Umschlag

Lucie Flebbe

Totalausfall

Kriminalroman

 
 

 

Über das Buch

Ihre Freunde haben sich von ihr losgesagt und die Anzeige, die sie gegen ihren Vater wegen häuslicher Gewalt gestellt hat, droht im Sande zu verlaufen – nach einem missglückten Selbstmordversuch steht die junge Privatdetektivin Lila Ziegler vor dem Nichts. Sie landet in einer psychosomatischen Klinik. Allerdings fragt sie sich schnell, wer eine Therapie nötiger hat: Der gremlinartige Klinikleiter und der leicht zu verunsichernde Stationsarzt wirken nicht weniger gestört als die Patienten. Während Lila weiter darüber nachdenkt, wie sie sich final verabschieden kann, wird eine Psychologin tot aufgefunden. Lilas Neugier erwacht …

Die Autorin

Lucie Flebbe, geb. 1977 in Hameln, lebt mit Mann und Kindern in Bad Pyrmont. Mit ihrem Krimidebüt Der 13. Brief (noch unter dem Namen Lucie Klassen) mischte sie 2008 die deutsche Krimiszene auf. Folgerichtig wurde sie mit dem ›Friedrich-Glauser-Preis‹ als beste Newcomerin in der Sparte ›Romandebüt‹ ausgezeichnet. Mit jedem weiteren Buch sicherte sie sich eine Topplatzierung unter Deutschlands besten KrimiautorInnen.

www.lucieflebbe.de

1.

Alles war weiß.

Die Zimmerdecke über mir, der Fensterrahmen, die Gardinen, die Fassung der Lampe. Das bedeutete, dass ich mich in einem Krankenhaus befand, denn die Hölle hat bekanntlich eine andere Farbe.

Ich hatte es nicht hingekriegt? Wie konnte das sein?

Ich bemerkte, dass ich fror. Es war eine merkwürdige Art von Kälte, die ich in den Kniekehlen spürte, am Po und an meiner Wirbelsäule entlang den Rücken hinauf. Ein Gefühl, als würde ich in lauwarmem Wasser liegen und die Stellen spüren, an denen ich die kalte Badewanne unter mir berührte.

Ich senkte den Blick, um nachzusehen, was los war, und bemerkte Danner.

Er saß auf einem Stuhl, die Arme verschränkt, die Beine ausgestreckt, und starrte mich an. Seine normalerweise betongrauen Augen kamen mir unnatürlich dunkel vor, seine Miene auf aggressive Art ausdruckslos.

In meinem Kopf blitzten Erinnerungen auf, als würde in einem stockfinsteren Raum eine Neonröhre mit Wackelkontakt aufflackern.

Meine Mutter. Über mir. Mit einem blutverschmierten Handtuch in der Hand. Ein blondiertes Skelett mit einem hysterischen Anfall.

Danner, der mir ins Gesicht schlägt. Seine blutüberströmten Hände. Rote Wischspuren auf seiner Glatze.

Mein Freund starrte unverändert. Neben ihm ragte ein Metallständer auf, an dem ein Infusionsbeutel baumelte. Danners leicht vorgeschobener Unterkiefer schien angespannt, sein Gesicht versteinert.

Ich schluckte trocken.

Ich war müde. Nicht in der Verfassung für dieses Gespräch. Es war gar nicht vorgesehen gewesen, dass ich es überhaupt führen musste. Um der Situation zu entkommen, ließ ich meine schweren Lider wieder zufallen.

Mein Name ist Lila, ich bin zwanzig Jahre alt und ich habe mächtig Scheiße gebaut.

Wieso hatte es nicht geklappt? Was war schiefgegangen? Verdammt! Mein ganzes Leben lang hatte ich darüber nachgedacht – und als es drauf ankam, war ich zu blöde gewesen? Ernsthaft?

»Bist du wieder da?«, erkundigte sich Danner.

Ich kannte ihn gut genug, um den eisigen Unterton in seiner Stimme zu registrieren. Mir wurde noch kälter.

»Feigling«, zischte er verächtlich, als ich nicht reagierte.

Ich öffnete die Augen wieder.

Danners bohrender Blick tat mir körperlich weh und sollte genau das wohl auch. Sein dunkles Shirt besaß keine Ärmel, sodass die Anspannung seiner trainierten Arme nicht zu übersehen war.

»Du hörst mich also«, stellte er fest. Seine Pupillen schienen irgendwie größer als sonst, fand ich. Und sie glänzten irritierend.

»Ich liebe dich, aber ich kann das nicht, Lila«, erklärte mein Partner langsam und überlegt. Als wüsste er genau, was er sagen würde. Als wollte er sich sicher sein, dass ich ihn auch verstand.

Als seine Worte in mein Bewusstsein sickerten, stellte mein Herz seine Tätigkeit ein.

»Ich will nie wieder glauben müssen, du wärst tot«, sprach er so deutlich wie möglich weiter. Als wäre ihm klar, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Bedeutung seiner Worte zu erfassen.

Erneut fiel mir das Schimmern seiner Augen auf, im gleichen Augenblick ahnte ich, was er vorhatte.

»Ich will nicht mit der Angst leben, dass du dir was antun könntest, sobald ich dir mal den Rücken zudrehe«, wurde Danner noch präziser. »Mach eine Therapie oder so was, werde endlich erwachsen …«, er holte tief Luft, »… und ruf mich nicht an, bevor du das tatsächlich geschafft hast. In fünf Jahren frühestens – besser in zehn.«

Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und rann über seine unrasierte Wange. Er merkte es, griff hin und stand im gleichen Moment ruckartig auf.

»Und hör verdammt noch mal endlich auf, Scheiße zu bauen! Du bist nicht mehr zwölf!«, fuhr er mich an.

Eine Sekunde lang schien er auf eine Antwort zu warten. Als ich nichts erwiderte, drehte er sich zornig um und stürmte zur Tür.

»Ich habe sie umgebracht.« Meine Stimme funktionierte nicht. Das kaum hörbare Flüstern schmerzte in meiner Kehle. »Ich hab meine Schwester umgebracht, Ben.«

Danner hatte gute Ohren. Er fuhr wieder herum – als hätte er nur darauf gewartet, dass ich genau das endlich sagte.

»Du warst vier Jahre alt!«, explodierte er. »Das war ein Unfall! Oder eine Verletzung der Aufsichtspflicht!«

Mit zwei schnellen Schritten stand er vor meinem Bett. Und es gelang ihm nicht, sein Pokerface wieder aufzusetzen.

»Außerdem hast du offensichtlich nichts von dem, was ich dir beigebracht habe, kapiert!« Er sah aus, als würde er mich am liebsten am Kragen hochreißen und schütteln. »Sonst hättest du wenigstens die wichtigsten Fakten mal kurz recherchiert, bevor du versuchst, dich umzubringen!«

Die Tür flog auf.

»Hallo? So geht das aber nicht!« Eine aufgeregte, kleine Krankenschwester, die Danners Wutausbruch offenbar auf dem Flur vor dem Zimmer gehört hatte, wieselte auf ihn zu.

»Du hättest zumindest mal deine Mutter fragen können, was damals passiert ist!« Danner achtete nicht auf die zierliche Pflegerin, die ihr dunkles Haar zu Rattenschwänzen zusammengebunden hatte, für die sie eigentlich zu alt war. Die Frau versuchte, ihn am Arm aus dem Zimmer zu ziehen, gab allerdings rasch wieder auf und angelte ein mobiles Telefon aus der Brusttasche ihres weißen Poloshirts.

»Deine Mutter hätte dir nämlich das Gleiche erzählt wie mir: dass dein dämlicher Bruder bei dem Unglück damals gar nicht dabei war! Den hat sie vom Klavierunterricht abgeholt, während dein Vater auf deine Schwester und dich aufgepasst hat. Was auch immer Claudius dir erzählt hat, er hat es definitiv nicht mit eigenen Augen gesehen.«

»Was?« Lautlos formten meine Lippen das Wort.

Konnte das sein?

Ihr habt gestritten. Oben, auf der Empore, vor den Kinderzimmern …

Die Stimme meines Bruders wand sich erneut in mein Bewusstsein und versuchte mit aller Macht, die Bilder, die ich nicht sehen wollte, an die Oberfläche zu zerren.

Meine Ohren begannen zu summen. Ich sah meine rechte Hand wackeln, als ich mir an die Schläfe griff und mir die Fingernägel in die Kopfhaut krallte. Als könnte ich die Erinnerungen stoppen, indem ich sie aus meinem Gehirn herausriss und im weißen Plastikmülleimer unter dem Krankenhauswaschbecken entsorgte.

Danner schaffte es, meine Gedanken zu unterbrechen, indem er mir seinen Zeigefinger grob gegen die Stirn stieß. Mein Kopf flog nach hinten ins Kissen. Die Krankenschwester schnappte nach Luft und rannte aus dem Zimmer.

»Schalte dein Gehirn mal einen kleinen Moment lang ein und denk nach«, empfahl mir Danner.

Ein übergewichtiger Wachmann in blauer Uniform stürzte herein, riss Danner von mir weg und drehte ihm einen Arm auf den Rücken.

Danner ignorierte ihn: »Ein Typ, der bekannterweise zur Gewalttätigkeit seinen Kindern gegenüber neigt, ist mit seinen beiden Töchtern allein zu Hause. Als seine Frau wiederkommt, ist eins der Mädchen tot. Wer könnte wohl eher daran schuld sein? Eine Vierjährige? Oder vielleicht doch der Vater?«

Seine Worte schnürten mir die Luft ab.

Der Wachmann ruckte warnend an Danners verdrehtem Arm. Kapitulierend hob mein Freund die freie Hand und ließ sich endlich aus dem Zimmer schubsen.

Ich blieb liegen. Unfähig, mich zu bewegen. Oder zu begreifen, was er gerade gesagt hatte.

Irgendwann registrierte ich Staschek.

Der Kriminalkommissar saß an meinem Bett. Auf dem Stuhl, auf dem kurz zuvor noch Danner gesessen hatte. Oder war es schon länger her? Eine Stunde? Einen Tag? Oder zwei?

Verdammt! Ich wusste es nicht.

Vielleicht sogar noch länger? Verschwommen tauchte das Bild meiner Mutter in meinem Kopf auf, die an meinem Krankenbett stand. Leichenbleich und reglos, irgendwie untot. War sie wirklich hier gewesen? Oder hatte sie mich lediglich in einem Albtraum heimgesucht?

Staschek war jedenfalls da. Er sah verändert aus. Schlank natürlich, aber nicht mehr abgemagert. Sein schmales Gesicht mit den schönen braunen Hundeaugen wirkte plötzlich wieder ansprechend gebräunt. Die neuen grauen Strähnen in seiner kastanienfarbenen Haartolle glänzten geschmeidig. Und er war ordentlich gekleidet.

Seine Frau Verena stand hinter ihm, bemerkte ich jetzt. Ihre schlanken Hände lagen auf den Schultern ihres Mannes. Und ihr hüftlanger, lackschwarzer Zopf baumelte über ihrer rechten Schulter.

Der Chef der Mordkommission faselte wirres Zeug. Die Bedeutung seiner Worte erreichte mein Bewusstsein erst, als der Stuhl an meinem Bett schon lange wieder leer war.

Hatte er wirklich so was wie »Verena kennt eine gute Therapeutin« gesagt?

Und: »Du kannst bei uns wohnen, wenn du willst. Lena und die Jungs würden sich freuen. Wir kriegen das hin, Lila.«

Hatte er das tatsächlich vorgeschlagen? Oder hatte ich mir das nur eingebildet? War vielleicht sein ganzer Besuch eine Halluzination gewesen? Das Resultat hochdosierter Beruhigungsmedikamente?

Zur Bestätigung meiner Vermutung schwebte lautlos eine weiß gekleidete Pflegerin in mein weißes Zimmer. Wie ein gut getarnter Geist bewegte sie sich um mein Bett und fummelte an der Infusion herum, die immer noch über mir baumelte.

Mit den Augen folgte ich dem dünnen Plastikschlauch, durch den eine durchsichtige Flüssigkeit aus dem Beutel sickerte. Bis zu einem venösen Zugang in meiner rechten Ellenbeuge, der mir bisher nicht aufgefallen war.

Zum ersten Mal nahm ich nun auch meine linke Hand wahr, die dick einbandagiert auf meinem Bauch auf der Bettdecke lag. Wie der Plastikarm einer Schaufensterpuppe, den jemand aus unerfindlichen Gründen dort abgelegt hatte. Ein Fremdkörper, der nicht zu mir gehörte.

Ich konnte die Spitzen meiner mit Mull umwickelten Finger sehen, wusste aber nicht genau, wie ich sie bewegen sollte. Als hätte ich vergessen, wie das ging.

Die Krankenschwester lenkte mich ab. Sie hatte einen neuen prall gefüllten Infusionsbeutel an der Halterung befestigt und huschte nun zur Zimmertür. Vor der weißen Wand verschwammen ihre Konturen wie im Nebel, bevor sie sich komplett auflösten.

Ich blinzelte verwundert.

Doch der Nebel breitete sich weiter im Zimmer aus. Verschluckte das Waschbecken. Und das Fenster. Ich schloss die Augen, weil mir schwindelig wurde.

Als ich mich das nächste Mal traute, vorsichtig zu blinzeln, saß Molle an meinem Bett.

Scheiße!

Der Dicke hatte sein neuerdings rasiertes Gesicht mit den himmelblauen Augen und den Hängebäckchen in den Händen vergraben und rührte sich nicht.

Ich kniff die Augen schnell wieder zu und tat, als würde ich schlafen.

So ein Mist! Molle hatte ich nun wirklich nicht sehen wollen.

»Die ist ja echt krass drauf, was?«, hörte ich eine männliche Stimme, die nicht Molle gehörte. Es dauerte einen Augenblick, bis ich sie zuordnen konnte. Anscheinend hielt sich Molles verlorener – beziehungsweise gerade wiedergefundener Sohn Jonas ebenfalls im Zimmer auf.

Und Molles Exfrau Margo war anscheinend auch da. Ihre dunkle Stimme mit dem kaum hörbar rollenden R identifizierte ich sofort. Sie schlug vor, mich in Ruhe zu lassen, damit ich mich erholen könne.

Danke, Margo.

Erleichtert gab ich dem Wunsch, wegzudämmern, nach.

»Du grottenblöde, verlogene, rücksichtslose Schlampe! Sei froh, dass meine Mutter erst jetzt Zeit hatte, mit mir nach Hannover zu fahren! Sonst hätte ich nämlich doch noch erledigt, wozu du selbst offensichtlich zu dämlich bist!«

Die Sonne blendete mich durch das weiß gerahmte Fenster, als ich erstaunt die Augen öffnete.

Heute wusste ich zumindest, dass es Vormittag war. Und ich konnte mich an gestern erinnern. Und an die asiatisch aussehende Nachtschwester, die mich samt Bett in ein anderes weißes Zimmer geschoben hatte. Und an das Frühstück, das ich nicht angerührt hatte.

Lena saß an meinem Bett.

Und sie verschwamm fast gar nicht vor meinen Augen. Ich sah am Infusionsständer hoch. Der mit Flüssigkeit gefüllte Beutel war verschwunden. Ich meinte, mich daran zu erinnern, wie ein Pfleger ihn nach einer Visite von drei bis fünf Geistern entfernt hatte.

Lena beobachtete mich abschätzend. Meine beste Freundin hatte die langen, mageren Beine übereinandergeschlagen, die Arme unter dem weiten Ausschnitt ihres hellen Sommershirts verschränkt. Die braunen Augen, das dichte, kastanienfarbene Haar und das schmale Gesicht hatte sie von ihrem Vater geerbt. Doch ihr Blick war wacher. Und ihre Miene … Na ja.

»Und du hinterfotziges Miststück hast behauptet, meine Freundin zu sein?«, beschimpfte sie mich weiter, als sie bemerkte, dass sie mich geweckt hatte.

Die Kälte, die Müdigkeit und die Geister waren verschwunden.

Und fast war ich erleichtert, dass Lena zwar ziemlich sauer, aber nicht besonders verzweifelt aussah. Damit konnte ich wahrscheinlich umgehen.

Also ließ ich die Augen offen.

»Ich würde dich wirklich gern erwürgen«, wiederholte Lena giftig. »Im Augenblick wäre das bestimmt nicht mal schwierig! Es wäre nur nicht befriedigend, wenn ich dir damit womöglich einen Gefallen täte.«

Mein Blick blieb an dem Plastikgriff hängen, der über meinem Bett baumelte. Die Schwestern nannten ihn ›Galgen‹.

Meine rechte Hand konnte ich anheben, die verbundene linke zuckte zumindest. Ich erwischte den Griff und zog mich aus dem Kissen.

Das Zimmer schaukelte hin und her, als ich saß. Ich achtete nicht darauf, sondern versuchte, mich auf meine Freundin zu konzentrieren.

»Warum hat es nicht geklappt?«, wollte ich wissen. Meine Stimme krächzte, war heute aber zumindest zu hören.

Lena zog die Brauen hoch. »Glaubst du, ich lasse mich von dir aushorchen?«, schnappte sie dann. »Damit du es beim nächsten Versuch besser machen kannst, oder was?«

Eine Sekunde lang zögerte ich. Eher als ich selbst hatte Lena geschnallt, worauf ich hinauswollte. Aber wenn ich herausfinden wollte, was eigentlich schiefgelaufen war, war das gerade die beste Gelegenheit, die ich bekommen würde. Lena wusste doch garantiert, was geschehen war. Ihr Vater war als Kriminalkommissar und Danners bester Kumpel im Bilde. Und wenn Lena sich in den Kopf gesetzt hatte, etwas aus Staschek herauszuquetschen, konnte er nicht dichthalten.

»Es hätte funktionieren müssen«, ließ ich nicht locker. »Ich kann mich nicht erinnern. Du musst mir helfen … bitte.«

Eine Gänsehaut kroch meinen Rücken hinauf, als ich Lenas schöne Rehaugen schimmern sah.

Reiß dich zusammen! Nicht heulen jetzt!

»Schwör mir, dass du so was nie wieder machst«, verlangte meine Freundin von mir.

Fuck.

Ich senkte den Blick.

Lena atmete scharf ein. Sie hatte den Spieß umgedreht und mich ausgehorcht, begriff ich zu spät.

Wer könnte wohl eher daran schuld sein? Eine Vierjährige? Oder vielleicht doch der Vater?, gingen mir Danners Worte durch den Kopf.

»Du willst dich immer noch umbringen?«, fragte Lena entsetzt.

Weil ich mich mit der nicht bandagierten rechten Hand festhalten musste, zuckte meine linke an meine Stirn.

»Ich bemühe mich, okay?«, versuchte ich, einen Kompromiss auszuhandeln.

»Du willst dich bemühen, keinen Selbstmord zu begehen?« Lena ruckte mit ihrem Stuhl von mir zurück, als wäre mir unbemerkt ein Auge aus dem Gesicht gekullert und sie hätte dadurch begriffen, dass in Wahrheit Frankensteins Monster vor ihr im Krankenhausbett lag.

»Soll ich lügen?«, erkundigte ich mich kühl.

Lenas Schultern sackten nach vorn. Mitsamt dem Stuhl und dem Rest des Zimmers drehte sie sich um mein Bett herum. Es fiel mir schwer, sie im Blick zu behalten.

»Ich muss wissen, was überhaupt passiert ist, verstehst du das nicht?«, bearbeitete ich sie trotzdem weiter. »Die Tabletten hätten für einen Elefanten gereicht. Wieso hat das nicht funktioniert?«

Mit traurigem Bambi-Blick sah Lena mich an. »Molles Krankenhauszimmer hatte ein eigenes Klo«, sagte sie dann. Aus ihrem resignierenden Tonfall schloss ich, dass mir das irgendetwas erklären sollte, doch es gelang mir nicht, diesen Gedankensprung mitzumachen.

Letzte Woche war Molle wegen eines Herzinfarktes in einem Bochumer Krankenhaus behandelt worden. Ich erinnerte mich an die piependen und blinkenden Monitore auf der Intensivstation. Und auch an das Zimmer, auf das er danach verlegt worden war. Das hatte eine eigene Toilette besessen, okay.

Aber was hatte das Krankenhausklo damit zu tun, dass ich weit entfernt, in der Villa meiner Eltern in Hannover, offenbar zu wenige Schlaftabletten geschluckt hatte?

»Als du aus dem Krankenhaus abgehauen bist, hast du behauptet, du müsstest auf die Toilette«, half Lena mir auf die Sprünge. »Das hat Papa mir jedenfalls so erzählt.«

Ich nickte langsam.

Mein Bruder Claudius hatte mich geködert. Mit dem dunklen Familiengeheimnis, das es meinen Eltern angeblich unmöglich machte, mich zu mögen. Die Antwort auf alle Fragen, die ich mir mein Leben lang gestellt hatte. Ich hatte nicht anders gekonnt, als mich klammheimlich aus dem Krankenhaus zu schleichen. Allein, ohne jemandem davon zu erzählen, weil ich meine Probleme selbst lösen wollte. Und wohl wissend, dass es sich bei dem Treffen mit Claudius vermutlich um eine Falle handelte. Um einen weiteren Versuch meiner Familie, mich dazu zu bringen, die Anzeige wegen häuslicher Gewalt gegen meinen Vater zurückzuziehen.

»Du hättest einfach die Toilette in Molles Zimmer benutzen können«, fuhr Lena fort. »Da hat aber keiner drüber nachgedacht. Erst als du nicht wieder aufgetaucht bist, hat Ben geschnallt, dass du abgehauen sein musstest. Im Krankenhaus warst du nicht mehr. In eurer Wohnung war seine Waffe weg. Da war er ziemlich sicher, dass dein Verschwinden mit deiner Familie zusammenhängen muss. Papa hat Bochum nach dir abgesucht und Ben ist nach Hannover gefahren. Er wusste offenbar, wo deine Eltern wohnen, und hat wohl noch deinen Bruder aus dem Haus kommen sehen.«

Ich schwieg.

Am Grab meiner Großmutter hatte mein Bruder mir enthüllt, dass ich nicht nur die Existenz meiner älteren Schwester Fee vollkommen verdrängt hatte, sondern auch, dass ich selbst sie als Vierjährige im Streit durch das morsche Geländer der Empore in der Eingangshalle der Villa meiner Eltern gestoßen und so getötet hatte.

Nach dieser Erkenntnis begann mein Filmriss. Ich hatte keine Ahnung, wie ich vom Friedhof ins Haus meiner Eltern gelangt war und was dort passiert war. Na gut, bis auf das verschwommene Bild der Rasierklinge vielleicht, deren gesamte untere Hälfte in meinem linken Handgelenk gesteckt hatte.

Mein Blick wanderte auf den dicken, weißen Verband an meinem Unterarm.

»Als dein Bruder verschwunden war, ist Ben ums Haus geschlichen«, berichtete Lena weiter. »Weil hinten eine Terrassentür offen stand, hat er deine Mutter um Hilfe rufen gehört.«

Meine Mutter?

Gebannt hing ich an Lenas Lippen. Sie hatte aufgehört, sich zu drehen.

Lena räusperte sich. »Hätte deine Mutter nicht nach dir gesehen, sobald dein Bruder weg war, und versucht, die Blutung zu stoppen, wäre Ben wohl zu spät gekommen. Er sagt, das Zimmer war komplett weiß eingerichtet und überall war Blut. Auf dem Teppich, der Kommode, den Medikamentenschachteln. Als er die leeren Packungen entdeckt hat, hat er dir den Finger in den Hals gesteckt.«

Bambis Augen funkelten gefährlich.

»Dann kam das volle Programm. Magen auspumpen, Bluttransfusionen, zwei Tage Koma.«

Zwei Tage? Wie lange war ich eigentlich schon im Krankenhaus?

»Ben spricht kein Wort«, beendete Lena ihren Bericht böse. »Molle ist kurz vorm nächsten Herzinfarkt. Und ich …«

Ich spürte den Impuls, den fiesen Tiefschlag, der ohne Zweifel folgen würde, abzuwehren. Doch ich konnte den Galgen nicht loslassen.

»… hasse dich, weil du dich umbringen willst, obwohl du ganz genau weißt, dass ich schon einmal meine beste Freundin verloren habe.«

Autsch.

»Mehr konntest du nicht kaputtmachen«, meinte Lena bitter. »Herzlichen Glückwunsch.«

Das Zimmer rauschte zur Seite. Ich verlor das Gleichgewicht, der Galgen rutschte mir aus den Fingern, ich kippte ins Kissen zurück.

»Dass du das alles nicht rückgängig machen kannst, ist klar, oder?«

Ehrlich gesagt, war mir gar nichts klar. Irgendetwas rückgängig machen zu wollen, war nicht geplant gewesen. So weit hatte ich nie gedacht.

Ich schloss die Augen. Hatten Danners Worte irgendwo in mir einen winzigen Funken Hoffnung aufglimmen lassen, dass es doch eine klitzekleine Chance für mich geben könnte, mit dem Wissen um den Tod meiner Schwester weiterzuleben, dann hatte Lena die kleine Flamme gerade zwischen zwei Fingern zerquetscht.

Denn sie hatte vollkommen recht: Es gab nichts mehr, wofür sich das Weiterleben lohnen würde.

Mein Leben in Bochum, meine Beziehung zu Danner, die sich in letzter Zeit als überraschend stabil erwiesen hatte, meine Freundschaft mit Molle, Staschek, Lena, meinen Job als Privatdetektivin – einfach alles hatte ich mit einem gigantischen Knall in die Luft gesprengt. Unwiederbringlich vernichtet.

Wie eine dicke, schwarze Wattewolke senkte sich diese Erkenntnis über mein Bewusstsein.

»Du hast versprochen, dich zu bemühen«, hörte ich Lena gedämpft durch die Watteschicht sagen. »Denk daran.«

2.

»Sie können sich vermutlich denken, warum wir heute miteinander sprechen, Frau Ziegler.«

Seit Lenas Besuch waren zwei weitere Tage vergangen und heute hatte ich ohne Probleme aufstehen und in das Behandlungszimmer des Arztes am Flurende hinübergehen können. Der venöse Zugang, die Nadel mit dem Schlauchanschluss aus Plastik, steckte noch in meiner Ellenbeuge, aber schon seit Tagen waren keine Infusionen mehr daran angeschlossen worden. Und den dicken, weißen Mullverband an meinem linken Handgelenk hatte eine Nachwuchschirurgin gestern Nachmittag durch ein sechs Zentimeter langes, hautfarbenes Pflaster ersetzt, nachdem sie die aus der frischen Narbe ragenden Fäden herausgezogen hatte.

Der Rasierklingenschnitt war mit fünf Stichen vernäht worden. Davon waren jetzt nur noch rote Punkte zu sehen.

Dr. Dr. G. Schneider – Chefarzt Akutpsychiatrie, stand aufgestickt auf der Brusttasche am Kittel des Mannes hinter dem Schreibtisch.

Ich ging davon aus, dass er mich einbestellt hatte, weil er mein Krankenzimmer neu belegen wollte.

»Denken ist heute nicht meine Stärke«, blockte ich den Gesprächsversuch ab. Mir war egal, was als Nächstes passierte.

Das Krankenhausnachthemd hatte ich gegen eine Jeans und ein langärmeliges schwarzes Shirt ausgetauscht. Neben dem Mülleimer unter dem Waschbecken hatte ich meinen alten Rucksack und Danners vollgestopfte, schwarze Sporttasche entdeckt und die Klamotten herausgefummelt. Genauer hatte ich nicht hineinsehen müssen, um zu wissen, dass sich all meine Sachen aus Danners Wohnung darin befanden. Ich war keine Shoppingsüchtige, mein gesamter Besitz passte bequem in die beiden Taschen hinein.

Es war also Schluss. Endgültig. Das war keine Kurzschlusstrennung nach einem eskalierten Streit. Ich hatte zwei Tage im Koma gelegen. Danner hatte ausreichend Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was er tun würde, wenn ich wieder aufwachte.

Ich liebe dich …

In meiner Brust verknotete sich irgendwas.

Noch nie war jemand auf die Idee gekommen, das zu mir zu sagen. Ironie des Schicksals, dass Danner ausgerechnet in dem Moment damit anfing, in dem er unsere Beziehung beendete.

Aber nicht einmal das tat mir wirklich weh.

Es gab kein Zuhause mehr, in das ich zurückkehren konnte, wenn Dr. Dr. mich jetzt hinauswarf. Ich würde auch keines mehr brauchen.

Dr. Dr. musterte mich kritisch. Er gehörte zur Spezies ›Gott in Weiß‹: ein schmaler, intellektueller Typ mit einer dominanten Nase im ernsten Gesicht, Nickelbrille und kurz geschnittenem, dunklem Haar.

Eine Sekunde lang beobachtete er mich unzufrieden, bevor er einen Stift zückte und etwas in die Akte kritzelte, die ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch lag.

Automatisch senkte sich mein Blick auf das Blatt. Obwohl ich über Kopf lesen musste, konnte ich den Vermerk leicht entziffern. Für einen Mediziner hatte er eine recht akzeptable Handschrift.

Antriebsarmut, emotionale Abgestumpftheit – V. a. akute depressive Episode.

Wichser.

»Gut, Frau Ziegler.« Dr. Dr. legte den Stift zur Seite und presste die langen Finger zur Bundeskanzlerinnenraute zusammen, bis seine Gelenke knackten. »Dann kläre ich Sie mal über den Grund für unser heutiges Zusammentreffen auf: Ihr körperlicher Zustand hat sich so weit stabilisiert, dass ein Aufenthalt in unserem Haus nicht mehr notwendig ist.«

Ich sparte es mir, Überraschung zu heucheln.

»Ihr seelischer Zustand ist meiner Meinung nach allerdings alles andere als zufriedenstellend«, fuhr der Arzt fort. »Ich gehe davon aus, dass Sie unter einer Depression leiden.«

Meine Augenbrauen zuckten nach unten.

»Diese Erkrankung ist bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen keine Seltenheit. Und sie ist glücklicherweise gut therapierbar. Eine erneute Eskalation, die womöglich wieder zu einem Suizidversuch führt, ist sicherlich vermeidbar. Deshalb …«, er zog einen Zettel aus der Akte und kritzelte wieder, »… deshalb überweise ich Sie von hier aus direkt in ein anschließendes Heilverfahren, in eine stationäre psychosomatische Therapie.«

»Was?« Ich richtete mich auf.

»Depressionen sind behandelbar, Frau Ziegler«, wiederholte sich der Arzt. »Vorausgesetzt, sie werden behandelt.«

Ich muss nicht behandelt werden, du Hirn! Ich muss nur hier raus! Und zwar zügig.

Einem spontanen Fluchtimpuls folgend, erhob ich mich: »Ich glaube nicht, dass das nötig ist.«

»Das zu beurteilen, ist meine Aufgabe«, korrigierte mich der Arzt. »Aber …«

Er presste erneut die Hände gegeneinander und legte die Fingerspitzen nachdenklich ans Kinn.

»Aber ich könnte Ihnen eventuell die Wahl lassen zwischen einem dreiwöchigen Aufenthalt auf einer akutpsychiatrischen Station oder … Wenn Sie gewillt wären, ernsthaft und freiwillig an Therapieangeboten teilzunehmen, dann käme unter Umständen auch eine psychosomatische Fachklinik infrage.«

»Akutpsychiatrische Station?«, schnappte ich. »Sie wollen mich in die Geschlossene stecken? Das können Sie nicht gegen meinen Willen. Ich bin ja nicht Amok gelaufen, oder so.«

Dr. Dr. hob seine scharfkantige Nase ein kleines Stückchen höher. Es gelang ihm, auf mich herabzusehen, obwohl er hinter dem Schreibtisch saß und ich immer noch stand.

»Liegt eine akute Selbstgefährdung vor, ist ein vorübergehender Aufenthalt in einer geschlossenen Psychiatrie zu Ihrem eigenen Schutz möglich. In Hildesheim stünde ein entsprechender Therapieplatz für Sie zur Verfügung.«

Scheiße.

Geschlossene Psychiatrie. Das klang nach abgeschlossenen Fenstern, Beruhigungsmitteln und Zwangsjacken.

Ein bitter schmeckender Anflug von Panik kroch meine Kehle hinauf. Der betäubte Zustand, in dem ich mich befand, würde nicht ewig anhalten. Früher oder später würden die Erinnerungen zurückkehren.

Mir blieb nicht viel Zeit. Aber ich brauchte einen Plan. Einen, der besser funktionierte. Und der ohne einen unbegrenzten Vorrat verschreibungspflichtiger Medikamente auskam, denn an den würde ich kein zweites Mal so einfach herankommen.

In einer geschlossenen Abteilung würde ein Selbstmord recht schwierig werden.

»Sollten Sie sich allerdings einsichtig zeigen und aktiv an Ihrer Erkrankung arbeiten wollen«, hörte ich Dr. Dr. weitersprechen, »und mich davon überzeugen, dass keine akute Selbstgefährdung vorliegt, könnte ich eventuell den Aufenthalt in der psychosomatischen Fachklinik empfehlen. Eine Kombination aus Gesprächstherapie und Bewegung hat sich als wirksames Mittel bei Depressionen erwiesen. Sie sind jung und ansonsten gesund, mit der richtigen Hilfe könnten Sie gestärkt aus dieser Krise hervorgehen und langfristig vielleicht sogar um eine Psychopharmaka-Medikation herumkommen.«

Ich starrte ihn an.

»Haben Sie irgendeine Meinung dazu?«, wollte er wissen, weil ich immer noch nicht antwortete.

»Wie läuft das in so einer psychosomatischen Klinik?«, erkundigte ich mich misstrauisch.

»Ähem …« Dr. Dr. deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Zögernd setzte ich mich wieder. »Bei der Psychotherapie handelt es sich ebenfalls um eine stationäre Maßnahme«, fuhr der Mediziner fort. »Sie bekommen ein Zimmer in einer Klinik, tagsüber nehmen Sie an den Anwendungen teil, abends haben Sie frei.«

»Offener Vollzug, sozusagen?«

»Wenn Sie so wollen.«

Ich hatte Dr. Dr. zum Schmunzeln gebracht.

»Abends und am Wochenende können Sie, soweit ich weiß, machen, was Sie möchten. Ein Buch lesen, gemeinsame Unternehmungen mit Ihren Mitpatienten starten, spazieren gehen. Viele Kliniken bieten ein Freizeitprogramm an. Also?«

Eine echte Wahl blieb mir nicht. Ich nickte langsam.

Der Mediziner grunzte zufrieden und wandte sich seinem Computer zu. »Mal sehen, ob wir hier in Hannover einen Platz für Sie finden …«

Ich zuckte zusammen. Der Gedanke, dass mein Vater mir jederzeit einen Überraschungsbesuch abstatten konnte, behagte mir gar nicht. Auch wenn ich prinzipiell kein Problem mit dem Sterben hatte, wollte ich ungern im Affekt erschlagen werden.

»Weit weg wäre mir lieber«, entgegnete ich.

Dr. Dr. runzelte die Stirn und tickerte auf der Tastatur herum: »Wie wäre es mit Passau?«

Passau? Ich hatte keine Ahnung, wo das lag.

»Bochum wäre schön«, war mir herausgerutscht, bevor ich darüber nachgedacht hatte.

Dr. Dr. sah mich verwirrt an.

Was für einen Quatsch redete ich da? Ich hatte kein Leben mehr in Bochum! Es wurde höchste Zeit, dass ich das schnallte! Die Stadt war nicht mehr meine Zuflucht, mein rosa Wolkenschloss, mein sicherer Ort, an dem mir nichts passieren konnte. Ich konnte nicht dorthin zurückkehren.

… aber vielleicht konnte ich noch einen Blick in Molles Kneipe werfen. Nur ganz kurz. Durchs Fenster oder so. Nur um mich noch einmal daran zu erinnern, wie es sich anfühlte, denn die schmuddelige Ruhrpottkneipe mit den karierten Tischdecken und dem liebevoll polierten, alten Tresen hatte mich immer gewärmt wie ein knisterndes Kaminfeuer.

Eine Sekunde lang bekam ich keine Luft. Ich ahnte, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Und dass ich auf keinen Fall noch einmal in die Nähe der Kneipe kommen durfte. In diese Richtung sollte ich besser nie wieder denken.

»Bochum ist nicht unbedingt als Kurort bekannt …«, murmelte Dr. Dr.

War ja auch scheißegal.

Gleichgültig zuckte ich die Schultern.

Der Arzt fing an, auf seiner Computertastatur herumzuhacken. »Das Hochsauerland ist in der Nähe …«, murmelte er. »In Hamm gibt es auch eine psychosomatische Klinik, das weiß ich, weil ich den Chefarzt kenne, aber … Moment! Da gibt es tatsächlich ein stationäres Angebot«, wunderte er sich.

Ich hielt den Atem an.

Er tickerte noch mal und zog dabei, ohne hinzusehen, einen weiteren Zettel aus der Ablage.

»Die Leitung kenne ich nicht. Ehrlich gesagt, bin ich bisher nicht darauf gekommen, jemanden ausgerechnet nach Bochum zu schicken. Aber ich sehe mal, was ich für Sie tun kann, Frau Ziegler …«

Er warf einen Blick auf den Zettel und notierte Z. n. Suizidversuch (Schnittverletzung A. radialis, V. radialis, Medikamentenüberdosis) unter seinem Depressionsverdacht auf dem Überweisungsschein.

»Fangen Sie schon mal an zu packen.«

3.

Mein Herz pochte dumpf und schwer von innen gegen mein Brustbein. Dass es nicht herumflatterte wie ein hysterischer Wellensittich, der jeden Augenblick mit einem Herzinfarkt tot von seiner Käfigstange kippen konnte, verdankte ich vermutlich den drei Tabletten, die ich heute Morgen um sechs statt eines Frühstücks serviert bekommen hatte. Jetzt kamen mir die Herzschläge irgendwie zu langsam vor. Es fühlte sich an, als würde nicht genug Blut mein Gehirn erreichen.

Ein Taxi hatte heute Morgen vor dem Krankenhaus auf mich gewartet und mich weggebracht. Weg von meiner Familie und von dem von Efeu überwucherten Grabstein mit dem eingravierten Engel.

Krankentransport, hatte die Pflegerin, die mich in den Wagen gesetzt hatte, das genannt. Möglicherweise hatte Dr. Dr. Zweifel daran gehabt, dass ich mich in den richtigen Zug setzte und auch wirklich in der Klinik ankam. Vielleicht hatte er mich auch nicht in unmittelbarer Nähe eines heranrollenden Zuges wissen wollen.

Feiner Nieselregen hatte die schwarzgraue Autobahn und die schwarzgrauen Wolken vor der Frontscheibe verschwimmen lassen. Das Wetter passte ausgezeichnet zu meiner allgemeinen Stimmungslage. Der Rentner mit der Schiebermütze kaute auf einem Lollistiel, während er das Taxi steuerte. Bis Bad Oeynhausen hatte ich ihn angeschwiegen, dann hatte er den Schlagersender, der im Radio lief, laut gestellt.

Wie üblich staute sich der Verkehr auf dem Ring vorm Bochumer Bahnhof, weil ein über zwölf Meter hoher Quader aus rostigem Stahl mitten auf der Straße im Weg stand. Der Berufsverkehr musste sich drum herumschlängeln. Auf den ersten Blick sah das Ding aus, als wäre ein Frachtcontainer aus einem Flugzeug gestürzt, hätte sich in die Fahrbahn gerammt und würde dort vor sich hin rosten, weil sich niemand die Mühe machte, den Schrott wegzuräumen. Aber nach fast einem Jahr in Bochum wusste ich, dass es sich bei dem Schrott um das sogenannte Terminal handelte. Eine Stahlskulptur. Kunst.

Wie Wachtürme einer Festung ragten die sechzehn Stockwerke des Europahauses und die Zwillingstürme in den wolkenverhangenen Himmel. Dazwischen führte eine schmale Spalte in der Mauer aus Häuserfronten in die Innenstadt.

Vor nicht einmal einem Jahr war mir die Stadt eng, grau und feindselig vorgekommen. Heute fühlte sich alles so vertraut an, dass mir schwindelig wurde.

Ich stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und ließ das Gesicht in die Hände sinken.

»Kotz mir nicht ins Auto!«, fuhr mich der Fahrer an, während Costa Cordalis Anita! jodelte.

»Geht schon«, murrte ich, ohne den Kopf zu heben.

Was wollte ich hier?

Um kurz nach neun lenkte der Mann mit der Schiebermütze den Wagen vom Ring Richtung Stadion. Gleich darauf bog er in eine schmale Straße Richtung Stadtpark ein. Rechts neben mir erhob sich ein langer, zweigeschossiger Altbau aus braunem Ziegelstein mit gemauerten Rundbögen über den Fenstern und Gauben im Dachgeschoss.

Willkommen im Klinikum Birkenhain, las ich auf einem Schild neben einer tunnelartigen Durchfahrt, die durch das Erdgeschoss des Gebäudes hindurch in einen quadratischen Innenhof führte.

Die einzelne Birke, der die Klinik anscheinend ihren Namen verdankte, stand in der Hofmitte. Neben einer Bank und einem Mülleimer. Der Wagen rumpelte über das vom Regen glänzende Kopfsteinpflaster und hielt vor einer großen Glastür mit einem ausladenden Vordach.

Dicke Regentropfen prasselten auf das Autodach und in meine Haare, als ich aus dem Wagen stieg, aber ich spürte es kaum. Das Gebäude ragte rechtwinklig um den Innenbereich auf. Fühlte sich wie ein Gefängnishof an.

Der Fahrer ließ meinen Rucksack und Danners Reisetasche neben meine Füße plumpsen, stieg wieder in den Wagen, kurvte einmal um die Birke und dann durch den Tunnel hinaus auf die Straße.

Jetzt stand ich allein im Regen im Innenhof der Klinik. Ich betrachtete die Anlage. An der Straße entlang verlief der Altbau, durchbohrt von dem Tunnel, durch den das Taxi in den Hof gelangt war. Die verwitterten Ziegelmauern und das Satteldach mit den Gauben verrieten das Alter des Traktes. Die anderen drei Seiten waren darangeschusterte Neubauten mit roten Klinkerfassaden, hohen, weißen Kunststofffensterreihen und Flachdächern. Eine Seite des Vierecks war vierstöckig, die anderen drei Seiten mit zwei Stockwerken deutlich niedriger.

Über meinem Kopf rauschte der Regen in den Blättern der Birke. Im Mülleimer lagen Fast-Food-Verpackungen und eine kaputte Colaflasche.

Spitzenidee, meine Therapie mitten in der Bochumer Innenstadt zu machen. Einen Ort zu finden, an dem ich mich ungestört umbringen konnte, wäre in einer ruhig gelegenen Klapse, irgendwo auf einem Berg im Hochsauerland einfacher geworden.

Der Regen durchweichte mein dünnes, schwarzes Langarmshirt. Es hatte Löcher im Saum der Ärmel, durch die ich die Daumen stecken konnte. So verdeckte das Oberteil das große Pflaster an der Innenseite meines linken Handgelenkes und der Ärmel konnte nicht aus Versehen hochrutschen.

Aus meinen kinnlangen Haaren lief ein Rinnsal über meine Wange. Meine Hände zitterten, aber die Kälte spürte ich nicht.

Ich überlegte, ob das an den Scheißegaltabletten von heute Morgen lag. Vermutlich nicht. Ich befand mich noch immer in diesem irgendwie weggetretenen Zustand, in dem es ganz einfach war, mir mit einer Rasierklinge den Unterarm aufzuschlitzen und zuzusehen, wie ich verblutete.

Der Gedanke lenkte meinen Blick auf den Mülleimer unter der Birke. Auf die kaputte Colaflasche, die ganz oben in einem aufgerissenen Pizzakarton lag. Automatisch machte ich einen Schritt darauf zu. Eine Scherbe mit einer scharfkantigen Spitze fiel mir ins Auge.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Wie aus dem Nichts war eine Frau neben mir aufgetaucht, die sich eine Aktentasche über die streichholzkurzen, dunklen Haare hielt, um sich vor dem Regen zu schützen.

Na ja, aus dem Nichts aufgetaucht war sie wahrscheinlich nicht. Der Hof war nicht gerade klein und sie musste ihn überquert haben, bevor sie mich erreicht hatte. Ich nahm im Augenblick vielleicht die Kälte und den Schmerz nicht wahr, aber einiges andere offenbar auch nicht.

»Zur Rezeption geht es hier entlang. Kommen Sie.« Sie hob meinen Rucksack auf und hielt ihn mir hin. Auf ihren Wangen tauchten tiefe Grübchen auf, als sie lächelte.

Ich unterdrückte ein genervtes Seufzen. Die Dunkelhaarige klemmte ihre Aktentasche unter den Arm, schnappte mit der einen Hand meinen Ellenbogen, mit der anderen Danners Sporttasche und schob mich vorwärts.

Klinikum Birkenhain – Haupteingang, stand in lindgrünen Buchstaben auf weißem Hintergrund gut sichtbar auf dem Schild neben der Glastür.

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie – Behandlung von Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, Störungen der Krankheitsverarbeitung und Essstörungen, überflog ich die Erläuterungen darunter.

Die Tür surrte automatisch zur Seite und meine Begleiterin schüttelte den Regen aus ihren kurzen Haaren. Sie war ein Stück größer als ich, mit weiblichen Rundungen, und sie trug Hippielook: ein fließendes, weinrotes Oberteil mit geschnürtem Ausschnitt und überlangen Trompetenärmeln, unter dem ihr Hüftspeck verschwand. Dazu verblichene Jeans, unter deren ausgestelltem Bein rote Chucks mit weißen Schnürsenkeln hervorlugten.

»Hallo, Maria«, wandte sich meine Begleiterin an die Frau hinter dem Empfangstresen. »Ich glaube, die junge Dame hier möchte anreisen.«

Sie zwinkerte mir aufmunternd zu, bevor sie sich verabschiedete. Anscheinend würde mich nun Maria weiterbetreuen.

»Wie heißen Sie denn?« Obwohl Maria bestimmt schon fünfzig war, trug sie ihre schwere, schokobraune Haarmatte zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie schielte unter dem gerade geschnittenen Pony hindurch. Ich brauchte einen Moment lang, um das Auge zu identifizieren, mit dem sie mich ansah.

»Ziegler. Liliana.«

Die Empfangsdame blätterte hinter der Kante des Tresens. Im Dekolleté ihres dunklen Hosenanzugs glitzerte eine goldene Kette.

»Sie stehen nicht auf meiner Liste«, blaffte sie im nächsten Augenblick vorwurfsvoll.

Ich starrte sie wortlos an.

M. Alberti-Bartholomeitschak – Leitung Empfang, las ich auf dem Namensschild am Revers von Marias Hosenanzug. Ein Wunder, dass der Name auf das Schild gepasst hatte. Wer war denn auf die Idee gekommen, ausgerechnet Maria zur Oberempfangsdame einer Klinik zu machen, in der sie Patienten mit Depressionen und Angststörungen begrüßen musste? Genauso gut hätte Godzilla die Gäste willkommen heißen können, der hätte sie auch nicht mehr erschreckt.

Maria brütete schweigend über ihrer Liste und ich hatte nicht vor, irgendetwas zur Problemlösung beizutragen.

»Haben Sie Ihre Papiere dabei?«, erkundigte sie sich schließlich.

Vielleicht war Godzilla die einzige Empfangsdame hier und deshalb automatisch ihre eigene Chefin?, überlegte ich. Ich legte die dünne Pappmappe, die mir die Schwester im Krankenhaus bei der Entlassung in die Hand gedrückt hatte, auf den Tresen.

»Simanowski-Ziegler, sagen Sie das doch gleich«, schnauzte die Frau nach einem prüfenden Blick auf den Deckel. Dann holte sie so tief Luft, als wollte sie mich rückwärts wieder zur Tür hinauspusten wie der böse Wolf eines der drei kleinen Schweinchen.

»Also: Wir können Ihnen ein Dreibettzimmer anbieten, da übernimmt Ihre Krankenkasse die gesamten Kosten. Wenn Sie ein Zweibettzimmer wollen, müssen Sie zehn Euro pro Tag zuzahlen, ein Einzelzimmer kostet zwanzig Euro pro Tag, zahlbar im Voraus für die ersten vier Wochen des Regelheilverfahrens. Sollte das Heilverfahren verlängert werden, werden die zusätzlichen Zimmerkosten natürlich auch für die Dauer des verlängerten Aufenthaltes im Voraus fällig. Wie hätten Sie es gern?«

»Ein Dreibettzimmer?« Ich blinzelte verdutzt. Während ihres heruntergeratterten Vortrages hatte Maria nicht ein einziges Mal Luft geholt, deshalb war ich mir nicht sicher, ob ich alles richtig mitbekommen hatte.

»Ein Zweibettzimmer kostet eine Zuzahlung von zehn Euro pro Tag, ein Einzelzimmer zwanzig Euro pro Tag, zahlbar im Voraus …«, begann Maria erneut, ihren Text herunterzubeten wie das Vaterunser im Konfirmandenunterricht.