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Paul Walz

Das Traummosaik

Thriller

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/i3d (Wendeltreppe), Anna Golant (Muster)

Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat, Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-89425-643-2

1. Auflage 2020

Paul Walz, geboren 1964 in Trier, durchlief eine Banklehre und schloss ein Studium der Betriebswirtschaftslehre in Trier und Lyon an. Heute lehrt er als Professor an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.

 

Für Bärbel

Prolog

Der Tag, an dem Sebastian Finkler glaubte, sterben zu müssen, war wie zum Hohn sonnig und warm.

»Der kommt nicht mehr«, quakte Güdners Stimme aus dem Headset.

Finkler konnte den Passat weiter vorne am Straßenrand parken sehen. »Warte ab.«

Gegenüber auf der anderen Straßenseite langweilte sich eine platingefärbte Friseurin durch den Vormittag. Sie stand in einem viel zu engen T-Shirt in der Ladentür, eine Zigarette hing an ihren roten Lippen, als das dunkle Brummen eines Motors sie aufhorchen ließ.

Ein großes Baustellenfahrzeug, über und über mit Dreck verkrustet, bog in die Straße ein und nahm Tempo auf. Ein höherer Gang wurde eingelegt und ruckartig beschleunigte das Ungetüm.

Der Lkw passte nicht in die Straße, war wie ein Fremdkörper, und noch bevor er unvermittelt vielleicht hundert Meter entfernt auf den Bürgersteig gesteuert wurde, spürte Finkler die Gefahr, wusste, dass es danebengegangen war. Er sah im Augenwinkel, wie Güdner aus dem Auto sprang und hektisch zu winken begann.

»Lauf!«

Finkler hätte das Headset nicht gebraucht, um den Ruf zu hören. Als ob er das nicht selbst wüsste.

Das Baustellenfahrzeug raste gegen eine Laterne, die unter der Wucht des Aufpralls wie ein Strohhalm umknickte und mit zersplitterndem Glas auf die Straße schlug. Wieder heulte der Motor auf und das Ungetüm schrammte an einer Hauswand entlang, immer noch auf ihn zu. Finkler blieb ruhig. Er spannte seine Muskeln an und checkte den Fluchtweg, und ja, er wäre sicherlich entkommen, wenn da nicht das Mädchen aufgetaucht wäre.

Ohne die Situation zu erfassen, radelte die zierliche Gestalt auf dem Bürgersteig, denn in ihren Ohren steckten Kopfhörer. Der Blick ging verträumt ins Leere.

Nun schrie Finkler, doch sie sah und hörte ihn nicht.

Er rannte los. Nur ein Gedanke brannte in ihm: Nicht wieder ein Mädchen, das auf einem dreckigen Gehweg starb, nicht schon wieder.

Zwanzig Meter. Fünfzehn Meter. Seine Schritte wurden länger, sein Puls schlug schnell, aber gleichmäßig und so flog er dahin, dem sicheren Tod entgegen.

Zehn Meter. Er registrierte die Pflastersteine unter seinen Füßen, nahm wahr, wie die brüllende Schnauze des Lkws breiter und höher wurde und über dem Kind aufragte wie das Maul eines Raubtiers. Begrenzungspfosten wurden aus ihrer Verankerung gerissen und segelten davon wie Kegel. Fünf Meter. Das Mädchen blickte auf und sah Finklers Gesicht, erkannte, dass etwas Schlimmes passieren würde.

Sie riss den Lenker in der Sekunde herum, als er sie erreichte. Seine Energie katapultierte das Rad davon. Er registrierte flüchtig, dass es blau war, las den Schriftzug Koga Miyata, spürte ihren weichen Rücken, der sich unter seinem Ansturm bog und dann versteifte, dagegenhielt. Dann war sie fort, flog dahin, wohin auch immer es sie trieb. Es war ihm egal.

Einen winzigen Augenblick lang jubelte er. Das Rennen war gewonnen. Dann umwirbelten ihn Wolken aus Rost und Dreck. Doch er nahm sie nicht wahr, sah nicht mehr die Beule im Lack, roch keine Abgase und kein Öl mehr. Die Gewissheit, nun zu sterben, ließ nichts anderem Raum.

Kurz bevor ihn das Maul des Lasters verschlang, riss auch ihn etwas davon. Das Letzte, was in sein Bewusstsein vordrang, war Güdners zuckender Körper, der von den Rädern überrollt wurde.

1

Sechs Monate später: Montag, 14. November

Das elektrische Summen des Öffners war wie eine Befreiung. Finkler drückte die Tür auf und verließ rasch die Schleuse, froh darüber, den Blicken des Beamten zu entkommen, der ihn eingelassen hatte. Er wusste, wie er aussah.

Alleine im Treppenhaus schloss er die Augen und sog den Geruch des Präsidiums in seine Nase. Irgendwoher hörte er das dunkle Brummen eines Elektromotors, eine Bürotür öffnete sich und schlug wieder zu, ließ kurz Gesprächsfetzen und ein helles Lachen auf den Gang dringen. Dann war da nur das undefinierte Gemurmel eines geschäftigen Bürohauses. Er spürte so etwas wie Freude, doch noch deutlicher Fremdheit. So mussten sich Seeleute früher gefühlt haben, die nach einem heftigen Sturm wohlbehalten im heimatlichen Hafen einliefen und erstaunt feststellten, dass sich nichts geändert hatte – außer vielleicht sie selbst.

Als Finkler die Treppe nach oben blickte, zögerte er kurz. Sechzig Stufen. Eine Kleinigkeit, doch nicht unbedingt für ihn, seinen Körper, nicht für das bisschen, das übrig geblieben war. Er ergriff das Geländer und nahm ohne Pause eine Stufe nach der anderen, ignorierte, wie sein Puls zu traben und schließlich zu galoppieren begann.

Als er kaum die Hälfte hinter sich gebracht hatte, ging es nicht mehr. Er blieb stehen und rang nach Atem. Der Schweiß auf seiner Stirn fühlte sich unangenehm kalt an. Er keuchte und starrte auf den Granit zu seinen Füßen. Es war ihm früher nie aufgefallen, dass weiße Einschlüsse das dunkelgraue Material durchzogen wie ein Geflecht aus Arterien und Kapillaren.

Jemand ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Schließlich mühte er sich weiter.

Die vergangenen Tage war er angespannt gewesen. Er hatte kaum geschlafen und noch weniger gegessen. Nur noch wenige Stufen fehlten, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Er fuhr zusammen.

»Da bist du ja.«

Daniel Bender lächelte ihn an. Er war so ziemlich der einzige der Kollegen, den Finkler vermisst hatte, jetzt, da Güdner nicht mehr da war.

Bender war sichtlich damit überfordert, was er mit seinen Händen zur Begrüßung machen sollte, schütteln oder umarmen, und klopfte ihm schließlich, sozusagen als Kompromiss, auf die Schulter.

»Warum nimmst du nicht den Aufzug?«

»Training für den Fitnesstest.«

»Sieht gut aus, dynamisch.«

Ein Grinsen teilte Benders Gesicht, das wie immer blass und unausgeschlafen wirkte.

Seine Freundlichkeit tat gut.

»Du solltest mich mal im Wald erleben.«

»Marathonmann?« Wieder grinste Bender. »Komm, wir gehen nach oben.«

Finkler musste sich anstrengen, um mitzuhalten. Obwohl sein Kollege schlich und dabei angeregt auf ihn einredete, forderten die wenigen verbleibenden Stufen alles von ihm. Als sie oben angekommen waren, ließ Bender sich nichts anmerken und schlenderte plaudernd über den mit Linoleum ausgelegten Flur in Richtung Finklers Büro.

Abteilung III beschäftigte nur eine Handvoll Beamte, die alle darauf spezialisiert waren, der organisierten Kriminalität zu Leibe zu rücken. Hier hatte sich scheinbar nichts verändert. Wände, die einen Anstrich vertragen hätten, Türrahmen, die von aneckenden Aktenwagen beschädigt waren, armselige Pflanzen, die schon auf den Fensterbänken gestanden hatten, bevor Finkler ausgefallen war.

Eine der Türen stand offen. Kommissar Matthias Schäfer, der Glatzkopf, saß wie immer vor dem Bildschirm und analysierte die Ergebnisse irgendwelcher Spurenanalysen. Er nickte Finkler mit zurückhaltendem Lächeln zu.

»Wieder da?«

Finkler nickte zurück und Schäfer widmete sich ohne weitere Fragen wieder seiner Arbeit. Mehr nicht, nach sechs Monaten Koma und Reha. Finkler schluckte.

»Ich muss dich vorwarnen«, sagte Bender in einem ernsteren Ton, »in deinem Büro sitzt ein Neuer. Er …«

Finkler blieb konsterniert stehen.

»Wie bitte? Aber das …«

Er brach ab.

»Wir brauchten Ersatz, die Arbeit macht sich nicht von selbst und Güdner kommt nicht wieder.«

Finkler versuchte, die Fassung wiederzuerlangen. Aber natürlich, die Welt drehte sich weiter und leere Schreibtische wurden wieder besetzt.

»Was ist mit Achims Sachen?«

»Wir haben alles Private an seine Frau gegeben.«

Finkler schwieg. Als sie vor seinem Büro angekommen waren, schloss er seine Hand um den Griff, nickte Bender zu und gab ihm zu verstehen, dass er das jetzt alleine machen würde. Bender nickte und legte ihm ermutigend die Hand auf die Schulter.

»Gut, dass du es bis hierhin geschafft hast. Den Rest kriegst du auch noch gebacken.«

Finkler wartete, bis der Kollege um die Ecke verschwunden war. Das letzte Mal, dass er an dieser Tür gestanden hatte, war an einem hellen Maitag gewesen und Güdner hatte von den Plänen fürs kommende Wochenende erzählt: eine Familienwanderung im Taunus. Mittlerweile lagen Lebkuchen in den Regalen und die Läden bereiteten sich auf das Weihnachtsgeschäft vor. Und Güdner war tot.

Irgendwann merkte Finkler, dass er nicht mehr wusste, wie lange er schon reglos hier gestanden hatte. Er holte tief Luft – dann ging er hinein.

Das Büro schien verändert. Güdners Unordnung war verschwunden und an seinem Schreibtisch saß der Neue. Er sprang auf und reichte Finkler die Hand. »Lukas Schulz.«

Der neue Kollege war älter, als Finkler erwartet hatte, kein Anfänger mehr und fast ebenso groß wie er selbst. Nun sah er Finkler mit geradem Blick aus blauen Augen an und drückte ihm fest die Hand.

»Tut mir leid, dass ich Ihr Büro belagere!«

»Nicht doch. Was können Sie dafür?«

»Ich habe mich hierher versetzen lassen.« Schulz lächelte vorsichtig und strich sich durch die hellen Haare. »Einen Monat nach Ihrem Unfall.«

Finkler wusste nicht, was er antworten sollte. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, schaltete den Bildschirm ein und kam nicht mehr weiter.

In seinem Kopf herrschte die völlige Leere, die ihn seit dem Erwachen aus dem Koma begleitete. Es war, als ob er zum ersten Mal mit diesem System arbeiten würde. Ziellos tippte er auf der Tastatur herum, um so zu tun, als ob er weiterkäme, ohne das Geringste zu erreichen.

»Oben rechts in der Ecke auf das kleine Quadrat, danach Ihre E-Mail-Adresse und das neue Passwort, das Sie in dem Umschlag dort finden.«

Ihre Blicke trafen sich einen Augenblick und Finkler hoffte, dass Schulz nicht erfasste, wo das Problem wirklich lag. Er nickte und griff nach dem Umschlag, während er seinen Kollegen musterte. Ein scharfsinniger Mann, er würde ihn im Auge behalten.

***

Als Finkler ins Vorzimmer des Chefs kam, strahlte Carla Hesse.

»Da ist er ja. Unser Held!«

Finkler hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. Gleichzeitig musste er ein Grinsen über ihr knallbuntes Outfit unterdrücken, dessen Farbkombination er nicht einmal an Karneval riskiert hätte. Aber eigentlich passte es gut zu ihr, genauso wie ihre rot gefärbten Haare. Carla hatte nie geheiratet, vielleicht, weil sie jahrelang ihre Mutter gepflegt hatte. Seit deren Tod konzentrierte sie ihre überschüssige Energie auf ihre getigerte Katze. Und auf den Zusammenhalt der Abteilung. Ohne ihr Zutun würden die Geburtstage vergessen, gäbe es keine Weihnachtsfeier und wohl auch keinen Betriebsausflug. Wenn man ein Problem hatte oder eine Information brauchte, war man bei ihr genau richtig. Er fühlte sich zum ersten Mal an diesem Morgen wirklich zurückgekehrt.

»Das mit Güdner hat uns alle schwer getroffen.« Es entstand eine Pause, in der sich kurz ein Schatten über ihr Gesicht legte, doch dann lächelte sie wieder. »Und deshalb ist es umso schöner, Sie wieder im Dienst zu sehen.«

Es klang wie ein Abschlusssatz, jedoch machte Carla Hesse keine Anstalten, ihn über die Gegensprechanlage beim Chef zu melden. Vielmehr begutachtete sie ohne jede Scheu die Stelle, an der die Ärzte Finkler ein Stück der Schädelplatte herausgeschnitten hatten, um den Druck der Blutung zu senken, und an der jetzt wulstiges Gewebe breit die kurz geschnittenen Haare durchfurchte.

»Darf ich ehrlich sein? Ihr Kopf sieht furchtbar aus.«

Finkler war von vorneherein klar gewesen, dass er bei Carla Hesse nicht so einfach davonkommen würde wie bei Bender und Schulz, die ihn nicht mit Nachfragen gelöchert hatten. Carlas Währung waren Informationen und die wollte sie jetzt von ihm bekommen. Er tat ihr den Gefallen, nahm dankend einen Kaffee und erzählte, was er sich während der Reha als Geschichte für solche Momente zurechtgelegt hatte. Er hoffte, dass das Wenige, das er preisgab, genug sein würde, um glaubwürdig zu bleiben und keine Nachfragen zu provozieren, die er nicht beantworten wollte.

Nachdem er ihr von seinem schweren Weg zurück ins Leben, seiner zweiten Geburt, wie er es nannte, berichtet und ihr gezeigt hatte, wie mühsam sich wochenlang wenig bewegte Sehnen wieder dehnten, wie schwer sich Worte nach einem Koma wiederfanden, machte er eine kurze Pause und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Eine Kunstpause vor seinen Abschlusssätzen, die sich bisher bei allen als sehr wirkungsvoll erwiesen hatte.

»Im Prinzip hatte ich Glück. Nach der Glasgow-Koma-Skala gehöre ich zu einer ganz kleinen Gruppe von Patienten, die sich davon wirklich gut erholen.« Er hätte die Worte inzwischen im Schlaf herunterbeten können, so oft hatte er sie von den Ärzten gehört. »Zwischen dreißig und vierzig Prozent schaffen es nicht, weitere zehn bleiben geistig so beschädigt, dass sie im Wachkoma dahinvegetieren. Ich bin einer von Wenigen, die wirklich wieder fit werden, eine Ausnahme.«

Es entstand eine weitere Pause, in der Carla ihn mitfühlend anblickte.

»Was ist mit dem Lkw-Fahrer?«, fragte sie schließlich.

Finkler schüttelte den Kopf. »Nein, die Kollegen haben nichts in der Hand.« Und obwohl ihm klar war, dass sie sicherlich auf Stand war, ergänzte er: »Nach wie vor weiß keiner, wer mich und Achim überfahren hat.«

»Ich hoffe, dass man den Dreckskerl irgendwann findet«, sagte Carla Hesse schließlich und drückte den Knopf der Gegensprechanlage, um ihn bei seinem Chef anzumelden.

***

Procks Büro war groß und wie immer unaufgeräumt. Der kleine Besprechungstisch, an den der Chef Finkler bat, war vollgestapelt mit Akten, die Prock nun umständlich auf den Boden legte, während er sich laufend die langen Haarsträhnen über seine fortschreitende Halbglatze strich. Er hatte ein rundes Gesicht, an dessen Seiten mit der Zeit Fettpolster so wahllos entstanden waren, als hätten sich kleine Kinder mäßig erfolgreich darum bemüht, sie zu modellieren. Nicht umsonst nannte ihn die Belegschaft hinter vorgehaltener Hand »Französische Bulldogge«.

Finkler mochte Prock. In seinen Augen war er ein guter Ermittler und außerdem kein schlechter Vorgesetzter. Mit Prock hatte er immer gerne zusammengearbeitet und er bemerkte, wie ruhig er in der Atmosphäre dieses Büros wurde. Hier hatten sie gemeinsam heikle, aber erfolgreiche Entscheidungen getroffen und ihre Erfolge gefeiert.

Als Prock den Tisch endlich freibekommen hatte, nahmen sie Platz. Prock blickte Finkler in die Augen und nestelte an seiner Krawatte.

»Wie geht es dir?« Er hatte eine leicht hechelnde Stimme und stemmte den kurzen Körper in seinem Stuhl hin und her.

»Alles auf dem Weg. Nur der Körper braucht noch ein wenig.«

Prock grunzte zustimmend. Dann schwieg er und begann, einen unsichtbaren Fleck von der Platte zu wischen. Finkler beschlich ein ungutes Gefühl. Was war los? Als die Pause so lang wurde, dass es ihn peinlich berührte, versuchte er das Gespräch voranzutreiben.

»Wo willst du mich einsetzen?«

Prock blickte zum Fenster und räusperte sich.

»Ich werde ehrlich mit dir sein. Mir wäre es lieber gewesen, man hätte dich versetzt.« Prock hob die Hände, als er Finklers Überraschung sah. »Das hat nichts mit dir zu tun. Aber wo soll ich mit dir hin?«

Finkler senkte den Blick und sah auf die verkratzte Oberfläche des Tischs. Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Kurt, ich kann wieder der werden, der ich vor dem Unfall war!«

Prock zog die Augenbrauen in die Höhe. »Machen wir uns nichts vor: Das wird sehr lange dauern. Eine Ewigkeit. Wenn es dir überhaupt gelingt.«

»Wenn es dir so gegen den Strich geht, dass ich wieder hier bin – warum hast du mich überhaupt zurückgeholt?«

»Vizepräsident Bierbrenner, der alte Freund deines Vaters, ist dagegen, dich zu versetzen. Es soll nicht so aussehen, als ob du dafür bestraft würdest, ein Menschenleben gerettet zu haben. Wahrscheinlich fürchtet er sich vor der Presse. Oder vor dem Russen, dessen Tochter du vor dem Lkw bewahrt hast.« Prock hob die Hände. Plötzlich war seine Stimme kalt. »Mich kotzt das Ganze an. Das ist nicht persönlich gemeint.«

»Spar dir das Geschwätz.« Finklers Blick bohrte sich in Procks Augen. »Was also?«

»Also gut: Wir sind personell am Limit. Ich kann mir einfach niemanden leisten, der nicht voll einsatzfähig ist. Mir fehlt jemand für die Ermittlungsarbeit. Was mir nicht fehlt, ist ein Sanierungsfall.« Prock schenkte sich Kaffee ein und schlug einen geschäftsmäßigen Ton an. »Was soll’s, ich kann es ohnehin nicht ändern. Also: Durch deinen Ausfall und Achims Tod sind wir in den letzten Monaten im Rosetti-Fall kaum vorangekommen. Ich habe Bender und Schulz drangesetzt, die beiden sind aus euren Aufzeichnungen aber nicht schlau geworden. Deine Rückkehr könnte also wenigstens hier etwas Gutes haben. Es gibt Lücken, die nur du füllen kannst.«

Prock sah ihn an wie ein lästiges Problem. »Also setz dich an die Akten und leg los. Wenn du so weit bist, machen wir eine Besprechung in der großen Runde, da sehen wir dann weiter.«

***

Der Abend brach früh herein. Schon gegen sechs Uhr fiel die Dämmerung über die Stadt und kaum eine halbe Stunde später herrschte draußen vor den Gebäuden dunkle Nacht.

Finkler war allein im Büro. Lukas Schulz war nicht mehr an seinem Schreibtisch gewesen, als Finkler von Prock zurückgekommen war, und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Auch Daniel hatte sich nicht mehr blicken lassen. Finkler hatte genug Zeit gehabt, die Akten des letzten großen Falls zu studieren, den er und Güdner gemeinsam bearbeitet hatten. Jetzt stand er am Fenster und sah geistesabwesend auf die Lichtkegel, die von den Scheinwerfern in den Dunst projiziert wurden. Die Menschen waren auf dem Heimweg. Die Eschersheimer Landstraße war schon in beiden Richtungen verstopft und er wusste, dass es auf Miquel- und Adickesallee nicht besser sein würde.

Es war Zeit, den Fakten ins Auge zu sehen: Sein Gedächtnisverlust war auch hier so schlimm und so vollkommen, wie er es befürchtet hatte.

Sein Handy klingelte. Es war Melanie. Er lächelte müde. Sie war bei ihm geblieben, hatte sein Koma auch überstehen müssen, ihn bei der Reha unterstützt, doch nun zeigten sich Risse in ihrer Beziehung.

»Wie war der erste Tag?«

»Durchwachsen. Alles ist weg.«

»Wie?«

»Na, meine Erinnerungen an den Fall. Nichts ist mehr da.«

Sie seufzte. »Das war doch klar. Du hast es doch schon vorher nicht mehr zusammenbekommen. Hast du Prock die Wahrheit gesagt?«

Sie hatte ihm von Anfang an davon abgeraten, jetzt schon ins Präsidium zurückzukehren. Sie hielt ihn noch nicht für stabil genug. Und als sie gemerkt hatte, dass er nicht umzustimmen war, hatte sie versucht, ihm das Versprechen abzuringen, dass er Prock wegen seiner Erinnerungslücken reinen Wein einschenkte.

»Du weißt, dass das nicht geht.«

»Wieso?«

»Weil ich den Fall beenden will, weil ich hierbleiben und nicht in einem Büro versauern will. Darum!«

»Was ist daran so schlimm? Bei deinem Zustand wäre ein ruhigerer Job garantiert besser.«

»Auf gar keinen Fall!«, brauste er auf. »Ich möchte nicht schon wieder darüber diskutieren.«

Er bereute es sofort.

»Du könntest es doch bloß nicht ertragen, weniger erfolgreich zu sein als dein Vater. Oder? Ist es das?« Sie war genervt.

Finkler beobachtete den Verkehr. »Sehen wir uns heute Abend?« Er fragte, obwohl er die Antwort schon kannte.

»Das schaffe ich nicht. Ich bin noch im Büro.«

Sie schwiegen einen langen Augenblick. Unten hatte es einen leichten Auffahrunfall gegeben. Ein SUV hatte den Wagen des Vorausfahrenden berührt und nur Sekunden später standen sich die beiden Kontrahenten in der feuchten Kälte gegenüber und brüllten sich warm. Finkler begann in seinem Mantel zu schwitzen.

»Ich muss jetzt los«, sagte er schließlich. »Und danke.«

»Wofür?«

»Dass du für mich da bist.«

Keine Reaktion.

Sie legten auf.

Alles war weg. Nicht nur seine Zeit im Koma, auch die Wochen davor waren komplett ausgelöscht. Es war, als hätte er während dieser Zeit nicht gelebt. Manches hatte ihm Melanie zwar erzählt, als es ihm langsam besser ging, aber da sie beide vor dem Unfall sehr eingespannt gewesen waren, konnte sie nur wenige seiner Lücken füllen. Und auch alles, was er über den Unfall selbst wusste, hatte er den Erzählungen anderer entnommen.

Die Psychologin, die ihn seit der Reha betreute, hatte ihn immer wieder ermutigt, nicht aufzugeben, und so hatte er gehofft, dass ihm die Zeit irgendwann Stück für Stück sein Gedächtnis zurückgeben würde. Auch die Ordner hatte er heute in der Hoffnung gewälzt, irgendwo eine Information zu finden, die wie ein Funke seine Erinnerungen an den Fall zum Leben erwecken würde. Doch das Aha-Erlebnis war ausgeblieben. Selbst seine eigenen Vermerke lasen sich, als wären sie von einem Fremden verfasst worden. Über seinen letzten Fall wusste er am Ende des Tages im Wesentlichen nicht viel mehr als das, was er heute aus den Akten erfahren hatte.

Der Fokus der Ermittlungen hatte auf Maurizio Rosetti gelegen, dem Capobastone eines italienischen Clans. Dieser stand im Verdacht, ein weitverzweigtes kriminelles Netzwerk zu betreiben, das im Drogengeschäft, der Prostitution und dem illegalen Müllgeschäft immense Umsätze erwirtschaftete. Da in Deutschland die Rechtslage günstig war, günstiger zumindest als in Italien, wurden die eigenen und vermutlich auch die Gelder anderer Organisationen in gigantischem Stil hier gewaschen.

Die Annahme, die es zu beweisen galt, war das Übliche: Der Clan hatte in Mittelstädten, die ausreichend groß waren, um Anonymität zu gewährleisten, Spielhallen, Restaurants und weitere Einrichtungen übernommen, die typischerweise viel Barumsatz machten, um diese als »Waschmaschine« zu nutzen. Das saubere Geld wurde anschließend in Immobilien, Beteiligungen und sonstige legale Geschäfte investiert, sodass sich der kriminelle Teil der Organisation hinter einer legalen Fassade verstecken konnte. Alles nach außen völlig unverdächtig. Die wahre Funktion war kaum zu beweisen, solange die Organisationsmitglieder dichthielten. Geriet einer der Läden in Verdacht, wurde er augenblicklich geschlossen. Die Spuren waren schnell verwischt. Die Konten wurden aufgelöst, die Eigentümer lebten typischerweise im Ausland, ein Nachweis des wahren Geldflusses blieb praktisch unmöglich.

Die Akten zeigten, dass es ihnen damals noch nicht einmal gelungen war, das Firmengeflecht aus Bau-, Planungs-, Projekt- und Verwaltungsunternehmen, das mit dem gewaschenen Geld finanziert wurde, so weit aufzuschnüren, dass Rosetti selbst ohne Zweifel damit in Verbindung zu bringen war. Güdner schien an der Aufgabe schier verzweifelt zu sein. Probleme machten vor allem die Struktur und Verschachtelung der Firmen, die in wenigstens fünfzehn Ländern saßen, von denen die meisten keine Auskünfte erteilten. Und die Angst der Beteiligten, die sich im Dunstkreis des Syndikats befanden. Den Akten nach hatten sie lange auf der Stelle getreten, bis schließlich wie so oft der Zufall die Ermittlungen angestoßen hatte.

Einige italienische Wirte, die legal arbeiteten, sahen sich durch die Machenschaften der Rosettis zunehmend in Verruf gebracht und begannen zu opponieren. Zeugen tauchten auf und erstatteten Anzeige, was ihnen neue Ansatzpunkte geliefert hatte. Die Organisation jedoch unterdrückte die streitbaren Wirte brutal. Auch hier gab es eine Arbeitsteilung. Die Italiener machten sich nicht selbst die Finger schmutzig, sondern beauftragten Armenier, Albaner oder Kosovaren damit, für Ordnung zu sorgen. Diese bedrohten die Wirte, schlugen sie zusammen oder zündeten ihre Autos an. Schließlich wurden die Anzeigen allesamt zurückgezogen.

Und obwohl es der Polizei gelang, einen der Täter zu schnappen, ließ sich keine Verknüpfung zur Organisation herstellen. Der Schläger wurde bestraft, mehr geschah nicht. Die kurze Hoffnung auf einen Durchbruch war dahin – bis es Finkler gelungen sein musste, im Nachgang der ganzen Geschichte eine Kontaktperson aus der unmittelbaren Nähe der Familie umzudrehen.

Sein Unfall hatte die Ermittlungen praktisch auf Eis gelegt und alle schienen zu hoffen, dass es nun mit seiner Hilfe und seinem Wissen weiterging.

Was das Aufarbeiten erschwerte, waren Lücken in den Unterlagen. Zu seinem Kontakt fanden sich beispielsweise keine konkreten Angaben. Weder ein Name noch ein Foto waren zu finden. Im Normalfall wurden sie dazu angehalten, regelmäßig einen Bericht abzuliefern. Eigentlich müsste er Prock oder Daniel fragen, ob es eventuell eine ausgelagerte Fallakte gab, in der man Teile der Hauptakte zusammengefasst hatte. Doch wie sollte das gehen, ohne zuzugeben, dass er alle Erinnerungen verloren hatte? Wenn das Prock zu Ohren käme, würde er endgültig bei ihm durchfallen.

Seine Pflegemutter hatte in solchen Situationen immer einen Spruch auf Lager gehabt, der ihm nun einfiel: Schlimmer geht immer.

2

Dienstag, 15. November

Eine neue Laterne beleuchtete die Straße. Auch die Begrenzungspfosten waren erneuert und die zerfurchten Hauswände saniert worden. Nichts wies mehr darauf hin, dass sich an dieser Stelle jemals ein Unfall ereignet hatte, nichts. Nur sein Kopf war nach wie vor versehrt, innen wie außen.

Finkler war wie so oft seit dem Koma schweißgebadet mitten in der Nacht hochgeschreckt und hatte die Bilder eines Traums nicht aus dem Kopf bekommen. Er träumte seit dem Unfall so realistisch, als wäre er tatsächlich am Ort des Geschehens. Es war zum Fürchten, fühlte sich an, als verliere er den Verstand, aber nur hier durchbrach er die Leere seiner Amnesie. Nie war es jedoch so intensiv gewesen wie heute. In dieser Nacht ließen sie nicht mehr von ihm ab. Er sah die Bilder des Unfalls wie in einer Diashow immer wieder, hörte Güdner schreien und sah ihn sterben. Ob sich alles genauso ereignet hatte, wer wusste das schon?

Nachdem er lange schlaflos durch seine Wohnung gewandert war, hatte er kurz vor Tagesanbruch den Entschluss gefasst, erstmals herzufahren.

Er parkte den BMW und beobachtete eine Weile die Frühpendler, die ab und an die Straße durchfuhren, die er nur aus seinen Träumen kannte und die ihm doch so vertraut war.

Was wollte er hier? Antworten?

Irgendwann in der chaotischen Nacht war ihm eine Idee gekommen. Wenn er im Traum den Unfallhergang so realistisch erlebte, dann waren seine Erinnerungen vielleicht tatsächlich nicht unwiederbringlich verloren.

Sarah Herbst, seine Psychologin, hatte ihm von Triggern erzählt, die sein Gehirn dazu bringen konnten, verschüttete Erinnerungen herauszulassen. Das konnten zufällige Ereignisse, Beobachtungen, Gerüche oder eben auch Orte sein, die in ihm Erinnerungen zutage brachten. Vielleicht bräuchte es also nur den richtigen Auslöser, um die Blockade zu überwinden.

Mit zittrigen Fingern öffnete er die Tür und verließ das Auto. Sofort flackerte eine Szene auf: Das Mädchen radelte auf dem Fahrrad mit schreckensweiten Augen auf ihn zu, dahinter der Lkw. Fast wäre er zur Seite gesprungen, als die Scheinwerfer eines Autos ihn erfassten.

Auf der gegenüberliegenden Seite ratterten Rollläden nach oben.

Finkler ging weiter. Schräg gegenüber war eine große 17 auf die Hauswand gemalt. Hier wohnte Lieselotte Zöllner. Die alte Frau hatte eine Aussage zum Unfall gemacht, der exakt gegenüber ihrer Wohnung geschehen war. Wenige Meter also nur noch bis zu dem Ort, wo der Lkw Güdner überrollt und Finkler davongeschleudert hatte.

Plötzlich hörte er Schreie und drehte sich um. Doch da war niemand. Erneut hörte er jemanden rufen. Und jetzt erkannte er die Stimme. Es war Güdner.

Finkler presste die Hände auf die Ohren und schloss die Augen. Erfolglos. Die Bilder, die er schon in seinem Traum gesehen hatte, waren wieder da und hüllten ihn ein, als ob sie sich in der Sekunde vor seinen Augen abspielen würden. Die Straße wurde in helles Sonnenlicht getaucht. Er hörte das Dröhnen des Motors, sah den silbernen Einsatzwagen, Güdners Winken. Überdeutlich erkannte er den Lkw. Jeden Rostfleck registrierte er. Dann erblickte er hinter der Scheibe des Lkw ein Gesicht. Augen starrten ihn unter dunkel gelockten Haaren an. Emotionslos. Ein Bild, scharf und deutlich wie auf einem Foto.

Das Fahrrad mit dem Schriftzug Koga Miyata blinkte in der Sonne. Eine Hupe ertönte und zerriss die Bilder. Er saß an die Hauswand gelehnt auf dem Gehweg und sah benommen eine Beifahrertür aufgehen. Ein Mann sprang eilig in einen wartenden Wagen. Kurz war Musik zu hören, dann fuhr das Fahrzeug davon.

Finkler rappelte sich auf und wankte zurück zum Auto, warf sich auf den Fahrersitz und zog die Tür hinter sich zu. Den Kopf zurückgelehnt rang er nach Atem.

Es hatte nicht funktioniert, jedenfalls nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Straße war ein Trigger, daran gab es keinen Zweifel, doch produzierte dieser nur verworrene Bilder. Er war naiv gewesen. Ein Gehirn war nun mal kein Computer, den man neu booten konnte.

Finkler sah auf die friedlich daliegende Straße. Und dennoch – auch wenn ihn der Besuch hier am Unfallort nicht einen Schritt weitergebracht hatte, war trotz allem etwas anders. Etwas, worüber er später unbedingt mit Sarah Herbst sprechen wollte. Denn in seinem Inneren waren die Dinge in Bewegung geraten. Erst der Traum in der Nacht, der so klar und zusammenhängend gewesen war wie nie zuvor, und jetzt Trugbilder, die ihn mitten auf der Straße in der gleichen Intensität und Wirklichkeitsnähe überfielen wie zuvor nur im Schlaf.

Ja, etwas war in Bewegung geraten. Er konnte nur noch nicht sagen, ob es gut oder schlecht war.

Er drehte den Schlüssel und der Motor sprang surrend an. Wieder sah er die Augen des Fahrers, nahm wahr, wie genau er ihn fixierte, erkannte die Absicht, ihn zu erwischen.

Sein Unfall war kein Zufall gewesen, kein außer Kontrolle geratener Lkw hatte ihn verletzt, nein, es war ein Anschlag.

***

Übermüdet fuhr Finkler direkt vom Unfallort ins Präsidium. Kalter Sprühregen rieselte unangenehm aus einem schiefergrauen Himmel. Zwar hatte er am Vormittag einen Termin bei Sarah Herbst, doch er wollte sich vorher im Büro zeigen und den Eindruck vermeiden, Procks Verhalten hätte Wirkung gehabt.

Im Büro sah Schulz von einer Akte auf und lächelte freundlich zur Begrüßung. Alles an ihm war ordentlich. Haare, Kleidung, sein Schreibtisch. Finkler hingegen hatte das Erstbeste angezogen, das ihm in die Hände gefallen war, und erst eben im Treppenhaus bemerkt, dass das dunkelblaue Hemd einen Fleck hatte.

»Gut, dass du kommst. Daniel wollte nachher mit uns das weitere Vorgehen diskutieren.«

Finkler ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Das müssen wir auf mittags legen, ich hab um elf einen Arzttermin.«

Die Zeit vor dem Termin bei Sarah Herbst verbrachte er erneut mit Aktenstudium im Rosetti-Fall. Er stieß auf neue Einzelheiten, auf Details, die ihm bisher entgangen waren. Ein Mann namens Ferrini hatte eine erboste Aussage gemacht, in der er auf die Verbrecher schimpfte, die ihn und seine Frau aus dem Restaurant werfen wollten. Er hatte sich kampfbereit gezeigt und Anzeige erstattet, die er kurz darauf jedoch wieder zurückzog. Laut Aktenlage hatte später niemand bei den Wirtsleuten nachgehakt und versucht, sie zu einer erneuten Anzeige zu bewegen, was man in solchen Fällen eigentlich immer tat.

Finkler machte sich eine Notiz.

Insgesamt waren die neuen Erkenntnisse jedoch zu vage. Vor allem fühlte Finkler sich noch nicht imstande, eine Gesamteinschätzung des Falls abzugeben. Die Aufzeichnungen schienen ihm nach wie vor unvollständig, ohne dass er das an einem konkreten Punkt festmachen konnte. Doch passte das Ganze nicht zu ihrer üblichen Routine.

Wieso hatten er und Güdner die Aktenführung dermaßen vernachlässigt? Es war nie seine Art gewesen, Berichte lange liegen zu lassen. Und auch Güdner war gewissenhaft gewesen, hatte nie geschlampt oder Dinge auf die lange Bank geschoben. Was war passiert? Hatten sich die Ereignisse überschlagen, sodass sie mit den Berichten nicht mehr nachgekommen waren? Gab es Notizen oder Nebenakten, die inzwischen an anderer Stelle gelagert wurden? Hatte Güdner einen Teil der Akten mit zu sich nach Hause genommen? Das war zwar nicht erlaubt, aber daran hielt sich keiner. Finkler würde ihn nicht mehr fragen können.

Er war so in seine Gedanken versunken, dass er fast die Uhr aus dem Blick verlor und sich beeilen musste, um nicht zu spät zu seinem Termin zu kommen. Doch letztlich war er es, der warten musste.

»Als Gutachterin bei Gericht ist es manchmal wie im Irrenhaus«, entschuldigte sich Sarah Herbst, als sie endlich durch die Tür eilte.

Sie streifte die Jacke ihres dunkelblauen Kostüms ab, sichtlich erleichtert, dessen Enge zu entkommen. Dann nestelte sie an ihrem Zopf, zog den Haargummi heraus, um die dunklen Locken durchzuschütteln.

»Dann mal los.« Sie setzte sich ihm gegenüber und lächelte.

Einen Augenblick lang blieb sein Blick an der Narbe hängen, die sich unterhalb des linken Ohrläppchens in einem gezackten Bogen über die Wange bis ans Kinn zog. Sie teilte ihre Erscheinung in zwei Hälften, Yin und Yang, die gute Seite und die böse Seite. Sah man ihr Profil von rechts, war sie von makelloser Schönheit, von links jedoch bot sich dem Betrachter ein Bild brutaler Zerstörung. Er hatte sich an den Anblick gewöhnt.

»Hast du wieder geträumt?«

Finkler nickte. »Zum ersten Mal den kompletten Unfall. Es war alles so plastisch, als wäre ich wirklich dabei. Ich könnte dir von den Gerüchen erzählen, dem Geräusch des Motors, Achims Gesicht, als …«

Er stockte kurz und erzählte ihr dann den Traum und seinen Besuch am Unfallort in allen Details.

Eine steile Furche zeigte sich auf Sarahs Stirn. »Mach so etwas nie wieder ohne mich, du weißt nie, was passiert.«

»In Ordnung. Verstehst du, was ich meine? Ich habe die Augen des Kerls gesehen. Das war kein Unfall, das war Absicht. Der wollte mich umbringen!«

Die Kollegen waren damals aufgrund der Beweislage von einem unerfahrenen Fahrer ausgegangen, der über den von ihm gestohlenen Lkw die Kontrolle verloren und dann Unfallflucht begangen hatte. Wenn die Tat jedoch Absicht gewesen war, änderte das die Lage vollkommen.

Sarah dachte nach. »Was du erlebt oder geträumt hast, ist, ich will es mal einfach formulieren, wie ein Remake. Dein Gehirn vermischt Dinge miteinander, die das Unterbewusstsein als traumatisch wahrgenommen hat oder mit diesen in Verbindung bringt. Es verknüpft Gehörtes mit verschütteten Ereignissen. So entsteht Neues mit einem wahren Kern oder einem Bezug zu wirklichen Ereignissen. Du darfst nicht alles für bare Münze nehmen, was du in den Träumen erlebst. Das Gesicht kann genauso gut einem Mann gehören, mit dem du lediglich Böses verbindest.«

»Und was, wenn nicht, wenn es ein Anschlag war?«

Sie breitete die Arme aus. »Beweise es. Ich kann es nur vermuten. Aber zurück zu dir. Anscheinend treten jetzt auch intrusive Erinnerungen an den traumatischen Moment in Erscheinung, während du wach bist. Flashbacks, getriggert durch den Ort. Und sicher haben die einen Bezug zur Realität.« Sie machte eine kurze Pause und entschied sich offenbar, es nicht weiter auszuführen. »Auf alle Fälle ist es viel zu riskant, wenn du dich solchen Triggern einfach so aussetzt. Dir kann wer weiß was passieren.«

»Wärst du bereit, mit mir noch mal dort hinzugehen?«

»Du willst dich dem noch einmal aussetzen?«

»Vielleicht hilft es mir, mehr über den Unfallhergang herauszufinden. Und warum Güdner und ich an dem Tag dort gewesen sind.«

Man sah ihr an, dass sie seine Idee nicht mochte.

»Ich weiß es nicht. Aus medizinischer Sicht sind die Risiken zwar nicht sonderlich groß, doch psychologisch gesehen, kann es uns um Monate zurückwerfen. Ich …«

Sein Telefon schnitt ihr den Satz ab. Es war Bender. »Tut mir leid.« Finkler zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Da muss ich rangehen.«

Sarah stand auf, setzte sich an den Schreibtisch und machte sich Notizen.

Benders Stimme am Telefon klang ungeduldig. »Wo steckst du? Es wurde eine Tote gefunden. Sie liegt unter einem Parkplatz in einem Hohlraum. Der Chef meint, es könnte für die OK interessant sein, da eigentlich nur die Clans die Leichen so verscharren. Kannst du sofort hinfahren? Schulz und ich kommen auch gleich.«

»Ich denke, ich soll an dem alten Fall bleiben?«

»Du musst nicht mit mir streiten. Frag Prock.«

»Na gut, gib mir die Adresse, ich fahre hin.« Er wandte sich an Sarah. »Ich muss los, das nächste Mal ohne Handy.«

Er war schon fast draußen, als sie ihn noch einmal aufhielt. »Ich weiß, dass du Antworten suchst, aber du kannst die Dinge nicht erzwingen. Dein Gehirn folgt keiner Logik und das gilt auch für das, was du in deinen Träumen und Intrusionen erlebst. Wir müssen die Bilder genau analysieren und die Wahrheit herausschälen. Erwarte nur nicht zu viel. Manche Frage wird unbeantwortet bleiben.«

3

Blaulicht kreiste und die Straße war abgesperrt. Finkler parkte und stieg aus. Zum Glück regnete es nicht mehr, der schneidende Ostwind ließ ihn jedoch die Jacke enger um den Leib ziehen. Er schwor sich, am Nachmittag die Winterjacke aus der Sommerpause zu holen.

Ein Streifenpolizist stellte sich ihm in den Weg, doch er zeigte seinen Ausweis und ging zur Wohnanlage.

In der ruhigen Seitenstraße war zwischen die Gründerzeithäuser, die den Bombardements des Zweiten Weltkriegs standgehalten hatten, ein Bau gepfercht worden, der wie ein Fremdkörper wirkte. Die Materialien waren zwar hochwertig und es war zu vermuten, dass die gut zwanzig Wohnungen sehr teuer sein mussten, allerdings hatte sich der Architekt nicht die Mühe gemacht, den Stil an die Nachbarhäuser anzupassen. Sichtbeton und dunkle Aluminiumfenster beherrschten die Fassade.

Hinter der Anlage ließ ein einzelner Baum am Rand des Parkdecks kahle Äste in den Himmel ragen.

Schulz und Bender schienen noch nicht da zu sein. Nur Erich Koller winkte ihm zu und beobachtete, wie er frierend näher kam.

»Wird langsam Winter.« Koller trug ein dünnes Blouson. Hinter ihm lag ein Baukran auf der Seite. »Die Eigentümer wollen in der obersten Wohnung Dachgauben einsetzen lassen. Deshalb haben sie das Ding da«, er zeigte auf den Kran, »in Einzelteilen durch die Einfahrt hereingebracht und zusammengesetzt. Der Wind hat es in der vergangenen Nacht umgeblasen. Erst waren sie noch erleichtert, dass das Monstrum nicht in die Nachbargärten gekracht ist.«

»Aber?«

Koller schob ein paar der Flatterbänder beiseite, mit denen er einen Teil des Parkdecks abgesichert hatte, und zeigte auf einen langen Spalt im Boden. »Der Vorarbeiter hat bemerkt, dass sie irgendwo eingebrochen sind. Einer der Männer ist in den Schacht gesprungen und hat die Leiche gefunden.«

Das Gewicht des Stahls hatte das Pflaster über die ganze Länge beschädigt. Etwa in der Mitte klaffte ein Riss von mehreren Metern, der sich zu den Enden hin verjüngte.

Koller hielt Finkler sein Handy hin. »Der Mann hat ein Foto gemacht.«

Finkler betrachtete den kleinen Bildschirm. Ein ledriger Schädel war zu erkennen.

»Ist das eine Frau?« Finkler sah Koller fragend an, doch der hob nur die Schultern. »Gibt es Spuren, die auf organisierte Kriminalität hinweisen?«

»Weiß ich nicht.«

»Wieso ruft ihr denn sofort nach uns? Habt ihr in der Mordkommission keine Lust, oder was?«

»Wer legt denn sonst seine Toten so ab?«

»Ach komm, das ist eine Frau. Nix organisierte Kriminalität. Dir fallen doch selbst genügend Beispiele ein, wie Frauenleichen entsorgt werden. Innerfamiliäre Streitigkeiten oder Vergewaltigung mit anschließendem Mord und so weiter.«

Er ging genervt zum Fundort hinüber. Einige Verbundsteine und dicke Betonbrocken waren in die Grube gefallen, während sich andere in der Stahlarmierung verfangen hatten. Als er sich darüberbeugte, konnte er erkennen, dass es sich nicht um einen Hohlraum im eigentlichen Sinne handelte, sondern um einen niedrigen, aus Backsteinen gemauerten Gang.

»Was hat hier früher gestanden?«

»Wir wissen es nicht genau. Das hier gehört ja schon zum Grundstücksteil, der an die Parallelstraße stößt. Die Bauleute haben damals eine Schalung darübergebaut und ordentlich Beton draufgekippt. Das hat dann auch für die Belastung durch die Pkws gereicht, der Druck des Krans war allerdings zu viel.«

»Wo liegt die Leiche?«

»Drei bis vier Meter hinter dem Ende des Risses.«

»Wer war unten?«

»Außer dem Kollegen von der Streife niemand. Die Spurensicherung ist unterwegs, sie sind aber noch an einem anderen Tatort.«

»Hast du einen Schutzanzug?«

Kurz darauf rutschte Finkler unter den Rohren des Krans hinunter und suchte mit den Füßen nach Halt. Es dauerte, bis er zwischen den herabgefallenen Brocken auf festem Boden stand und zu seiner Überraschung feststellte, dass sein Kopf und die Schultern noch im Freien waren. Vorsichtig beugte er sich in den Gang, doch das hereinfallende Licht reichte nicht allzu weit. Er versuchte es mit der Taschenlampenfunktion seines Handys, doch auch diese war zu schwach, um den Gang zu erleuchten. Finkler streckte den Kopf ins Freie.

»Habt ihr eine Lampe?«

Koller trabte davon.

Kurz darauf war er wieder da.

Die Enge wirkte beklemmend, doch Finkler unterdrückte den Anflug einer Panik und lenkte sich ab, indem er mit dem starken Strahler vorausleuchtete.

Der niedrige Gang war leer und extrem trocken. Schon bei der geringsten Bewegung wirbelte Staub auf, der so fein wie Puderzucker war und ihn unangenehm in der Nase kitzelte. Er nieste. In seinem Rücken war außer den regelmäßigen Reihen der gemauerten Backsteine nichts zu erkennen. Nach vielleicht fünf Metern endete der Gang, man hatte ihn zugemauert.

Finkler wandte sich um und leuchtete in die entgegengesetzte Richtung, wo er sofort die Leiche sah, die dort lag. Der Kollege war vorschriftsmäßig vorgegangen und hatte eine Folie ausgelegt, damit keine Spuren verloren gingen.

Das Opfer trug dunkle Lederschuhe. Die Sohlen waren abgelaufen, graue Flecken bedeckten das Leder. Die spindeldürren Beine steckten in Jeans, der Oberkörper in einem T-Shirt mit einem kaum leserlichen Aufdruck. Finkler versuchte ihn zu entziffern und schob die Jacke etwas beiseite. Mit etwas Fantasie konnte er die Worte The Dream und Turtles lesen, mehr nicht.

Die Kleider waren verrutscht, der Bauch freigelegt. Auch die Ärmel waren hochgezogen, was darauf hindeuten konnte, dass irgendwer die Leiche an den Kleidern durch den Gang hierher geschleift hatte. Dürre, unberingte Hände lagen scheinbar entspannt im Staub der Zeit.

Finkler kroch näher. Er war schreckliche Anblicke gewohnt, hatte Tote mit jedweden Verletzungen gesehen, so etwas wie hier jedoch noch nie. Die Trockenheit schien den Körper mumifiziert zu haben, sodass die Haut nun dünn wie Pergament an dem fleischlosen Schädel klebte. Sie war schwärzlich verfärbt und mit braunen und gelben Flecken durchsetzt wie oxidierendes Metall. Die langen Haare schimmerten dank einer chemischen Reaktion rötlich und waren büschelweise ausgefallen. Die Augäpfel fehlten. Die Haut der Nase hatte sich eng um den Knochen gezogen und gab ihr ein nadelspitzes Aussehen. Gepflegte Zähne bleckten sich zu einem schaurigen Dauergrinsen. Auf dem rechten Schneidezahn saß eine Krone und er schöpfte Hoffnung, dass sie ein Zahnstatus weiterbringen könnte.

Mit einem Stift hob er den Rand des Rundausschnitts des T-Shirts sachte an. Die Faser war nach wie vor geschmeidig und nur dort, wo sich Flecken zeigten, verhärtet. Er spähte durch den sich öffnenden Spalt und sah seine Vermutung bestätigt. Ein weißer Büstenhalter war über den Brüsten zusammengefallen. Er hockte vor der mumifizierten Leiche einer Frau. Von wegen organisierte Kriminalität. Er war sich sicher, dass es sich um eine Beziehungstat handelte und die Mordkommission zuständig war.

Finkler wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Enge des Raumes machte ihm mehr zu schaffen, als er sich zunächst eingestanden hatte. Er entschied sich, nach draußen zurückzukehren und die Leiche der Spurensicherung zu überlassen, doch gerade als er sich zum Gehen wandte, reflektierte ein Gegenstand zwischen den Fingern der Toten den Schein der Lampe. Er bückte sich und hob den Unterarm leicht an. Der Anhänger einer Kette kam zum Vorschein.

Es war fummelig, mit den Handschuhen die Pinzette aus dem Etui zu ziehen, das er zusammen mit Einmalhandschuhen und Spurenbeuteln immer mit zu den Tatorten nahm, doch schließlich hatte er den Anhänger in der Hand und hielt ihn ins Licht der Lampe. Ein goldener Taufanhänger pendelte hin und her und warf Schatten an die Wand des Ganges. Auf der Vorderseite war ein Schutzengel zu sehen. Das Schmuckstück war beschädigt. Oben, gleich neben der Öse, befand sich ein winziger Riss, der so aussah, als ob jemand mit einer Zange versucht hätte, eine Ecke aus dem Goldblättchen herauszuschneiden.

Finkler musste heftig niesen und der Anhänger entglitt ihm. Das kleine Ding sprang davon und verschwand in einer Ritze zwischen den Steinen.

»Mist!«, entfuhr es ihm. Er kniete sich nieder, legte die Taschenlampe auf den Boden und versuchte vorsichtig in die Ritze zu greifen, doch der Latexhandschuh machte seine Finger gefühllos. Genervt streifte er ihn ab, obwohl die Spurensicherung ihn dafür hassen würde. Endlich bekam er das Amulett zu fassen.

Was dann kam, konnte Finkler später kaum noch nachvollziehen. Die direkte Berührung mit dem Metall empfand er wie den Faustschlag eines Riesen. Alle seine Muskeln verkrampften sich, ließen seinen Körper sich zusammenrollen und ihn bewegungsunfähig kopfüber zu Boden fallen. Das Letzte, was er wahrnahm, war die nächste Staubwolke. Zum Niesen kam er nicht mehr. Alles wurde schwarz.

Er steht im Türrahmen und blickt in einen Garten. Der tiefe Schnee ist unberührt, nur die Spur eines hüpfenden Vogels hat Figuren hineingezeichnet. Trotz der dicken Schneeschicht kann er erkennen, was darunter liegt. Hier die vollkommen ebene Fläche der Terrasse, dahinter die leichten Wellen der Wiese. Er tritt hinaus und lächelt, als die Stille des Wintertages durch das leise Knirschen durchbrochen wird, das sein Gewicht dem Schnee abringt, als es ihn zusammenpresst. Er friert nicht, als er jetzt das Gesicht in die herabfallenden Flocken hält, die sanft vom Himmel taumeln und eisig auf seiner Nase, den Wangen und den Lippen landen, um dort zu schmelzen.

Er geht bis zur Grenze der Terrasse, läuft auf die Wiese und betrachtet die verschneiten Tannen, die das Grundstück begrenzen. Eine Eule fliegt lautlos vorbei, ihre Augen starr auf ihn gerichtet.

Als er ihr nachblickt, ändert sich plötzlich die Atmosphäre. Das Licht wird duster und die Luft ist nicht mehr kalt, sondern angenehm warm. Er steht auf einmal in einem Gang, von dem vier Türen abgehen. Die Wände hat man grün gestrichen, die Türrahmen sind braun. Die Tapete ist an einer Stelle von der Wand gerissen und es riecht muffig. Er hört Männer reden, kann aber nicht verstehen, was gesprochen wird, nur die Wut, die Aggression ist spürbar.

Er geht auf fleckigem Linoleum ins erste Zimmer. Eine Glühbirne hängt nackt von der Decke und flackert heftig, der Gestank von Mottenpulver dringt unangenehm in seine Nase. Regale sind vollgestopft mit Stofftieren und Karnevalskostümen: Cowboy und Indianer, Polizist und Superman.

Er folgt der Regalreihe bis zu einem Durchgang. Ein Mann kauert gefesselt auf einem Sessel, der aussieht wie ein Frisierstuhl. Seine Hände öffnen und schließen sich in unwillkürlicher Hektik, kämpfen gegen die ledernen Schlaufen, die seine Handgelenke an die abgenutzten Armlehnen zwingen. Die Knöchel treten hervor. Ströme von Schweiß rinnen ihm vom Gesicht, das von Schlägen gerötet und verquollen ist. Aus einem Riss oberhalb der Augenbraue sickert Blut über seine gequälten Züge. Ein bulliger Kerl steht vor dem Gefesselten und brüllt, dass er endlich reden soll. Er will dem Mann helfen, doch instinktiv weiß er, dass er nichts bewirken kann.

Als der Gefesselte wiederholt den Kopf schüttelt, erhält er einen so harten Schlag ins Gesicht, dass sein Kopf nach hinten katapultiert wird und gegen die Lehne kracht.

Er steht unentdeckt im Durchgang und muss zuschauen, wie der Mann gequält wird und schließlich das Bewusstsein verliert, als ihn ein besonders wuchtiger Hieb an der Schläfe erwischt. Ein weiterer Mann springt hinzu und ohrfeigt den Schläger, der dies mit gesenktem Kopf hinnimmt.