn sie ehrlich war, verging kein Tag, an dem sie nicht an Matthias Sommer dachte, Carlos ehemaligen Partner, der letzten August gemeinsam mit ihr im Fall eines brutalen Serienmörders ermittelt hatte.

Sie räusperte sich. »Was sonst?«

»Meine Güte, Sina«, erwiderte Natascha tadelnd. »Wart ihr nicht schon einen Schritt weiter?«

Ja, kurz nach Claras Geburt hatte es sich für Sina tatsächlich angefühlt, als ob da etwas wäre zwischen dem Heidelberger Kommissar und ihr. Er hatte sie mehrmals im Krankenhaus besucht und auch nach ihrer Entlassung waren sie telefonisch in Kontakt geblieben. Doch Sina war die erste Zeit zu Hause mit der neuen Situation völlig überfordert gewesen. Immer wieder hatten ihre Gefühle sie übermannt. Jedes Mal, wenn sie ihre Tochter angesehen hatte, musste Sina an ihren toten Lebensgefährten denken. Claras Vater. Es schien, als ob die Trauer selbst ein halbes Jahr nach Carlos Tod noch immer nicht ihren Höhepunkt erreicht gehabt hätte. Sina vermutete, dass der eigentliche Verarbeitungsprozess erst so richtig bei ihr in Gang gesetzt worden war, nachdem sein Mörder endlich gefunden war. Obwohl sie die Umstände, die zu Carlos Tod geführt hatten, bis heute nicht fassen konnte, spürte sie seit wenigen Wochen, dass der Schmerz ein kleines bisschen nachließ. Dass die Trauer teilweise von der überbordenden Liebe zu Clara abgelöst wurde.

Mittlerweile hatte sich Sina mit ihrer Situation arrangiert. Arrangieren müssen. Ihre Familie half, wo sie nur konnte. Sina hatte vier Wochen Elternzeit genommen und war kurz vor Weihnachten in den Polizeidienst zurückgekehrt. Da war Matthias, der übergangsweise in Weinheim ausgeholfen hatte, bereits nach Heidelberg zurückbeordert worden.

»Erde an Sina«, erklang Nataschas Stimme. »Bist du etwa eingeschlafen?«

Sina musste lachen.

»Was ist jetzt?«

»Was soll sein?« Sie fuhr mit ihrem Finger über die Schreibtischkante. »Er hat sich nicht gemeldet.«

»Dann ruf du ihn an.«

»Ach, Natascha«, seufzte sie resigniert.

»Ich verstehe dich nicht.«

»Was machen Jonas und Nele?«, wechselte Sina das Thema.

»Jonas war die letzten Tage ein wenig verschnupft, aber jetzt geht es ihm wieder besser. Dafür fängt Nele seit heute an.«

»Ist sie zu Hause?«

»Nein, ich habe beide in den Kindergarten gebracht. So schlimm ist es nicht.«

»Vielleicht magst du mir heute Abend ein wenig Gesellschaft leisten?«, fragte Sina hoffnungsfroh. Ihre Abende waren lang und einsam.

Natascha lachte auf. »Deshalb rufe ich an, Schwesterherz. Mama und ich kommen gegen sechs bei dir vorbei.«

»Davon hat sie heute Morgen gar nichts gesagt«, meinte Sina verwundert.

»Da wusste sie auch noch nichts von ihrem Job als Babysitterin«, entgegnete Natascha gut gelaunt.

»Was hast du vor?«

»Eine klitzekleine Überraschung.«

Sina fuhr sich durchs Haar. »Und Jochen?«

Wieder lachte Natascha. »Der passt auf Nele und Jonas auf. Aber es ist wirklich nur eine kleine Abwechslung. Ich dachte, wir gestressten Mütter hätten ein wenig Erholung bitter nötig. Du mit deiner Doppelbelastung und ich mit meinem Krankenlager.«

Sina verabschiedete sich und betrachtete erneut Claras Foto. Ihre Tochter war das Wichtigste in ihrem Leben, der Mittelpunkt, der alles für Sina bedeutete. Mit der Geburt des Kindes hatte sich ihr komplettes Leben geändert. Ihr Blickwinkel, ihre Prioritäten. Nicht im Traum hätte sie sich vorher ausmalen können, wie ein Kind, ein so winziges Etwas, den Alltag dermaßen durcheinanderwirbelte, dass Sina in der Anfangszeit nicht einmal wusste, wie sie ungestört duschen sollte. Glücklicherweise hatte das Stillen von Anfang an problemlos geklappt. Dagegen war sie mit den kurzen Schlafperioden des Säuglings in den ersten Wochen überhaupt nicht klargekommen. Kurzerhand hatte Sina sich dazu entschlossen, die achtwöchige Mutterschutzfrist um einen Monat Elternzeit zu verlängern. Und diese Phase hatte ihnen beiden gutgetan, Sina und Clara. Der Alltag hatte sich eingespielt, der Alltag mit Kind.

Es war eine sehr intensive Zeit gewesen, in der Mutter und Kind zueinandergefunden, sich beschnuppert und kennengelernt hatten. Die Telefonate mit Matthias waren für Sina als Ergänzung eine nette Abwechslung gewesen. Sie hatte es genossen, mit ihm zu reden, ihm von Clara zu erzählen.

Doch sie hatte immer mehr den Eindruck gewonnen, dass sie sich in zwei völlig verschiedenen Welten bewegten. Sie, eingebunden zwischen Stillen, Windeln wechseln und Kinderarztterminen, und er, der entweder auf Verbrecherjagd war oder seine knapp bemessene Freizeit in Ruhe genoss. Irgendwann hatten sie den Faden zueinander verloren. Zumindest war es Sina so vorgekommen. Die Telefonate wurden weniger, bis der Kontakt schließlich ganz abriss. Vielleicht war es der falsche Zeitpunkt gewesen. Vielleicht hatte Sina sich auch einfach geirrt, als sie dachte, sie fühle sich zu dem gut aussehenden Polizisten hingezogen. Vielleicht waren es die mehr als dramatischen Umstände gewesen, durch die sie sich etwas vorgemacht hatten, was eigentlich gar nicht existierte. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie nach wie vor immer wieder an ihn denken musste.

3

Nachdem Sina Kriminalrat Gans telefonisch über die Befragung Radu Georgescus unterrichtet hatte, klopfte es an ihrer Tür.

»Ja?«

Polizeiobermeister Marc Fornack trat ein.

»Was macht die Hand?« Sie zeigte auf den Verband an seinem rechten Unterarm.

Er winkte ab. »Eine Sehnenscheidenentzündung, nichts Schlimmes.«

»Hat Gerhard dir von unserem Fang erzählt?« Sina grinste.

Marc nickte. »Gute Arbeit, Frau Hauptkommissarin.«

Sie zog ihre Brauen hoch. »Ein Erfolgserlebnis ab und zu kann nicht schaden.«

Er zog eine Grimasse.

»Was ist?«

»Wir haben ein verschwundenes Kind«, erklärte er vorsichtig.

»›Ein verschwundenes Kind‹? Was wissen wir?« Sina stand auf und trat vor ihren Schreibtisch.

»Der Junge heißt Fabian Martin. Elf Jahre alt, Fünftklässler.«

»Seit wann wird er vermisst?«

»Das weiß die Mutter nicht genau«, erwiderte Marc unsicher.

Sina sah ihn fragend an. »Lass uns zu ihr fahren. Du kannst mir auf dem Weg erzählen, was passiert ist.« Sie nahm ihre Jacke vom Haken und bedeutete ihm, ihr zu folgen. »Wo wohnt sie?«

»Konrad-Adenauer-Straße.«

»Weststadt«, entgegnete Sina und winkte Gerhard zu, der gerade telefonierte. »Weiß er Bescheid?« Sie zeigte auf ihren älteren Mitarbeiter.

»Er ruft gerade in den umliegenden Krankenhäusern an, um nachzufragen, ob irgendwo ein unbekanntes Kind in dem Alter eingeliefert wurde.«

Sina nickte anerkennend. »Sehr gut.«

Im Auto erzählte Marc vom Anruf Clarissa Martins. »Die Mutter arbeitet als Rechtsanwaltsgehilfin. So ganz habe ich sie nicht verstanden. Sie war am Telefon ziemlich aufgelöst.«

Kein Wunder, dachte Sina, schwieg jedoch.

»Anscheinend hat sie ihren Sohn gestern den ganzen Tag nicht gesehen. Dass er nicht in seinem Bett lag, hat sie erst heute Morgen festgestellt, als sie ihn wecken wollte.«

»Was ist mit dem Vater?« Sina konzentrierte sich auf den Verkehr und wartete darauf, in die Kurt-Schumacher-Straße abbiegen zu können, registrierte aber Marcs Achselzucken.

»Keine Ahnung.«

»Gut, wir werden sie gleich fragen«, erklärte Sina entschlossen und folgte der Straße, bis sie die genannte Adresse erblickten.

»Dort drüben.« Marc zeigte auf einen der weißen Plattenbauten, die in diesem Gebiet Ende der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts errichtet worden waren.

Sina parkte den Wagen.

Auf dem kleinen Spielplatz vor dem Haus standen drei Frauen und unterhielten sich. Vier Kleinkinder in Matschhosen kicherten lautstark, während sie mit Sand um sich warfen.

Als Sina und Marc den Fußweg zum Eingang entlangliefen, verstummten die Mütter und musterten die beiden Polizisten unverhohlen.

Sina, die sich der Waffe, die unter dem Saum ihrer Winterjacke hervorblitzte, bewusst war, ignorierte die Blicke der Frauen und überflog die Namensschilder an den Klingeln. »Wievielter Stock?«

»Siebter«, erwiderte Marc.

»Ja?«, ertönte eine halbe Minute später eine verzerrte Stimme aus der Gegensprechanlage.

»Hauptkommissarin Engel hier, lassen Sie uns bitte rein?«

Im nächsten Moment wurde der Türöffner betätigt. Sina blickte zu Marc und nickte.

Als sie aus dem Fahrstuhl auf den Flur traten, stand die rechte Wohnungstür offen. »Frau Martin?«, fragte Sina, als sie eine schwarzhaarige Frau erblickte, die sie auf Anfang bis Mitte dreißig schätzte.

Die Angesprochene nickte. »Kommissarin Engel?«

Sina zeigte ihren Ausweis und stellte Marc ebenfalls vor.

Fabians Mutter trat zur Seite und ließ sie eintreten.

Der Flur wurde von zwei deckenhohen Schränken dominiert. Die Einrichtung wirkte älter, aber gepflegt. Frau Martin führte sie in das Wohnzimmer. »Nehmen Sie doch Platz.«

Sina nickte. »Bitte erzählen Sie uns genau, was passiert ist.«

Sie setzte sich auf ein himmelblaues Sofa, während Marc sich einen der Esszimmerstühle heranzog. Clarissa Martin setzte sich nach kurzem Zögern neben Sina.

Die Kommissarin betrachtete die Frau von der Seite. Äußerlich wirkte Fabians Mutter völlig ruhig, während sie schweigend auf den fleckigen Teppich vor ihren Füßen starrte.

»Frau Martin?«, versuchte Marc, zu der Frau durchzudringen.

Sie blickte auf. »Wo ist er?«

Sina legte ihr behutsam die Hand auf den Unterarm. »Das möchten wir herausfinden. Wir sind hier, um Fabian zu suchen. Aber dazu müssen wir wissen, was geschehen ist und wann Sie ihn zum letzten Mal gesehen haben.«

»Gestern Morgen«, antwortete Clarissa Martin leise. »Wir haben zusammen gefrühstückt. Um halb acht ist Fabian mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. Wie jeden Tag.«

»Gab es Streit? War er anders als sonst? Bedrückt? Haben Sie irgendetwas an ihm bemerkt, was Ihnen im Nachhinein komisch vorkommt?«, hakte Marc sofort ein.

Clarissa Martin schüttelte ihren Kopf. »Nein, alles war wie immer. Fabian war zwar von der Schule genervt, aber das ist er öfter.« Sie zog ihre Brauen hoch.

»Es gab keinen Vorfall in der Schule?« Marc fixierte die Frau mit seinem Blick.

»Nein.«

»Und Sie sind ebenfalls zur Arbeit gegangen?«, schaltete sich Sina ein, während sie ihren Notizblock hervorholte.

Frau Martin nickte. »Ja, nachdem Fabian weg war, habe ich noch einen Kaffee getrunken, kurz das Bad geputzt und bin gegen halb neun zur Arbeit gefahren.«

»Mit dem Auto?«, fragte Marc.

»Ja, ich arbeite in Hemsbach.«

»Was ist mit Fabians Vater?«

Die Frau blickte zu Sina. »Reiner und ich waren nicht verheiratet … Wir haben uns vor fünf Jahren getrennt.«

»Hat Fabian Kontakt zu seinem Papa?«, wollte Sina wissen. »Könnte er vielleicht bei ihm sein?«

Clarissa Martin zuckte mit den Achseln. »Ich habe mehrmals versucht, Reiner anzurufen. Aber er scheint schon bei der Arbeit zu sein. Zumindest geht er nicht an sein Handy.«

»Wo arbeitet er?«

»In Mannheim. Bei Mercedes-Benz.«

»Ist es in der Vergangenheit schon öfter vorgekommen, dass Fabian seinen Vater besucht hat, ohne Ihnen Bescheid zu sagen?«

Frau Martin schluchzte auf, während sie ihren Kopf schüttelte. »Nein, noch nie«, presste sie leise hervor.

»Was hat Fabian gestern gemacht?« Sina strich der Frau über den Rücken.

»Normalerweise hat er montags Mittagsschule«, erklärte Clarissa Martin, nachdem sie sich die Nase geputzt hatte. »Dann kommt er gegen halb fünf nach Hause.«

»Was meinen Sie mit ›normalerweise‹?«, fragte Sina alarmiert nach und betrachtete die Fotos, die an der gegenüberliegenden Wand hingen. Fabian mit seiner Mutter im Schlosspark. Fabian mit drei anderen Jungen auf einer Rutsche. Ein jüngerer Fabian mit einem blonden Mann vor einem Tiergehege. Das war wahrscheinlich sein Vater.

»Gestern fiel der Nachmittagsunterricht aus.«

»Das wusste Fabian schon vorher?«, wollte Marc wissen, während er mit Sina einen Blick wechselte.

Frau Martin nickte. »Der Lehrer befindet sich auf einer Fortbildung.«

»Wissen Sie, ob Ihr Sohn gestern etwas vorhatte?« Sina verkniff sich die Frage, was ein elfjähriger Junge bis spät in den Abend hinein allein zu Hause machen sollte. Ohne ihre Eltern wäre sie auch aufgeschmissen. Ein Vollzeitjob mit Kind wäre niemals machbar. Die Frau tat ihr leid.

»Er wollte lernen.«

»Haben Sie ihn nicht angerufen oder nach ihm gesehen, als Sie heimkamen?«, wollte Marc wissen.

Sie lachte bitter auf. »Ja, klar. Sie denken also, ich habe nicht gut genug auf ihn aufgepasst?«

»Frau Martin«, versuchte Sina, die Situation zu entspannen. »Darum geht es nicht. Wir möchten lediglich wissen, wann Sie das letzte Mal mit Ihrem Sohn gesprochen haben.«

»Ich bin eine gute Mutter!«, brauste Clarissa Martin auf. »Ich möchte nicht zum Amt gehen müssen. Mein Sohn soll stolz auf seine Mama sein können. Gut, wir haben nicht viel. Aber alles, was Sie hier sehen, habe ich mit Geld bezahlt, das ich selbst verdient habe. Ganz ohne Almosen aus Steuergeldern, Aufstocken oder Hartz IV. Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie schwer es eine Alleinerziehende in der heutigen Gesellschaft hat?«

Sina schwieg betreten. Ja, ansatzweise waren ihr die Vorurteile schon begegnet, wenn sie irgendwo als Mutter ohne Partner wahrgenommen wurde. Und sie war sich sicher: Je älter Clara wurde, desto stärker würden die Unterschiede zu Tage treten – der stressige, oft ungeordnete Alltag einer Alleinerziehenden im Gegensatz zum behüteten und wohlorganisierten Tagesrhythmus einer traditionellen Familie.

»Ich war bis achtzehn Uhr in der Kanzlei.« Clarissa Martin schien sich darauf zu besinnen, dass es um die Suche nach ihrem Sohn ging und nicht um ihre Qualitäten als Mutter. »Wie jeden Tag. Im Anschluss bin ich nach Weinheim gefahren und habe dort bis dreiundzwanzig Uhr gekellnert.«

»Haben Sie im Laufe des Tages mit Ihrem Sohn telefoniert oder irgendwie anders Kontakt zu ihm aufgenommen?« Sina musterte das blasse Gesicht der Frau.

»Gegen vier habe ich ihn angerufen«, erwiderte Fabians Mutter zögernd.

»War er zu dem Zeitpunkt noch zu Hause?« Marc beugte sich vor.

Sie nickte. »Ja, ich habe ihn auf dem Festnetz angerufen.«

»Ist Ihnen während des Gesprächs etwas aufgefallen?« Sina hasste es, die Frau derart mit Fragen zu überhäufen. Aber sie brauchten Fakten. Anhaltspunkte, die ihnen verrieten, was mit Fabian passiert sein könnte.

Clarissa Martin überlegte. »Er war kurz angebunden. Aber das ist nicht ungewöhnlich. Er ist elf. Manchmal ist es nicht einfach mit ihm. Eigentlich schien alles wie immer.«

»Würden Sie uns bitte Fabians Zimmer zeigen?« Sina erhob sich.

»Sein Fahrrad ist weg«, erklärte seine Mutter, während sie den Flur durchquerten.

Sina blieb stehen. »Das heißt, er ist mit dem Rad unterwegs?«

Die Frau nickte. »Es steht nicht im Keller. Sein Ranzen ist aber hier.« Sie öffnete eine Tür und ließ Sina den Vortritt. Marc folgte ihr.

Der Raum war nicht groß. Ein gewöhnliches Jugendzimmer: ein Bett mit grün kariertem Bezug, an den Wänden Poster von Sportlern, die Sina nicht kannte, Regale voller Brettspiele, Legokästen und Bücher. Neben dem aufgeräumten Schreibtisch stand ein bunt gemusterter Schulrucksack.

Sina entdeckte ein Handy auf der Schreibtischunterlage. »Gehört das Fabian?«

Seine Mutter nickte.

»Fehlt irgendetwas? Hat er Kleidung mitgenommen?« Sina drehte sich um die eigene Achse und betrachtete die Poster näher.

»Ich weiß es nicht genau«, gab Clarissa Martin leise zu. »Mir ist nicht aufgefallen, dass etwas fehlt. Aber ich kenne die genaue Anzahl seiner Shorts und Socken nicht.«

Sina nickte. »Wer ist das?« Sie zeigte auf die Bilder.

Frau Martin winkte ab. »Fragen Sie mich nicht. Fabian spielt seit einem Jahr Rugby, aber seine Idole kenne ich nicht.« Sie lächelte schwach.

Sina sah zu Marc. »Rugby? Hier in Weinheim?«

Seine Mutter nickte. »Ja, beim RVW.«

Marc runzelte die Stirn.

»Dem Rugbyverein Weinheim«, erläuterte Frau Martin. »Als ich gestern Abend heimkam, habe ich kurz in Fabians Zimmer geschaut.«

»Und?« Sina blickte sie überrascht an.

»Er hatte die Decke so arrangiert, dass es aussah, als ob er im Bett lag.«

»Er wollte Sie glauben lassen, dass er schläft?«

Clarissa Martin erwiderte Sinas Blick. »Ja, als ich heute Morgen ins Zimmer kam, fand ich mehrere Stofftiere unter der Decke und das Kissen war so zerknüllt, dass es wirkte, als liege da jemand.«

»Er ist abgehauen«, resümierte Marc, während er die Bücher im Regal inspizierte.

Frau Martin nickte. »Und ich habe keine Ahnung, warum.«

»Wir geben sofort eine Suchmeldung raus«, entschied Sina, nachdem sie Fabians Zimmer verlassen hatten. »Dafür benötigen wir ein aktuelles Foto Ihres Sohnes. Außerdem brauchen wir Name und Anschrift seines Vaters sowie die genaue Adresse seines Arbeitsplatzes. Gibt es Großeltern oder andere Familienangehörige, zu denen er gegangen sein könnte? Haben Sie eine Klassenliste?«

Clarissa Martin nickte.

»Wir brauchen eine Kopie davon. Wer sind seine Freunde? Schreiben Sie uns bitte die Trainingszeiten Ihres Sohnes auf. Hätte er gestern Training gehabt?«

Fabians Mutter schluckte. »Nein, das findet immer mittwochs und freitags statt.«

Sina nickte, während sie sich Notizen machte. Nachdem Clarissa Martin ihnen alle Fragen beantwortet und die Betreuung durch einen Psychologen abgelehnt hatte, verabschiedeten sich Sina und Marc.

»Sie sind Reiner Thomeier?« Sina sah den hageren Mann, der gerade den Pausenraum betreten hatte, fragend an. Er trug einen grauen Arbeitsoverall, seine Hände waren ölverschmiert.

»Wer will das wissen?«, fragte er in provokativem Tonfall zurück.

Sina wechselte einen kurzen Blick mit Marc, bevor sie ihren Ausweis zückte und Fabians Vater dicht vor die Nase hielt. »Kriminalhauptkommissarin Engel. Das ist mein Kollege, Polizeiobermeister Fornack.«

Zögernd nickte der Arbeiter. »Was kann ich für Sie tun?«

»Wir haben Sie rufen lassen, weil Fabians Mutter uns heute Morgen darüber informiert hat, dass Ihr Sohn verschwunden ist.«

»Fabian?« Die Überraschung in der Miene des Mannes wirkte echt. »Was soll das heißen?«

Sina erklärte ihm grob die Situation, ohne auf die Einzelheiten aus Clarissa Martins Bericht einzugehen. »Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu ihm?«

Reiner Thomeier blickte auf seine Füße. »Das weiß ich gar nicht genau.« Er schien nachzudenken. »Vorletztes Wochenende. Da habe ich ihm bei einem Rugbyspiel zugesehen. Und letzte Woche haben wir drei- oder viermal telefoniert.«

Sina notierte sich das Datum. »Wie ging es Fabian? Wie immer? Oder hat er Ihnen von Problemen erzählt? Mit seiner Mutter? In der Schule? Mit Klassenkameraden?«, zählte Marc ungeduldig auf.

Fabians Vater schwieg einen Moment, bevor er seinen Kopf schüttelte. »Nein, er war wie immer. Welche Probleme meinen Sie? Was hat Ihnen Clarissa erzählt?«

Sina ging nicht auf die Fragen ein. »Warum haben Sie sich vor fünf Jahren getrennt?«

Auf Reiner Thomeiers Stirn erschien eine tiefe Falte. »Ist das relevant?«

»Wissen wir noch nicht«, entgegnete Marc kurz angebunden. »Also?«

»Es passte eben nicht. Ich hatte damals das Gefühl … Ich lernte jemanden kennen …«

»Sie haben Frau Martin betrogen?«, fasste Sina zusammen.

Thomeier zuckte mit den Achseln. »Nicht direkt …«

»Also indirekt«, merkte Marc in süffisantem Tonfall an. »Welchen Eindruck haben Sie von der Beziehung zwischen Fabian und Frau Martin?«

Der Arbeiter zog seine Brauen hoch. »Clarissa ist eben seine Mutter. Was meinen Sie? Es gibt mal Stress zwischen ihnen, aber dann ist auch wieder alles gut. Ganz normal.«

»Leben Sie allein?« Sina blickte erneut auf ihren Block.

»Warum ist das wichtig?« Er schnaufte.

»Herr Thomeier, die Entscheidung, was in diesem Fall wichtig ist, überlassen Sie bitte uns. Beantworten Sie einfach die Fragen.« Marcs Tonfall wurde schärfer.

»Bin ich verdächtig? Denken Sie, ich habe meinen eigenen Sohn entführt, oder was?«, blaffte Fabians Vater erbost.

Sina hob beschwichtigend ihre Hände. »Hören Sie, Ihr Sohn ist wahrscheinlich seit …«, sie blickte auf ihre Uhr, »… ungefähr zwanzig Stunden allein mit seinem Fahrrad unterwegs. Wir haben Temperaturen um die fünf Grad. Ich denke, ich brauche Ihnen nicht erklären, was das bedeutet. Wir müssen wissen, wo Fabian hingegangen sein könnte. Welche Personen sein direktes Umfeld bilden. Und ja, falls Sie eine Lebensgefährtin haben, könnte diese durchaus eine Anlaufstelle für Ihren Sohn sein. Also?«

»Meine Lebensgefährtin und ich wohnen schon lange zusammen«, erklärte Thomeier kleinlaut. »Natürlich kennt Fabian sie.«

»Versteht er sich gut mit ihr?«

Thomeier nickte.

»In Ordnung.« Sina musterte das müde Gesicht des Mannes. »Haben Sie vielleicht eine Idee, wo Ihr Sohn sein könnte? Gibt es einen Platz, an den er sich zurückzieht, wenn er seine Ruhe braucht?«

Der Mann ließ seine Schultern sacken. »Viola und ich waren gestern Abend nicht zu Hause. Vielleicht …« Er verstummte.

Sina blickte ihn scharf an. »Sie denken, er könnte bei Ihnen gewesen sein?«

Unsicher schüttelte Reiner Thomeier seinen Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht.« Er fuhr sich mit der rechten Hand über die Stirn. Ein schwarzer Ölfilm zog sich über die Haut.

Doch Sina machte ihn nicht darauf aufmerksam.

»Wo ist er?« Die Stimme von Fabians Vater zitterte. »Verdammt!«

»Wir werden ihn finden, Herr Thomeier«, erklärte Sina entschlossen. Ihr war klar, dass die kalte Witterung die Suche nach dem Jungen zu einem Wettlauf gegen die Zeit machte.

4

Heidelberg

Hauptkommissar Thorsten Schröder fluchte. »Gott steh demjenigen bei, der hier akute Hilfe braucht. Bis man einen Parkplatz gefunden hat, hat sich der Notfall erübrigt.«

Matthias Sommer grinste neben ihm auf dem Beifahrersitz. »Ist es nicht noch ein wenig früh für Sarkasmus?«

Thorsten trommelte mit seinen Fingern auf das Lenkrad. »Siehst du hier irgendwo Sarkasmus? Ich sehe nur besetzte Parkplätze.«

Sie fuhren bereits zum fünften Mal am Eingang des Universitätsklinikums im Neuenheimer Feld vorbei, wo sie einen vorgestern eingelieferten, schwer verletzten Gastwirt befragen sollten.

Als zwanzig Meter vor ihnen ein Wagen aus einer Parkbucht schoss, lachte Thorsten triumphierend auf und ballte seine rechte Hand zur Faust. »Na, wer sagt’s denn!«

Matthias blickte seinen Kollegen kopfschüttelnd an und erwiderte nichts.

Auf dem Fußweg zur Klinik kam ihnen eine jüngere blonde Frau mit Kinderwagen entgegen. Sofort wanderten Matthias’ Gedanken zu Hauptkommissarin Sina Engel. Wie lange war es mittlerweile her?

Noch immer konnte er sich nicht erklären, was zwischen ihnen schiefgelaufen war. Bei seinen Besuchen direkt nach Claras Geburt hatte er den Eindruck gewonnen, Sina würde seine Gegenwart in ähnlicher Weise genießen, wie er sich auf die Gespräche mit ihr freute. Auch die Telefonate, die sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus regelmäßig führten, hatten eine Mischung aus weitergehendem Interesse und einem Gefühl von Vertrautheit in ihm ausgelöst. Sinas Erzählungen über Claras Entwicklung waren gleichzeitig amüsant und liebevoll. Obwohl ihm klar gewesen war, dass die frischgebackene Mutter noch nicht über Carlos Tod hinweg sein konnte, war in Matthias ein kleiner Funke Hoffnung aufgeglüht, dass ihr Verhältnis Sina vielleicht ein wenig dabei helfen könnte, die Trauer um ihren verstorbenen Lebensgefährten zu verarbeiten.

Matthias wusste nicht, warum der Kontakt abgerissen war. Die Telefonate waren weniger geworden. Von einem persönlichen Treffen war irgendwann überhaupt nicht mehr die Rede gewesen. Nachdem Sina sich nicht mehr bei ihm meldete, war er zu dem Schluss gekommen, es sei für sie beide besser, wenn er sie ebenfalls in Ruhe ließe.

Was nicht hieß, dass er nicht mehr an sie dachte. Und ebenfalls nicht, dass er die Hoffnung auf eine klärende Aussprache aufgegeben hatte.

Er musste an die gemeinsamen Ermittlungen im letzten August denken. Ihre anfängliche Antipathie, die Situation im Schlosspark, den Moment, in dem ihm klar geworden war, dass Sina und ihre Tochter in Lebensgefahr schwebten …

»Matthias?«

Sein Kollege unterbrach seine Tagträumerei. Matthias konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart.

»Alles klar?«

Er nickte, als er den prüfenden Blick seines Partners auf sich spürte. »Ja, ich war nur in Gedanken.«

Thorsten grinste. »Das habe ich gemerkt. Also, wie gehen wir vor?«

Matthias zuckte mit den Achseln, während er sich den Bericht der Kollegen ins Gedächtnis rief. »Wir befragen di Franco zu seinen Verletzungen und warten ab, ob er mit offenen Karten spielt. Ich denke, die Situation ist eindeutig. Es kommt jetzt nur darauf an, ob er kooperiert.«

Thorsten presste grimmig seine Lippen aufeinander, während sie den weiß gestrichenen Flur des Klinikums entlanggingen.

Als ihnen ein Arzt entgegenkam, zückte Matthias seinen Ausweis. »Entschuldigung.« Er stellte Thorsten und sich vor. »Wir möchten zu Giuseppe di Franco.«

Der Mediziner blickte Matthias skeptisch an. »Ich bin auf dem Weg zu einem Notfall. Wenden Sie sich bitte an Schwester Irene.« Er zeigte den Flur hinauf. »Sie sitzt da vorne in dem Zimmer mit dem breiten Fenster.«

»Wir müssten wissen, welche Verletzungen bei Herrn di Franco festgestellt wurden«, ließ Matthias nicht locker.

Der Arzt fuhr sich ungeduldig über sein Haar. »Schwester Irene kann die Akte einsehen. Bitte …« Er sah die Beamten abwartend an.

Thorsten nickte und wechselte einen genervten Blick mit Matthias, als der Doktor, sichtlich erleichtert, weitereilte.

Hinter der Glasfront saß nur eine einzige Pflegerin am Computer.

»Schwester Irene?«, fragte Matthias, bevor er erneut seinen Ausweis zog und vor die Scheibe hielt.