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Wilfried Eggers

Das armenische Tor

Roman

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Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Bongiozzo (Platz der Republik, Jerewan), Janson.art (Mann)

Lektorat: Nadine Buranaseda

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-89425-760-6

 

Wilfried Eggers studierte Rechtswissenschaften und skandinavische Sprachen in Kiel. Verheiratet, drei Kinder, überzeugter Moorbewohner. Er ist als selbstständiger Notar und Rechtsanwalt tätig und hat so Einblick in das gesamte Spektrum des prallen Lebens – vom platt gefahrenen Huhn bis zur Aktiengesellschaft.
www.wilfried-eggers.de

 

Tue keinem was zu Leide,
Tu sonst, was du willst,
Außer dieser gibt es keine
Sünde im Gesetz.

Mohammed Schemsed-din Hafis (1320–1389),
Der Diwan

Wer sich selbst und andere kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.

Johann Wolfgang von Goethe,
West-östlicher Divan (1819)

1

Anahid Bedrosian saß in der sechstletzten Reihe, gerade so weit hinten, dass sie den Überblick hatte, und nicht so weit vorn, dass man sie für einen neutralen Gast halten konnte. Sie war früh gekommen, an diesem Freitagabend im April, um zu sehen, welches Publikum in der Alten Turnhalle erscheinen würde.

Der kalte Luftzug von der sich öffnenden Tür her kündigte die neuen Besucher an. Hauptsächlich Türken. Natürlich. Anahid strich sich die schwarzen Haare hinters Ohr, damit sie besser zur Seite sehen konnte, ohne neugierig zu wirken. Sie hatte keine Illusionen. Wenn man einem Volk angehörte, das man versucht hatte auszurotten, konnte man sich keinen Optimismus leisten. Optimismus war etwas für Leute, die vor dem Bösen ihre Augen verschlossen, weil sie gemütlich leben wollten. Gemütlich lebt nur, wer die Welt ignoriert.

»Wird schon«, das war der Spruch, den sie am meisten hasste. Nichts wird. Vor allem nicht von allein. Konnte man als Armenierin in Deutschland leben, das die europäische Judenheit ausgerottet hatte?

Was du den anderen tust, tust du auch mir.

Wer als Armenier nach Deutschland kam, war wie ein Hamster, der mit dem Fuchs Freundschaft schloss, nachdem der ein Karnickel gefressen hatte. Trotzdem war sie hier, seit mehr als zehn Jahren, festgewachsen, obwohl es keine Heimat war. Sie war hier hängen geblieben, nachdem sie in Kiel studiert, in Hannover ihre Referendarzeit abgeleistet, einen Job in Hemmstedt gefunden und sich von Karl getrennt hatte. Karl hatte nur die Frau Anahid haben wollen, nicht die Armenierin Anahid. Er war des Themas überdrüssig geworden und sie hatten ihr Leben nicht mehr teilen können. Vielleicht hätte ich nach Frankreich gehen sollen, dachte Anahid, dort gibt es zwar eine Menge Maghrebiner, aber wenig Türken, dafür eine halbe Million Armenier, in Deutschland nur so viel wie Hemmstedt Einwohner hatte, ungefähr vierzigtausend. Alle verstreut, jeder für sich, einzeln. Einsam. Auch heute würde sie allein kämpfen müssen.

Wir werden verschüttet, wenn wir nicht kämpfen. Dann kriegen sie recht, hundert Jahre danach.

Hohe Fenster, gegenüber die Fachwerkwand mit alten Ziegeln, davor das flache Podium, Mikrofone, knarrender Parkettboden, eine Wendeltreppe mit eisernem Geländer zum Dachboden – ein denkwürdiger Raum. Früher war das eine Turnhalle gewesen, schon zur Nazizeit, als dein Körper der Nation gehört und du Gymnastik gemacht hast, damit die rhythmischen Urbewegungen funktionierten und die innere Heiterkeit zustande brachten, die du gebraucht hast, um künftige Soldaten zu gebären. Hatte ihr die Nachbarin Else erzählt, neulich am Samstag, beim Unkrautjäten, über den grünen Zaun des Reihenhausgartens hinweg, wo Anahid wohnte, allein, seit sie mit Karl Schluss gemacht hatte. Keine zehn Pferde würden sie da wieder hinbringen, hatte Else gesagt, ihr komme sonst der Konfirmationskaffee hoch.

»Urbewegungen! Was sollte das wohl sein, hä?« Sie hatte den rechten Zeigefinger in den Kreis von Daumen und Zeigefinger der linken Hand gesteckt. So eine war Else. So alt, aber immer noch Sprüche zum Rotwerden.

Jetzt nutzte man den Raum für After-Work-Partys, Musikveranstaltungen und Kleinkunst, überhaupt für alle Zusammenkünfte, die kein oder wenig Geld brachten und deshalb nicht im Kultureum stattfinden konnten, das jedes Jahr eine Million aus dem Hafersack der Stadt fraß, weswegen man dort die Wildecker Herzbuben sehen und hören konnte und haufenweise sogenannte Comedians, die neuen Wanderprediger ohne Bibel.

Und heute hier der Vortrag dieses Ali Söylemezoğlu mit anschließender Diskussion unter dem Motto ›Türkei und Armenien – Das schwierige Verhältnis‹. Der Mann hatte ein Buch zu dem Thema verfasst und einen Verein gegründet, den er ausgerechnet Dialog für den Frieden nannte, wahrscheinlich gemeinnützig und steuerbegünstigt.

Der Ausländerbeirat hatte eingeladen. Es solle ein Austausch stattfinden, der dem Konflikt zwischen den Türken und den Armeniern ein Ende machen, jedenfalls zu einer Annäherung führen sollte. Beide Seiten sollten sich aussprechen, ihre Herzen ausschütten, frei ihre Meinung sagen. So jedenfalls stand es in dem Veranstaltungshinweis auf der Kulturseite des Hemmstedter Tageblatts. Klang friedlich. Aber zwischen Armeniern und Türken war nichts friedlich, es herrschte kalter Krieg.

Zum Glück waren die alevitischen Familien da, die es in Hemmstedt gab, eine davon sogar aus Tunceli. Die Aleviten aus Tunceli und die Armenier verstanden sich, haben sich schon immer verstanden, waren sie doch beide der Türken Feinde, sind sie doch beide fast ausgerottet worden und leben heute verstreut in aller Welt, die kleinen Geschwister der Juden. Anahid hatte die E-Mail bekommen, die unter den Türken herumgeschlichen war. Welch ein Glück, dass sie von ihrer Großmutter Türkisch gelernt hatte!

Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands – so hatte es da gestanden! – ist es gelungen, in einem staatlichen Rahmen eine Veranstaltung zu organisieren, in der wir die Behauptung vom armenischen Genozid als das entlarven können, was sie ist: eine Lüge und eine Beleidung des Türkentums. Wir müssen im ganzen Land Institutionen dazu bringen, solche Veranstaltungen abzuhalten. Für alle Türken ist es eine patriotische Pflicht, an diesem Abend dabei zu sein.

Anahid hatte diese größenwahnsinnige Mail übersetzt und sie dem Bürgermeister und dem Pfarrer geschickt, der als Moderator fungieren sollte. Beide hatten, vielleicht nach einem Blick ins Netz, ihre Teilnahme hektisch abgesagt, worauf Anahid stolz war. Hätten sie das Buch gelesen, wären sie früher darauf gekommen. Diese harmlosen Deutschen. Dachten, sie wären die Einzigen, die einen anständigen Völkermord hinkriegen. Bosheit trauten sie nur sich selbst zu. Nichts sollte mit dem Holocaust vergleichbar sein. Niemand sollte Auschwitz relativieren. Richtig für die Deutschen, falsch für mich, dachte Anahid. Die Armenier, die Griechen, die Lasen, die Assyrer, die Aramäer und die Aleviten Dersims, alle massakriert vom Türkenstaat. Und alles geleugnet. Nichts war damit vergleichbar.

Allmählich füllten sich die Reihen. Fast alles Türken mit grünen Mongolengesichtern, Nachkommen der Hunnen, Reiter, Herrenmenschen, Eroberer, Träger von Ehre und Gesicht, die ihr Leben lang lügen, um keines von beiden zu verlieren, Großmeister des Beleidigtseins, nicht wissend, dass gerade das, ach, Scheiße, ich vergesse mich, ich will gerecht sein, ich habe doch türkische Freunde.

Türken haben damals meine junge Urgroßmutter gerettet, als sie am Ende des Kriegs in Urfa gestrandet war, in einen Hauseingang haben sie sie gezerrt, ins Haus gebracht und versteckt, die schwangere Witwe, als der Mob hinter ihr her war, überlebt hat sie in Hinterhof und dunklen Zimmern. Und drei Monate später ist sie runter in den Libanon, zu den Franzosen, wo sie ihr Kind gebar, meine Großmutter, und das armenische Blut floss weiter. Es gäbe mich nicht ohne diese Türken in Urfa, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Es sind Türken, denen ich meine Existenz zu verdanken habe, verdammt.

Ein paar Kurden kamen auch. Eigentlich waren sie keine Kurden, sondern Zaza und die meisten von ihnen, die in Hemmstedt und Umgebung lebten, kamen aus der Gegend von Bingöl und Elazığ und drum herum, die Döner, Pide und Köfte in der Hemmstedter Fußgängerzone verkauften und sich nur deshalb ›Kurden‹ nannten, weil die Kurden sie ›Kurden‹ nannten und weil es zu kompliziert war, den Deutschen zu erklären, dass es in der Türkei fünf Millionen Zaza gab. Aber natürlich waren die meisten Hemmstedter Zaza sunnitisch, schaafitische Sunniten, strenge Vertreter ihres Glaubens also, damals wie heute die Kollaborateure, noch im kleinsten Dorf in den zentralanatolischen Bergen hatten sie ihre Spaten aus den steinernen Schobern geholt und ihren armenischen Nachbarn damit die Köpfe gespalten, denn sie, obwohl selbst von der türkischen Herrenrasse verachtet, wollten auch einmal Herr sein, auch einmal verachten, ausrauben und schänden dürfen.

Viele von ihnen waren in die Türkei zurückgekehrt, seit Erdoğan regierte. Er hatte den Kurden und Zaza erlaubt, ihre eigene Sprache zu sprechen, auf der Straße, im Radio und Fernsehen. Das Leben auf den Knien war beendet, der Bürgerkrieg abgeflaut, sie waren wieder Menschen geworden und hatten jetzt, seit es mit der Wirtschaft vorangegangen war, sogar Geld in der Tasche und eine Zukunft. Eine Hoffnung auf Glück. Dafür würden sie Erdoğan ewig dankbar sein.

Die meisten lebten im Ostpreußenviertel. So hieß das Quartier, in dem hundertsiebzig Sprachen gesprochen wurden, ein Haufen heruntergekommener Hochhäuser, die wechselnde Miethaie ausgepresst hatten, bis die Stadt ein Sanierungsprogramm auf Kosten der Steuerzahler hatte auflegen müssen.

Rundherum babylonisches Sprachengewirr, vor allem Türkisch, Zaza und Kurdisch in allen Dialekten, aber auch Italienisch, Spanisch, Arabisch. Und hier und da Deutsch. Außer den Türken wusste natürlich niemand, was anstand. Mittlerweile war es fast halb neun geworden und immer noch kamen Leute herein. Der Saal füllte sich.

Hat man je eine türkische Veranstaltung erlebt, die pünktlich angefangen hatte?

Auf dem Podium hatte sich ein grauhaariger Mensch hinter einem aufgeklappten Rechner verschanzt. Er trug ein braunes Jackett, hatte aschgraue Haut, machte einen wissenschaftlich-nüchternen Eindruck, den er durch seine ruhige Erscheinung und die übereinandergelegten Hände betonte, und hieß Söylemezoğlu. Neben ihm der Vorsitzende des Ausländerbeirats, der Afghane El Mokhtarzada, ein distinguierter Apotheker, der Hilfslieferungen in die Kriegsgebiete seiner alten Heimat organisierte. Vielleicht hatte er es für seine Pflicht gehalten, den Abend nicht platzen zu lassen. Schließlich gab es nichts einzuwenden gegen den Versuch der Verständigung.

Als El Mokhtarzada das Wort ergriff, lehnte sich Anahid zurück und atmete tief durch. Sie wollte ruhig bleiben, unter allen Umständen. Söylemezoğlu räusperte sich, reckte den Hals in diverse Richtungen wie ein Hahn, klopfte mit dem Kugelschreiber an sein Wasserglas, bis sich die Gesellschaft nach und nach beruhigte und der Letzte begriffen hatte, dass die Veranstaltung begann. Nachdem El Mokhtarzada die Abwesenheit des Bürgermeisters und des Pfarrers bedauernd erwähnt hatte, übergab er das Wort an Söylemezoğlu. Wie oft hatte Anahid das, was jetzt kam, schon gehört, so oft, dass sie fast nicht mehr in der Lage war zuzuhören, zumal sie das Buch dieses Leugners unter Qualen gelesen hatte – das stümperhafte Werk eines viertklassigen Autors, dem kein kritischer Geist Glauben schenken konnte.

Die berühmte Dolchstoßlegende, die seit bald hundert Jahren durch stete Wiederholung fast so wahr geworden war wie die Protokolle der Weisen von Zion. Es gab immer genug Ungebildete, Nachplapperer und Idioten, die das glaubten, und weil es unter den Türken von dieser Sorte reichlich gab, fand man unter ihnen die meisten. Die Armenier hätten im Ersten Weltkrieg gemeinsame Sache mit den Russen gemacht, sich mit ihnen verbündet, um den Türken den Osten des Landes zu entreißen, es habe geheime Waffenlager gegeben, nämlich in Van, zur Vorbereitung eines Umsturzes, und zahlreiche gewaltsame Angriffe auf die muslimischen Nachbarn. Bedrängt von den Entente-Mächten, sei der jungtürkischen Regierung nichts anderes übrig geblieben, als die Armenier in kontrollierbare Wohngebiete im Süden des Landes umzusiedeln, wobei durch inkompetente Durchführung und Übergriffe der Zivilbevölkerung, »was ich unter diesen Umständen nachvollziehen kann«, einige Tausend von ihnen umgekommen seien, was wirklich schrecklich und traumatisch und sehr zu bedauern sei, jedoch nicht mit dem Begriff des ›Genozids‹ belegt werden könne. Damit aber nicht genug. Nicht die Türken hätten systematisch Armenier getötet, sondern umgekehrt: Drei Millionen Muslime seien von Armeniern ermordet worden, die sich anschließend bei den Russen im Kaukasus verschanzt hätten.

Anahid kannte Söylemezoğlu und seinesgleichen. Er war Mitglied einer türkischen Apologetenarmee. Immer wenn irgendwo vom armenischen Genozid die Rede war, schwärmten sie aus, in die Zeitungen, Radiosendungen und Fernsehdiskussionen. Manche, meistens Journalisten von Beruf, machten sogar einen Lebensunterhalt daraus und einer davon war Söylemezoğlu.

Die Veranstaltung in Hemmstedt war nicht die erste dieser Art. Er warb mit schönen Sprüchen: »Hass ist keine Lösung« und »Aufruf zum Dialog und Frieden«. Er deckte »geschichtliche Hintergründe« auf. Eine riesige Kraftanstrengung fand statt in allen Ländern, in denen über dieses Thema diskutiert wurde, hauptsächlich in Frankreich, der Schweiz, in Kanada, den USA, dort, wohin viele der überlebenden Armenier geflüchtet waren. Diese Armee der Leugner war die Ergänzung, vielleicht auch Bestandteil der türkischen Außenpolitik. Jedem, der vom armenischen Genozid sprach, musste unter allen Umständen der Mund gestopft und die Schreibfeder genommen werden.

Der Mann redete fast eine Stunde lang. Er belegte seine Meinung mit vielerlei Zitaten von Quellen aus seinem Buch, bekam zwischendurch Beifall, hier und da erhob sich zustimmendes Gemurmel. Anahid spürte die fragenden Blicke der italienischen Frau, die neben ihr saß.

Du entkommst deinem Schicksal nicht, wenn du Armenierin bist. Wie diskutiert man mit Fundamentalisten? Wie macht man einem Dieb klar, dass er gestohlen hat, einem Alkoholiker, dass er trinkt, einem Schläger, dass er schlägt, einem Lügner, dass er lügt? Warum jemandem etwas beweisen, was der selbst am besten weiß?

Anahid war kalt ums Herz und ruhig im Blut geworden, denn es war nicht das erste Mal, dass sie in solche Schlachten zog.

Du hältst sie nur aus, wenn du kalt bleibst. Der Aufgeregte schießt schlecht.

Am Ende sagte Söylemezoğlu, nun sei es an der Zeit, das schwierige Verhältnis der Türken und Armenier auf der Grundlage von Ehrlichkeit und Wahrheit zu revidieren. Der Apotheker dankte Söylemezoğlu für seinen engagierten Vortrag und schlug eine Diskussion vor.

Anahid stand auf. »Ich möchte Sie etwas fragen.«

»Ja bitte.« Söylemezoğlu lächelte.

Er kannte sie nicht. Manchmal konnte man Armenier nicht von Türken unterscheiden. Beide hatten dunkle Haut, braune Augen und schwarzes Haar.

»Es gibt ein Dokument des deutschen Vizekonsuls in Mossul. Das war ein Mann namens Walter Holstein. Er hat berichtet, er habe auf manchen Stücken des Wegs von Mossul nach Aleppo so viele abgehackte Kinderhände liegen sehen, dass man damit den ganzen Weg hätte pflastern können. Kennen Sie diese Quelle, haben Sie sie verwertet?«

»Äh, ich habe …«

»Ich stelle fest, Sie kennen sie nicht und haben sie nicht verwertet. Walter Holstein hat auch berichtet, er habe beobachtet, dass Gendarmeriepatrouillen in Diyarbakır und Mardin die Bevölkerung aufgefordert hätten, die Armenier umzubringen. An der ganzen Strecke südlich Nusaybins habe er, wie er sich ausdrückt, alle Mohammedaner mit krummen Schwertern herumlaufen sehen. ›Ermeni‹, also Armenier, hätten sie immerzu gerufen, das sei ihr einziger Gedanke gewesen. Und kennen Sie die Autobiografie des amerikanischen Botschafters in Istanbul, Henry Morgenthau? Er war mehrfach bei Talaat Pascha, um auf ihn einzuwirken, dass die Massaker an den Armeniern aufhören. Kennen Sie diese Quelle und haben Sie sie verwertet?«

»Morgenthau? Dieser, äh, Jude, meinen Sie? Seine Darstellungen sind nachgewiesenermaßen ungenau, einige Daten sind widerlegt und es ist offenbar, dass er …«

»Wer weist das nach – Sie?«

»Ich habe …«

»Ich stelle fest, dass Sie sich nicht damit auseinandergesetzt haben. Und Sie wollen ja wohl nicht ausgerechnet in Deutschland behaupten, dass ein Jude nicht vertrauenswürdig sei, nur weil er Jude ist? Aber etwas anderes: Kennen Sie die im Osmanischen Reich und in der Türkei bis auf den heutigen Tag gebräuchliche Foltermethode, wonach man dem Opfer gewaltsam einen Knüppel in den Anus treibt, also in den Darm?«

»Was hat das mit unserem Thema zu tun?«

»Sehr viel. Martin Niepage, ein Lehrer an der Deutschen Schule in Aleppo von 1913 bis 1916, hat berichtet, was ihm die Ingenieure von der Bagdadbahn – alles Deutsche übrigens, unter der Leitung von Wilhelm Pressel, alles Verbündete der Türkei damals, ich betone das – erzählt haben, ich kann das auswendig, ich zitiere: ›Sie berichteten, dass am Bahndamm bei Tell Abyat und Rasulayn geschändete Frauenleichen massenhaft herumlagen. Vielen von ihnen hatte man Knüppel in den After hineingetrieben.‹«

Die italienische Frau auf dem Nachbarstuhl beschattete ihre Augen mit der Hand und murmelte: »Questo è terribile.«

»Und nun, bitte, nennen Sie mir einen einzigen nicht türkischen Historiker, der Ihre Auffassung teilt! – Es gibt keinen«, fuhr sie fort, als Söylemezoğlu nicht gleich den Mund aufmachte. »Es gibt nur türkische Autoren, die den Völkermord an den Armeniern Anatoliens leugnen, und jeder einzelne von ihnen sagt die Unwahrheit. Das Schlimme aber ist, sie kennen die Wahrheit, sie wissen, dass sie lügen. Und sie wissen, dass alle anderen es wissen. Und deswegen müssen sie sich ständig rechtfertigen und Veranstaltungen machen, sogar in Hemmstedt, wo es fast keine Armenier gibt, mit denen sie Freundschaft schließen könnten.«

Anahid war zufrieden. Sie hätte noch den Pfarrer Lepsius und den Schriftsteller Armin T. Wegner bringen können und das ganze Archiv des Auswärtigen Amts, das vollgestopft war mit Dokumenten, Berichten, Depeschen, Fotos. Ganz zu schweigen von den Aufzeichnungen des Dikran Andreassian, die Franz Werfel für die Vierzig Tage des Musa Dagh ausgewertet hatte.

Söylemezoğlus Hals wurde länger, er machte den Mund auf, doch der Apotheker aus Afghanistan war schneller.

»Bitte«, sagte er. »Wir sind alle keine Historiker. Ich möchte die Fragen oder vielmehr eigentlich Feststellungen, die Frau … Äh, bitte, wie ist Ihr Name?«

»Ich heiße Anahid Bedrosian, ich bin Armenierin und ich wiederhole meine Frage an Herrn Söylemezoğlu. Gibt es einen einzigen nicht türkischen Historiker, der Ihre Auffassung teilt? Nennen Sie mir einen einzigen, ich bitte Sie!«

Söylemezoğlus Hals wurde wieder kürzer, als könnte er ihn aus- und einfahren wie eine Schildkröte. »Die Untersuchung der Archive«, begann er, »sie ist dringend erforderlich, denn bisher ist auf unvollständiger Tatsachengrundlage …«

Der Apotheker, ein wahrhaftiger Mann, wie Anahid jetzt erkannte, unterbrach Söylemezoğlu und erklärte: »Es gibt also keinen?«

Söylemezoğlu antwortete nicht sofort und es erhob sich ein Murmeln in den Reihen.

»Zur!«, hörte sie hinter sich, von dort, wo die alevitischen Familien saßen. Das war Zaza und bedeutete ›Lüge‹. Sie hatte gewonnen. Sie spürte die türkischen Blicke kalt im Wirbel und ihr wurde übel.

Wenn ich hier sitzen bleibe, muss ich kotzen.

Anahid stand auf und bahnte sich einen Weg durch die Sitzenden Richtung Ausgang.

An der Theke standen drei Männer. Anahid sah die Blicke nicht mehr, die sie sich zuwarfen, denn sie hatte den Saal verlassen und war hinausgegangen in den Aprilabend. Wohin sollte sie ihre Schritte lenken? Sie hätte jetzt Gesellschaft gebrauchen können. Sie lief durch dunkle Gassen zum Alten Hafen. Dann verspürte sie Müdigkeit und beschloss, nach Hause zu gehen. Ein Bad würde ihr guttun.

Sie ließ die kleine Altstadt hinter sich. In der Fußgängerzone nur noch wenige Menschen, nachdem die Geschäfte geschlossen hatten. Die Wallanlagen am Burggraben auf dem Weg, der an der Insel mit dem Freilichtmuseum vorüberführte. Sie hörte das Knirschen des Schotters unter ihren Füßen. Oder war es ein anderes Knirschen, andere Füße?

Sie blieb stehen, hielt den Atem an, sah sich um. Nur zwanzig Meter Weg, dann eine Kurve. Büsche. Nichts. Nur laute Stimmen von drüben, wahrscheinlich vom Italiener am Burggraben her, eine Festgesellschaft. Also weiter. Links der Wald, rechts die Aue. Es war dämmrig geworden, aber nicht dunkel genug, dass sie sich in den Büschen verstecken konnte. Sie versuchte, auf Zehenspitzen zu gehen und gleichzeitig nach hinten zu lauschen. Ich spinne schon, dachte sie, mein Herz ist dümmer als mein Verstand, jetzt reicht es. Sie drehte sich um und kehrte zurück, noch schneller, als sie in Richtung Bundesstraße gegangen war. Nachdem sie an der Wallstraße angekommen war und immer noch niemanden gesehen hatte, der ihr gefolgt war, atmete sie auf, machte abermals kehrt und nahm ein zweites Mal den Weg zur Bundesstraße. Die meisten Autos fuhren jetzt mit Licht.

Dort bog sie ab auf den Fußweg durch die Auewiesen.

Es geschah nach ungefähr fünfhundert Metern, an der Einfahrt zu einer Wiese.

2

Peter Schlüter, von manchen seiner Kollegen auch ›der Fuchs‹ genannt, hatte eigentlich nachmittags freimachen wollen, um etwas früher ins Wochenende zu gehen, aber dann hatte er zugelassen, dass diese späte Beurkundung in seinem Terminkalender stand. Die Mandanten hatten sich gerade verabschiedet. Er griff zur Computermaus, um den Rechner auf seinem Schreibtisch herunterzufahren, besann sich jedoch anders, klappte die Akte wieder auf und zog die frisch unterschriebene Urkunde hervor. Besser, dachte er, ich berichtige den Text um meine handschriftlichen Änderungen. So könnte Angela die Urkunde am Montagmorgen gleich ausfertigen, ohne seine Klaue entziffern zu müssen. Sie würde neben jede Änderung einen Stempel machen und penibel die Leerstellen eintragen: Fünf Worte gestrichen, zehn Worte ergänzt, Zahl geändert, und er würde jeweils seine Unterschrift daruntersetzen. Die Urkunde würde in die Sammlung geheftet werden und für alle Zeit so bleiben, wie sie war.

Auf diese Minuten kam es nicht an. Schlüter hatte einen schönen Kaufvertrag beurkundet, mit Grundschuld. Alle waren glücklich. Der Verkäufer, weil er sein Haus los war, der Käufer, weil er es bekommen hatte, und der Notar Schlüter, weil er anstrengungslos einen Tausender verdient hatte. Selbst wenn sich die Sache etwas hingezogen hatte.

Die Lebensverhältnisse hatten sich geändert, global wie privat. ›Matthias der Gerechte‹ hatte Schlüters helles Arbeitszimmer bezogen. Schlüter selbst war in den meist verwaisten Besprechungsraum ausgewichen, ein bescheidenes Zimmerchen, das nach hinten hinausging, nur ein kleines Fenster hatte und deshalb recht dunkel war, sodass er die Lampe über seinem abgewetzten Schreibtisch angeknipst hatte. Matthias der Gerechte hieß bürgerlich Martens. Schlüter hatte ihn so getauft, weil der Mann noch an die Gerechtigkeit und die Weisheit der blinden Justitia glaubte. Diesen Glauben wollte er ihm nicht nehmen, Matthias würde ihn auch ohne die weisen Sprüche seines alternden Seniors verlieren. Eigentlich hatte der junge Mann Schlüter nur während Krankheit und Rekonvaleszenz nach dem Drama mit Horst Kurbjuweit vertreten sollen, aber er hatte sich so gut mit Angela, Schlüters Sekretärin, vertragen, dass sie verlangt hatte, den Neuen nicht wieder gehen zu lassen, eher werde sie selbst gehen, zumal er, Schlüter, über sechzig sei und allmählich das Recht habe, kürzerzutreten. Wenn nicht die Pflicht. »Irgendwann müssen Sie ja doch weniger machen, da hilft ja nun mal gar nichts.«

In der Tat. Als Christa, Schlüters Lebens- und Ehegefährtin seit frühen Studententagen, in die gleiche Kerbe gehackt hatte, war sein Holz morsch geworden und seither arbeitete er nur an vier Tagen in der Woche. Wenn er wollte, was meistens der Fall war. Und deswegen verwand er es, sein altgewohntes Arbeitszimmer zu verlassen um des jungen Kollegen willen, der Sonnenlicht gebrauchen konnte, denn er war einige Jahre Kellerknecht im Büro Nordhausen & Partner gewesen und hatte viele dunkle Jahre unausgesetzter Paragrafengrübelei vor sich. Jugend brauchte Licht. Matthias hatte gehofft, dort Sozius zu werden, die beiden Alten gönnten jedoch niemandem dieses Privileg, sie wollten alles Geld für sich. Nach kurzer Probezeit hatte Schlüter mit dem Gerechten einen Vertrag gemacht. Schlüter würde das Recht haben, in seinem Büro zu arbeiten, bis er seinen Notarstempel würde abgeben müssen, nämlich mit Vollendung des siebzigsten Lebensjahrs. Wenn er in das Lebensalter der Greisen eintrat. Und Matthias der Gerechte würde Schlüter vor die Tür setzen dürfen. Wenn er wollte.

Schlüter war kein Einzelkämpfer mehr. Das Büro im dritten Stock eines historischen Hauses am Alten Hafen Hemmstedts hieß jetzt Schlüter & Martens, Rechtsanwälte und Notar. Notar war der Gerechte nämlich noch nicht. Er musste warten, bis einer von den alten Notaren im Amtsgerichtsbezirk siebzig geworden war, seinen Stempel hatte abgeben müssen und eine neue Stelle ausgeschrieben war, auf die er sich bewerben konnte, nach bestandener Prüfung.

Angela war längst fort und den Gerechten hatte Schlüter schon vor drei Stunden zu seiner Herzdame nach Hamburg fortgeschickt, damit er nicht immerfort an die Arbeit denken musste, was auf Dauer zu schlechten Ergebnissen führte, wie jedermann wusste – abgesehen von den Unternehmensberatern.

Seit vielen Jahren hatte Schlüter einen Rechner auf dem Schreibtisch. Er hatte sich daran gewöhnt, die Urkunden selbst vorzubereiten, die neu erlernte Fertigkeit machte Spaß und sparte zudem Zeit, auch wenn er es nie lernen würde, mit mehr als drei Fingern zu tippen.

Er beeilte sich nicht und als er fertig war und den Rechner herunterfuhr, war es neunzehn Uhr dreißig. Viel zu spät, das Wochenende zu beginnen. Nachdem der Bildschirm blind geworden war, zog Schlüter den Stecker aus der Wand. Man war korrekt und sparte Strom. Es war das Zeitalter der Freiheit angebrochen und Freiheit war, nach Kant, Einsicht in die Notwendigkeiten. Und das bedeutete Verzicht und Selbstbeschränkung, was wiederum zur logischen, aber paradoxen Feststellung führte, dass die Freiheit des Menschen wuchs, je weniger er sich gönnte. Zuletzt würde er in einer Tonne wohnen und nur noch einen Wunsch haben: dass niemand einen Schatten darauf warf.

Schlüter schob seinen Schreibtischstuhl zurück, drückte den Dübel an der Armstütze in die Rückenlehne, wobei er den Gedanken an eine Reparatur beim Tischler wieder vertagte, und stand auf, reckte sich und genoss es, wie er allmählich ruhig wurde und das Gesumme in den Ohren nachließ. Er prüfte mit dem Zeigefinger den Puls an der Stirn. Ruhiger Herzschlag, guter Rhythmus. Seit der Sache mit Horst Kurbjuweit litt Schlüter an Störungen des Herzrhythmus, eine Konsequenz der Angst.

Schlüter zog tief die Luft ein und ließ die Schultern sacken. Feierabend! Ein schöner Abend würde es werden. Der heilige Freitagabend, an dem man sich nichts anderes vornahm als ein gemütliches Abendessen, vielleicht sogar auf der Terrasse. Wenn es warm genug war, denn hier, nicht weit von der Nordsee, machte der Wind später Feierabend als anderswo. Bestimmt hatte etwas Feldsalat im Garten den Winter überstanden und blühte noch nicht. Christa würde ein Baguette backen. Dazu ein gegrillter Ziegenkäse und eine Flasche kalten Riesling. Zum Nachtisch einen Espresso, ein Stück Schokolade und einen Slibowitz aus der Flasche, die Genta, die Putzfrau aus dem Kosovo, neulich mitgebracht hatte. Für Christa eine Filterlose. Sie würden ein Windlicht anzünden und die Woche ausklingen lassen. Kater Gustav, der seinen Namen vom Vorbesitzer des Hauses geerbt hatte, würde auf Jagd sein und sich zwischendurch Streicheleinheiten abholen. Vielleicht würden sie den Kauz lautlos durch die Dämmerung streichen sehen oder sogar, den Kopf im Nacken, dem geheimnisvollen Flug der Fledermaus folgen. Der weite Blick ins Moor, wie es sich im Frühlingsdunkel verbarg.

Ach, herrliche Zeit! Es war doch gut gewesen, nach Jahrzehnten im engen Hemmstedter Gerbergang aufs Land zu ziehen. Seit acht Jahren wohnten sie im Hollenflether Moor. Auf dem Land war die Zeit ein Wanderer mit gleichmäßigem Schritt, sie kannte keine Sekunden und keine Minuten, sondern nur Vormittage, Nachmittage, Abende und Nächte. In Hemmstedt aber, das kaum ›Stadt‹ zu nennen war, besonders bei der Arbeit in der Kanzlei, kam die Zeit zu keinem konstanten Gang: Sie machte einen Kopfsprung drei Tage voraus, stürzte nach einer Vollbremsung in die Gegenwart zurück und dann war sie schon wieder nach morgen gestolpert, bevor sie aus der Zukunft anbrauste. Wie sollte man unter diesen Umständen einen normalen Blutdruck haben?

Schlüter strich sich über die Reste seiner grauen Haare.

Jetzt einen letzten Blick auf den Terminkalender im Schreibzimmer, damit er wusste, was ihn in der nächsten Woche erwartete. Und dann ab. Schlüter ging in den Flur und die wenigen Schritte zu Angelas Reich. Wo war der Terminkalender?

Das Telefon klingelte. Es ist Feierabend, Leute! Seit mindestens zweieinhalb Stunden! Es ist Wochenende! Freitagabend! Der Arzt hatte vor zwei Jahren den Blutdruck für zu hoch attestiert und Pillen verordnet, Schlüter hatte Vorsätze gefasst, um, wie der Doktor gesagt hatte, »seine Lebenserwartung zu erreichen«. Einer davon hieß, nach Feierabend das Telefon zu ignorieren und entbehrlich zu sein. Schlüter zögerte. Vielleicht Christa, die ihn bitten wollte, ein Baguette mitzubringen, weil sie nicht dazu gekommen war, eines zu backen? Mit langem Hals näherte er sich dem Telefon. Das Display zeigte eine Handynummer. Also nicht Christa. Aber zu spät. Schlüter schaffte es nicht, den Blick vom Telefon zu lösen. Es klingelte. Dreimal, viermal. Einer, dem das Herz brannte, die Galle überkochte oder die Nieren kalt wurden? Schlüters Puls beschleunigte sich, gleich würde sich der Anrufbeantworter einschalten, wenn nicht …

Er nahm ab. »Schlüter.«

»Mister Schlüter, thanks God in heaven I reach you.« Eine aufgeregte männliche Stimme. »I urgently need your help. May I visit you right away …?« Der Mann war aus der Puste.

Schlüter kramte sein verrostetes Englisch hervor und erklärte dem Anrufer, dass er gerade im Begriff sei, Feierabend zu machen, ob es möglich sei, dass man sich am Montag zusammensetze, gern auch vormittags. Er werde den Terminkalender holen und sei gleich wieder am Apparat.

»I need to …«, hörte Schlüter noch, aber da hatte er schon den Hörer auf den Tisch gelegt und machte eine Runde durch das Schreibzimmer. Wo war der verdammte Terminkalender? Auf dem Posttisch lag er nicht. Vielleicht auf dem Aktenschrank? Endlich entdeckte er ihn unter einem Stapel Akten, zog ihn heraus, zog am Leseband, klappte ihn auf, blätterte zu Montag, dem 16. April, griff wieder zum Hörer und räusperte sich.

»You hear me?«

Es raschelte und knisterte in der Leitung. Schlüter hörte eine andere Stimme, einen unterdrückten Ruf, in einer fremden Sprache. Eine wütende Stimme – und einen Schrei.

Dann war die Leitung tot.

»Scheiße!«

Schlüter warf den Hörer auf die Gabel und starrte das Telefon an. Das Display zeigte neunzehn Uhr fünfunddreißig. Den ganzen Tag und die ganze Woche hatte er hier im Büro seine Prostata breit gesessen! Hatte dieser Kerl etwa nicht genug Gelegenheit gehabt anzurufen? Und kamen nicht die Obereiligen stets mit Angelegenheiten, die entweder überhaupt nicht eilig waren, die man bequem nächste oder gar übernächste Woche erledigen konnte – oder bei denen der Zug längst abgefahren war?

Das Telefon blieb tot.

Schlüter eilte in sein Zimmer, warf die graue Jacke über sein graues Jackett und floh vor dem Telefon, diesem unberechenbaren Spaßverderber. Er drückte die Tür hinter sich zu, schloss ab und ging die Treppe hinunter, so schnell, wie es sein unregelmäßiger Puls erlaubte. Er verließ das Haus am Alten Hafen, achtete nicht auf das trübe Wasser und das Schiffchen, das man der Touristen wegen dort eingesperrt hatte, und ging fort in Richtung Parkplatz, ohne sich umzusehen. Nie wieder würde er nach Feierabend ans Telefon gehen.

Aber es war zu spät für solche Vorsätze. Die Würfel waren gefallen.

3

Der Mann stand unter dem Gitterfenster in der Zelle Nummer 37, er hatte den Wasserkocher in der Hand und ließ das elektrische Kabel herabhängen. Wie lang es sein mochte? Er hörte aufheulende Turbinen vom nahen Flugplatz. Montag werde ich in einer dieser Maschinen sitzen, nach Moskau, dachte er. Dort werde ich in eine andere nach Jerewan umsteigen. Während er sich das Kabel um das Handgelenk wand, stellte er sich vor, wie er dort aus dem Flughafengebäude treten würde, die schmale Reisetasche über der Schulter.

Die beiden Vietnamesen, mit denen er die Zelle teilte, spielten Tischtennis im Sportraum. Sobald man allein war, hatte man andere Gedanken. Nachtgedanken. Er war noch nie in Armenien gewesen, diesem elenden Rest, den man seinem Volk gelassen hatte, diesem steinigen Acker, auf dem sich drei Millionen Davongekommene abrackerten, abgesehen von ein paar Zigtausend Kurden und Russen und noch weniger Pontosgriechen und anderen Minderheiten, die man an einer Hand abzählen konnte.

Armenien war das ethnisch reinste Land der Welt geworden seit dem Krieg – und das im Kaukasus, einer Gegend, in der sich seit Jahrtausenden auf engstem Raum so viele Völker und Sprachen mischten wie sonst nirgendwo. Armenien den Armeniern! Dabei wollten fast alle auswandern, weil sie von den Oligarchen die Nase voll hatten, einer Handvoll Familien, die das Land in Besitz genommen hatten und ausbeuteten, jede Veränderung blockierten und die Politik kastrierten. Und wahrscheinlich auch von dem ewigen aghet, dem Völkermord, als sei das Leben reduziert auf das Überlebthaben, als bestünde es nur aus dem Blick zurück bis zum 24. April 1915 und auf das, was danach geschehen war, als gäbe es nichts anderes in der vieltausendjährigen Geschichte des Volkes. Der aghet verdunkelte den Alltag eines jeden Armeniers, warum? Weil der aghet Teil jeder armenischen Biografie war, weil die verfluchten Türken ihre Taten leugneten, in allen Ländern Einfluss nahmen, bis in die Provinzen hinein, bis zum kleinsten Theater. Auf das NATO-Mitglied musste man Rücksicht nehmen. So war man den Türken ein zweites Mal ausgeliefert. Man war gefangen und wartete, bis sie Reue zeigen würden, sich vielleicht gar entschuldigten.

Ohne Reue kein Verzeihen, stimmt das?

Was sollte er in Armenien?

Wo würde er dort ein Dach über dem Kopf finden? Wovon sich Essen kaufen? Bis vor drei Tagen hatte er in der Doppelhaushälfte gewohnt, die man ihm zugewiesen hatte, mit Antaram und Lewon, dem Jüngsten. Und nun befand er sich in Abschiebehaft in Hannover, in der Benkendorffstraße 32. Das hatte man ihm so gesagt.

Achtmal reichte die Schnur um das Handgelenk.

Antaram war schweigsam gewesen an diesem letzten Abend, von dem sie nicht gewusst hatten, dass es der letzte sein würde. Die Vorladung für den nächsten Tag hatte sie bedrückt.

»Mach dir keine Sorgen«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, als sie nebeneinander im Bett gelegen hatten. »Es wird alles gut gehen.«

Wie es bisher in all den Jahren, seit sie hier lebten, mehr als zehn waren es, immer gut gegangen war. Wenn man freundlich war, die Sprache lernte und einen guten Leumund hatte, dann würde es schon klappen. Er hatte ihr Nachthemd aufgeschoben und seine Hand auf ihre Brust gelegt. Das tat er immer noch gern, obwohl er achtundfünfzig war und sie fünfundfünfzig. Vier Kinder hatten sie großgezogen und mit jedem Kind waren ihre Brüste schöner geworden. So viel Milch, die daraus geflossen war!

Jezekiel Hakobyan öffnete die Augen. Er ließ die Schnur vom Handgelenk rollen. Jetzt hielt er nur noch den Stecker in der Hand, während der Kocher über dem Linoleumboden pendelte. Auf einen Meter dreißig schätzte er das Kabel. Er schwenkte den Kocher hin und her, drehte sich, hob die Hand, zog den Kopf ein und ließ das Gerät an der Schnur kreisen, erst langsam und dann schneller, noch schneller. Bis er die Schnur losließ.

Als die Beamten das Zimmer stürmten, lag er vor dem Doppelbett und weinte in seine Arme. Sein Gesicht konnten sie nicht sehen, nur die weißen Haare.

»Herr Hakobyan … stehen Sie auf.«

Er schluchzte.

»Stehen Sie auf bitte.«

Seine Schultern zuckten.

»Sie müssen jetzt aufstehen.«

Er wimmerte.

»Bitte, Herr Hakobyan …«

Er zog den Rotz hoch.

»So kommen Sie doch.«

Einer der Beamten berührte ihn an der Schulter. Hakobyan wandte sich blitzschnell um und wollte zuschlagen, aber das gelang ihm nicht, denn der zweite Beamte drehte ihm beide Arme auf den Rücken, während sich der dritte auf seine Beine setzte und seine strampelnden Füße hielt. Hakobyan wand sich mit plötzlicher Kraft, schrie, schnappte um sich, schlug mit dem Kopf auf den Boden. Es wurde Alarm geschlagen und erst, als zwei weitere Beamte herbeigeeilt waren, zwei sich auf ihn setzten und die anderen drei seine Gliedmaßen fixierten, gelang es ihnen, Hakobyan stillzulegen. So hielten sie ihn eine Weile, alle sechs schwer atmend, Hakobyan zwischen den Atemzügen wimmernd, den Rotz hochziehend, armenische Worte wiederholend.

Zuletzt, als sie sich seiner sicher glaubten, fragte einer: »Was ist los, Hakobyan?«

»Ich will mit meiner Frau sprechen.«

»Das geht jetzt nicht.«

»Ich muss mit meiner Frau sprechen.«

»Besuchszeit ist längst vorbei, das wissen Sie, Herr Hakobyan.«

»Ich muss mit meiner Frau sprechen«, weinte Jezekiel. »Ich muss, ich muss, ich muss …«

»Das geht jetzt nicht, Herr Hakobyan, bitte …«

Jezekiel ruckte und zuckte weiter unter den Fäusten der Beamten. »Polizei, Polizei!«, rief er.

»Bitte, Herr Hakobyan, Sie sind in Abschiebehaft, die Polizei kommt nicht.«

»Aber irgendjemand muss mir helfen, jemand muss … Ich will mit meiner Frau sprechen, nur mit meiner Frau sprechen will ich.«

Und immer so hin und her.

Irgendwann gelang es den Beamten, Jezekiel Hakobyan zu beruhigen, auch mithilfe des Arztes, der ihm eine Spritze gab. Drei von ihnen gingen wieder, danach entschuldigte sich Jezekiel bei den beiden anderen, in seinem noch etwas holprigen, doch gut verständlichen Deutsch, er sei ein wenig durcheinander, die Abschiebung, die Familie, die Ungewissheit, sein Enkelkind, er wisse nicht, wann er sie wiedersehen werde, ob er sie überhaupt je wiedersehen würde, man habe es so gut gehabt all die Jahre hier in Deutschland, er habe bei der Stadt gearbeitet, etwas getan für die Unterstützung, die er und die Seinen empfangen hätten, Laub gefegt, Rabatten gejätet, Büsche beschnitten, die Verkehrsinseln hergerichtet, schön hätten die ausgesehen, ob sie den Klatschmohn gesehen hätten, ach, nein, das könnten die Herren ja nicht wissen, sie würden Jesteburg nicht kennen, er sei ja hier in Hannover, in Abschiebehaft sei er, schon drei Tage lang, wie lang drei Tage sein könnten, wo sonst die Zeit wie im Fluge vergehe, drei Tage, an denen er Minute um Minute und Stunde um Stunde immer die gleichen Fragen und Gedanken im Kopf habe, die Abschiebung, die Familie, die Ungewissheit, sein Enkelkind, er wisse nicht, wann er sie wiedersehen werde, ob er überhaupt, ach, und wovon er sein Brot kaufen solle, wenn er fort sei, in dem Land, dessen Sprache er spreche, in dem er aber nie gelebt habe, ob die Herren wüssten, wo seine Heimat sei? Nein? Ach, wenn er an die Heimat denke, an das Dorf Gyal, das werde er nie wiedersehen, nie, und ob er seine Familie …

Und Jezekiel Hakobyan stemmte sich noch einmal gegen die Hände, die seine Arme hielten, nicht mehr so fest wie vorhin, als man ihn niedergeworfen hatte, es war eine sympathische Berührung, beinahe herzlich, wie ein Freund des Freundes Arm drückte, denn Jezekiel war ein sanfter Mann, der sich andere schnell zum Freund machen konnte. Dennoch war der Griff streng, beamtenhaft, verordnungsmäßig, abschiebegerecht, vollzugskräftig.

Und dann schlief Jezekiel Hakobyan ein, der armenische Mann, der nach Armenien abgeschoben werden sollte, vielleicht morgen schon, er murmelte unverständliche Worte, seine Lippen schlossen sich. Die Beamten, die ihn gehalten hatten, schafften ihn hinüber in eine Einzelzelle, standen seufzend auf, warfen einen mitleidigen Blick auf das bronzefarbene Schlafgesicht und verließen ihn auf Zehenspitzen. Diese Nacht würden sie ihn bewachen, in der Zelle Nummer 58, ein Licht würde brennen. Jede Viertelstunde würde einer der Beamten einen Blick durch das Guckloch werfen, wie es Vorschrift war.

»Gyal«, sagte der eine, nachdem sie wieder in ihrem Dienstzimmer waren. »Oder wie das heißt. Kennst du das? Weißt du vielleicht, wo das liegt?«

»Nee«, antwortete der andere. »Irgendein Kaff in Armenien vermutlich. Wie schreibt sich das?«

»Keine Ahnung. Und wo liegt Armenien?«

»Keine Ahnung. Irgendwo im Osten, da, wo sie alle verrückt sind.«

»Irgendwie tut er mir leid.«

»Mir auch. Eben, aber jetzt nicht mehr. Man muss seine private Meinung beiseitepacken. Der Mann ist ein Wirtschaftsflüchtling. Von dem lass ich mir den bescheuerten Freitagabend im Dienst nicht vermiesen! Sein Asylantrag ist abgelehnt. Und das nicht erst seit gestern. Wo kommen wir hin, wenn wir alle Abgelehnten hierbehalten? Das Boot ist voll! Und die Gesetze, wozu haben wir die, wenn wir sie nicht vollziehen? Das verdirbt die Moral! Dann sagt jeder, wieso soll ich mich an die Gesetze halten, Vater Staat macht’s auch nicht! Der Mann muss ausreisen! Er will aber nicht ausreisen. Also muss er ausgereist werden! Und wir sorgen mit dafür, hier in Hannover, okay? So einfach ist das.«

»Und seine Frau? Bleibt die hier?«

»Sieht so aus. Vorläufig jedenfalls.«

»Schlimm.«

»Wieso schlimm? Die kann mitfahren, wenn sie will. Wer weiß, vielleicht ist die sogar froh, dass sie den Mann auf die Art billig loswird?«

»Ja, aber …«

»Hast du mal was davon gehört, dass in Armenien Armenier verfolgt werden?«

»Nee, natürlich nicht.«

»Na also. Ein Glück, dass ich morgen und Sonntag freihab. Und Montag sind wir ihn los.«

»Montag fliegt er?«

»Montag fliegt er. Raus fliegt er.«

4

Kaum hatte Schlüter seinen Hintern dem maroden Bürostuhl anvertraut, klingelte das Telefon.

»Ja?«

»Da ist ein Herr von der Polizei dran«, sagte Angela. »Ferber, glaube ich, heißt er.«

»Und? Was will er?«

»Mit Ihnen sprechen.«

»Haha, das ist ja wohl klar, in welcher Sache, meine ich?«

»Haben Sie schlechte Laune?«

»Ja!«

»Bin ich schuld?«

»Nein. Also: In welcher Sache?«

»Hat er nicht gesagt. Wollte er nur Ihnen sagen.«

Warum störte ihn diese Sorte Mensch, die nicht mit dem Personal sprechen wollte, damit man die Akte vorgelegt bekam und gleich zur Sache kommen konnte? Und das am Montagmorgen, bevor die Woche angefangen hatte! Wichtigtuer, unter deren Würde es war, mit Subalternen zu sprechen. Das waren früher die Herren, die ihre Knechte mit »Er« angesprochen hatten, mit abgewandtem Gesicht und vorstehendem Bauch, den zwei Hosenträger überquerten, darin die Daumen eingehakt.

»Polizei, sagten Sie?«

»Sagte ich.« Angela war auch schon auf hundert.

Schlüter fragte sich, ob er etwas verbrochen haben könnte. Immer wenn er es mit der Polizei zu tun hatte, sogar, wenn er nur einen Polizisten sah, stellte er sich diese Frage. War er zu schnell gefahren? Hatte ihn womöglich jemand wegen Verkehrsunfallflucht angezeigt? Neulich hatte er beim Einparken den Seitenspiegel des Fahrzeugs eingeklappt, an dem er rückwärts vorbeigefahren war. Ob es das war? Oder ob er sich für die Sünden seines Vaters schämte, die der unter Adolf auf sich geladen hatte?

»Geben Sie her.«

Es knackte in der Leitung.

»Schlüter.«

»Kriminalhauptkommissar Ferber hier, Kripo Hemmstedt. Haben Sie Zeitung gelesen?«

»Krimi… was?«

»Kriminalhauptkommissar. Kriminalhauptkommissar Ferber.«

»Ach so. Und womit kann ich dienen?«

»Haben Sie die Zeitung gelesen?«

»Welche?«

»Die von heute.«

»Ich meinte: welche Zeitung.«

»Sagte ich doch schon, die von heute.«

»Wie viele Zeitungen gibt’s in der Republik?«

»Ach so, das meinen Sie. Das Hemmstedter Tageblatt natürlich.«

»Habe ich abbestellt. Zu viele Schützenfeste. Zu viele Orang-Utans.«

»Wie? Affen? In der Zeitung?«

»Das sind Fußballspieler, die ein Tor geschossen haben.«

»Ach so. Ich dachte …«

»Außerdem hätte ich sie auch nicht gelesen, wenn ich sie noch abonniert hätte. Kommt bei uns draußen mit der Post. Nachmittags um drei. Weshalb rufen Sie mich an?«

»Wir haben in einer Ermittlungssache einige Fragen an Sie. Wir wollten Sie bitten …«

»Wieso?«

»Ein Mann ist erstochen worden. An Sie haben wir Fragen in diesem Zusammenhang.«

»Warum das denn? Was habe ich damit zu tun?« Ein schwarzer Klumpen hatte sich in Schlüters Eingeweiden gebildet.

»Das kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen, Herr Schlüter. Können Sie vorbeikommen? Herr Staschinsky aus meiner Kommission möchte mit Ihnen sprechen.«

Staschinsky?

»Welcher Staschinsky?«

»Spielt das eine Rolle? Wir haben nur einen und der reicht uns vollauf.«

Also der. Schlüter hatte den Kripomann Klaus Staschinsky vor Jahren kennengelernt, im Zusammenhang mit der Verhaftung des Bauern August von Borstel im Altenmoor. Damals war Staschinsky gerade von Bremervörde nach Hemmstedt versetzt worden, weil keiner der Bremervörder Kollegen mehr mit ihm hatte zusammenarbeiten wollen. Oder, wie Staschinsky es ausdrückte, keiner von ihnen Arsch genug in der Hose hatte, seine berechtigten Beschwerden zu unterstützen. Zivilcourage, so Staschinsky, sei auch bei der Polizei nicht vonnöten, schließlich sei man verbeamtet. Er war der einzige Polizist im gehobenen Dienst, der nach mehr als fünfzehn Jahren immer noch Kriminalkommissar und nicht zum Kriminaloberkommissar befördert worden war, weil, wie Staschinsky damals auf der gemeinsamen Fahrt nach Hemmstedt nicht ohne Stolz erläutert hatte, »weil ich meine Klappe nicht halten kann«. Seither waren sie sich immer wieder mal begegnet, im Gerichtssaal, in Zivil in der Stadt und sogar einige Male auf einen Kaffee. Seit Schlüter in Hollenfleth wohnte, zwanzig Kilometer entfernt im Moor, und vor allem, seit er keine Strafsachen mehr machte, waren die Begegnungen seltener geworden. Schlüter erinnerte sich, dass er Staschinsky damals, als er abgerissen und traumatisiert aus Anatolien zurückgekehrt war, bei einer Tasse Kaffee in der Stadt sein Herz ausgeschüttet hatte. Der Mann musste jetzt Mitte fünfzig sein. Wann hatte er ihn das letzte Mal gesehen? Wie viele Jahre? Fünf? Ob er nun Zeuge sein sollte oder nicht, einen Kaffee mit Staschinsky war es wert.

»Ich komme sofort.«

Er hatte ohnehin keine Lust mehr zum Arbeiten. Eine böse Ahnung war in ihm erwacht. Der Gerechte würde die Stellung halten. Er hatte sicher aufgetankt am Wochenende und steckte vermutlich voller Schaffenskraft. Angela würde die Anrufe abwimmeln. Für einen kurzen Moment fühlte sich Schlüter frei und ledig aller Sorgen, ein Gefühl, auf das er achten musste, da es so viel wie Glück bedeutete, das niemals ein Dauerzustand sein konnte, weil es sonst der Gesundheit schadete. Alles ist eine Frage des Maßes, sagte Paracelsus.

Schlüter griff sich seine Jacke, gab Angela und dem Gerechten Bescheid, dass er eine Weile fort sei, und verließ das Büro. Er überlegte kurz, ob er zu Fuß gehen sollte, dann wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung, zum Hafen, da er jenseits davon, hinter dem neuen Kino, seinen Wagen abgestellt hatte.

Wer in der Stadt vom Norden in den Süden wollte, musste über die Bahnhofsbrücke fahren. Jedes Mal ärgerte sich Schlüter über dieses kleinstädtische Wahrzeichen des Autowahns. Kurz darauf rollte er mit seinem alten japanischen Wagen die Seestraße hinab und bog durch das Tor auf den mit Klinkern gepflasterten Parkplatz des Polizeikommissariats Hemmstedt, das in dieser Wohnstraße fünfhundert Meter vom Bahnhof entfernt in einem monströsen roten Backsteingebäude untergebracht war.

Im Krieg hatte das Bauwerk als Krankenhaus gedient, Schlüter hatte das damals, im Zusammenhang mit der Prozesssache Kaczek, einmal nachgelesen. Und hinter dem Backsteinriesen hatte es zu Kriegszeiten eine gesonderte Baracke für die Zwangsarbeiter gegeben, in der diese behandelt