Umschlag

Sunil Mann

Gossenblues

Kriminalroman

 
 

Über das Buch

Am Grab seines Vaters trifft Vijay Kumar auf eine merkwürdige Frau. Sie beauftragt den Privatdetektiv, nach Gaudenz Pfister zu suchen. Vijays Nachforschungen bringen ans Licht, dass Pfister als Obdachloser unter dem Spitznamen ›Fischli‹ auf der Straße lebt. Dabei hätte der einstige Banker genug Geld für einen Neuanfang haben müssen.

Wenig später ist nicht nur Gaudenz Pfister, sondern auch Vijays Auftraggeberin tot. Der Fall nimmt Ausmaße an, wie sie der Detektiv nie erwartet hätte.

Der Autor

Sunil Mann wurde als Sohn indischer Einwanderer im Berner Oberland geboren. Er ist als Flugbegleiter tätig, ein Job, der ihm genügend Zeit zum Schreiben lässt. Viele seiner Kurzgeschichten wurden ausgezeichnet. Mit seinem Romandebüt Fangschuss, dem ersten Krimi mit Vijay Kumar, gewann er den ›Zürcher Krimipreis‹. Die Fangemeinde seines liebenswerten Detektivs wächst von Buch zu Buch.

www.sunilmann.ch

Mittwoch

»Verd…!« Wie angewurzelt blieb ich stehen. Erst jetzt, da die aufgewühlten Gedanken verstummten und das Knirschen meiner Schritte auf dem verschneiten Kiesweg ausgesetzt hatte, wurde ich mir der Stille bewusst, die mich umgab. Die Geräusche der Stadt drangen nur gedämpft hierher, ein entferntes Rauschen, als läge jenseits der Friedhofsmauern das Meer. Einzig mein Atem klang unangenehm laut und angestrengt.

Mit einem ärgerlichen Ächzen drehte ich mich um, sodass ich wieder das klassizistische Eingangsportal aus Sandstein im Blickfeld hatte. Ich hatte tatsächlich die Blumen vergessen! Dabei war ich am Vortag extra früh aufgestanden, um einen schönen Strauß auf dem Markt am Helvetiaplatz zu kaufen. Ein Bouquet Christrosen mit Wacholder und Efeu, das, gut sichtbar, in einem Whiskyglas auf meinem Bürotisch stand. Trotzdem hatte ich es in meiner Zerstreutheit beim Verlassen der Wohnung übersehen. Kurz erwog ich zurückzugehen, und ein Teil von mir haschte erleichtert nach diesem Aufschub, doch ich verwarf die Idee sogleich wieder. Zu weit, zu mühsam, zu zwecklos. Wer hier lag, für den spielte Zeit ohnehin keine Rolle mehr. Ich würde morgen nochmals herkommen. Mit den Blumen.

Langsam ging ich weiter. Ein kühler Januarnachmittag, und wie eigentlich immer in dieser Jahreszeit hing seit Tagen eine undurchdringliche Hochnebeldecke über Zürich. Gegen Abend sollte es aber laut Wetterbericht etwas aufklaren, entsprechend bitterkalt würde es in der Nacht werden.

Wie meist wählte ich einen Umweg, ein winziger Aufschub vor dem Unvermeidlichen. Ich kam an weiten, schneebedeckten Rasenflächen vorbei, an wuchtigen, von der Witterung gezeichneten Statuen, an pompösen Grabstätten mit goldenen Inschriften, die die einstige Wichtigkeit der Darunterliegenden demonstrieren sollten. Einmal mehr stellte ich fest, dass sich die kulturelle Vielfalt dieser Stadt auch auf dem Friedhof spiegelte. Da hier jede Konfession zugelassen war, stieß man immer wieder auf Gräber, die bunt, chaotisch oder sogar überbordend fröhlich geschmückt waren und mit ihrem Krimskrams und Nippes einen reizvollen Kontrast zur vorherrschenden protestantischen Strenge bildeten.

Im Sommer verwandelte sich der Friedhof Sihlfeld in eine lauschige, üppig begrünte Parkanlage, die stellenweise an ein Labyrinth erinnerte. Gespenstisch karg und verlassen wirkte sie hingegen im Winter. Keine Menschenseele war zu entdecken, die Zypressen schienen zu bedrohlichen Wällen zusammengerückt zu sein, während die kahlen Äste der Laubbäume skelettartig in die diesige Luft ragten. Die Stille umschloss mich wie ein Kokon, ein Gefühl, als befände ich mich unter Wasser. Ich atmete tief aus, um den beklemmenden Druck auf meiner Brust loszuwerden, doch es half nicht.

Mittlerweile hatte ich auf Nebenwegen mein Ziel beinahe erreicht. Eine mit Kastanienbäumen bepflanzte Allee führte zum Krematorium, das an einen griechischen Tempel erinnerte, zwei Sphinxe bewachten den Zugang zum Vorhof. Das Atrium selbst wurde von einem großen Bassin dominiert, links davon, hinter dem Kreuzgang, lagen die Urnengräber.

Als ich um die Ecke bog, stand an meinem Ziel eine mir unbekannte Frau. Sofort hielt ich inne und glitt nach kurzem Abwägen geräuschlos hinter einen Baumstamm. Vielleicht war es die andächtige Haltung der Fremden, die mir verbot, sie zu stören. Womöglich auch meine berechtigte Befürchtung, sie könnte mich ansprechen, etwas von mir wissen wollen, wenn ich mich jetzt zu ihr gesellte. Denn Small Talk war das Letzte, wonach mir der Sinn stand.

Die Frau hielt den Kopf gesenkt, sodass ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte, die Hände waren gefaltet. Der beigefarbene Mantel war zu weit, lose fiel der Stoff über die Schultern und betonte ihre hagere Statur, die fahlblonden, etwas strähnigen Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Die Hosenbeine waren in die abgewetzten Schäfte der Lederstiefel gestopft. Ihre Kleidung war so schäbig, als trüge sie sie schon seit Jahren.

Unvermittelt beugte sich die Frau vor und legte eine einzelne weiße Lilie auf das Grab. Die Totenblume. Dann richtete die Unbekannte sich wieder auf, trat einen Schritt zurück und bekreuzigte sich. Einen Moment lang verharrte sie reglos in dieser Position und ich lehnte mich etwas vor, damit ich ihr Profil studieren konnte. Ich schätzte sie auf Mitte dreißig, doch ihr verhärmtes Aussehen ließ sie älter erscheinen. Sie war ungeschminkt, ihre Gesichtszüge eingefallen, die Haut grobporig, unrein – und sie hatte Tränen in den Augen. Jetzt war ich mir sicher, die Frau noch nie gesehen zu haben. Rasch zog ich mich hinter den Baumstamm zurück.

Beinahe gleichzeitig drehte sich die Besucherin weg, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und schritt hastig durch die Grabreihen davon. Sie schien mich nicht bemerkt zu haben.

Nachdem sie außer Sicht war, verließ ich mein Versteck und trat an dasselbe Grab, an dem die Fremde eben gestanden hatte.

Noch immer traf mich der Anblick des schlichten Grabsteins mit dem vertrauten Namen wie ein Faustschlag. Zwar hatte der Schmerz seine schneidende Schärfe verloren, die Trauer jedoch hatte sich als bleierner, stetig schwelender Knoten unterhalb meines Brustbeins eingenistet.

Die Vorstellung, dass da vor Kurzem noch jemand geredet, gelacht und geliebt hatte, bevor sein ganzes Dasein von einer Sekunde auf die nächste ausgelöscht worden war, sodass nichts übrig blieb außer diesem Fleck eiskalter Erde, in dem eine Urne mit etwas Asche lag, war für mich nach wie vor unfassbar.

Erstaunlicherweise hatte sich meine Mutter damit weit weniger schwergetan als ich. Nach einer kurzen, aber heftigen Trauerphase schien sie sich mit den Umständen arrangiert zu haben. Das Ende des irdischen Lebens war für sie Teil des unabänderlichen Zyklus von Tod und Wiedergeburt und es war laut ihr nur eine Frage der Zeit, bis alle einander nahestehenden Menschen wiedervereint wurden. Insgeheim beneidete ich sie um diesen fest verankerten Glauben. Ich selbst konnte mir ein jenseitiges Leben als Zwischenstopp vor der Rückkehr in diese Welt schlicht nicht vorstellen, so tröstlich der Gedanke auch sein mochte. Angesichts der stetig wachsenden Weltbevölkerung ging das schon rein rechnerisch nicht auf, zudem musste dieser himmlische Pausenraum zwischenzeitlich vollgestopfter und stickiger sein als der Bus der Linie 32 im Feierabendverkehr. Aber ich war wohl zu sehr Realist.

Drei Wochen war es nun her. Zwar war es absehbar gewesen, dass mein Vater sterben würde. Die Demenz hatte ihn in der letzten Phase seines Lebens auf einen Schatten seiner selbst reduziert, hatte ihn zu einem brabbelnden, unselbstständigen, vor sich hin vegetierenden Wesen gemacht, an dem nichts mehr an den Mann erinnerte, den ich kannte. Das Ende konnte auch eine Erlösung sein. Dennoch hatte mich die Nachricht seines Todes kalt erwischt. Weil da immer ein Funke Hoffnung blieb, irrational, kindlich und gegen jedes bessere Wissen.

Still betrachtete ich sein Grab. Meine Mutter hatte rosa blühende Heidestauden gepflanzt und ein paar dieser Grablichter in roten Plastikbehältern aufgestellt. Wie jedes Mal, wenn ich hier stand, hatte ich das Gefühl, etwas Bedeutungsvolles sagen zu müssen oder wenigstens zu denken. Doch ich brachte kein Wort über die Lippen, mein Kopf war wie leer gefegt. Unbeholfen wischte ich schließlich etwas Schnee vom Grabstein, warf noch einmal einen Blick auf die weiße Lilie, die zwischen den Heidebüschen lag, und ging.

Der Bus der Linie 72 stand mit geöffneten Türen an der Tramhaltestelle, als ich durch das Friedhofsportal trat. Weil es bereits später Nachmittag war und der Feierabendverkehr um diese Zeit die Straßen der Stadt verstopfte, hatte ich für die Anreise die öffentlichen Transportmittel benutzt und meinen hellblauen Käfer zu Hause stehen lassen.

Ich spurtete über die Aemtlerstrasse und bedankte mich beim Fahrer mit einem Nicken dafür, dass er gewartet hatte.

Beim Einsteigen entdeckte ich sie. Die Frau saß auf einem erhöhten Sitz über dem Rad. Das Kinn in die Hand gestützt, schaute sie aus dem Fenster, doch ihr Blick zielte ins Leere. In ihrem Gesichtsausdruck mischten sich Verzweiflung und Trauer. Jäh verspürte ich Mitleid mit ihr, obschon ich sie gar nicht kannte. Mein Vater musste ihr viel bedeutet haben.

Einen Moment lang erwog ich, sie anzusprechen, doch sie war so in Gedanken versunken, dass ich es nicht für angebracht hielt. Stattdessen wählte ich einen Platz zwei Sitzreihen hinter ihr und fragte mich, wer sie wohl sein mochte, was sie mit meinem Vater verband und wo sich ihre Lebenswege gekreuzt hatten.

Die wenigen Leute, mit denen er vor dem Ausbruch seiner Krankheit näheren Umgang gepflegt hatte, waren mir alle bekannt, sie hatten ihn auch ab und zu im Pflegeheim besucht. Dazu gehörten ehemalige Arbeitskollegen oder treue Kunden aus dem indischen Lebensmittelladen, den er lange Zeit zusammen mit meiner Mutter an der Langstrasse geführt hatte. Und natürlich Landsleute, die es ebenfalls in die Schweiz verschlagen hatte, obschon er sich in der Gemeinschaft der Exilinder nie besonders engagiert hatte. Was vermutlich daran lag, dass mein Vater bereits vor über vierzig Jahren in die Schweiz übergesiedelt war, lange bevor die IT-Branche im großen Stil indische Fachkräfte ins Land lockte und immer mehr Köche für die neu eröffnenden indischen Restaurants gebraucht wurden. Er gehörte schlicht einer anderen Generation von Einwanderern an.

Trotzdem waren überraschend viele Gäste bei der Trauerfeier aufgetaucht und die meisten von ihnen hatten im Anschluss auch am Leichenschmaus – welch grässlicher Begriff! – in Kumar’s Palace teilgenommen. Weder im Pflegeheim noch auf dem Friedhof oder beim nachfolgenden Essen hatte ich jedoch diese Frau gesehen, da war ich mir ganz sicher. Sie wäre mir garantiert aufgefallen, weil sie überhaupt nicht in den Bekanntenkreis meines Vaters passte.

Der Bus bremste an der Haltestelle Bertastrasse ab und fuhr dann am Zwinglihaus vorbei Richtung Schmiede Wiedikon. Die Frau starrte immer noch durch die Scheibe. Tränen liefen ihr über die Wangen, ohne dass sie sie abwischte.

Der Bus hielt erneut an, mit einem Zischen öffneten sich die Türen und etliche Fahrgäste stiegen aus. Eigentlich hatte auch ich das Ziel meiner Fahrt erreicht, doch meine Neugier ließ mich sitzen bleiben.

Kurze Zeit später erreichten wir den Manesseplatz und durchquerten danach einen etwas heruntergekommenen Teil Zürichs. Hier reihten sich entlang der Straße monotone Wohnblocks lückenlos aneinander. Die Farben der Fassaden waren in den ungezählten Jahren im Abgasdunst stumpf geworden, die Rollläden vor vielen Fenstern heruntergekurbelt und von rußigen Schlieren überzogen.

Während ich das Halbprofil der Frau unauffällig studierte, überlegte ich, weshalb sie nicht auf der Beerdigung erschienen war, wenn sie so um meinen Vater trauerte. Möglicherweise war sie verhindert gewesen. Ihr Erscheinungsbild entsprach allerdings niemandem, der viel beschäftigt oder oft auf Reisen war, doch das konnte natürlich täuschen. So, wie sie vorhin am Grab gestanden hatte, verband sie etwas Wichtiges mit meinem Vater. Die Geste, mit der sie die Lilie hingelegt hatte, war behutsam, beinahe zärtlich gewesen.

Mit einem Mal durchzuckte mich ein verstörender Gedanke. Vielleicht war sie nicht bei der Beisetzung gewesen, weil meine Mutter nichts von ihr wusste. Oder nur zu gut wusste, wer die Frau war, und sie deshalb nicht eingeladen hatte.

Der Bus beschleunigte und ich blickte durch das winterlich kahle Geäst der Uferbepflanzung auf die Sihl, die in der Tiefe dahinplätscherte. Ich hatte mir nur selten Gedanken über die Beziehung meiner Eltern gemacht, selbstverständlich hatte ich aber ihre Krisen, wie sie wohl in jeder langjährigen Ehe vorkommen, bemerkt. Trotzdem hatte ich sie stets als eine unzerstörbare Einheit empfunden, zwei Menschen, die sich bis zum Ende herzlich zugetan waren, wenn auch ihr Umgang oftmals etwas ruppig gewesen war. Die Vorstellung, dass mein Vater eine Geliebte gehabt haben könnte, fand ich ziemlich abwegig.

Aber was wusste ich schon über meine Eltern? Wir alle erfinden unser Leben, beschönigen vieles und lassen Unerwünschtes weg, damit wir vor unserem Umfeld so dastehen, wie wir gerne wären, wie wir gerne geliebt würden, selbst wenn dieser Entwurf oft weit von der Realität abweicht. Väter sind da keine Ausnahme. Natürlich sieht man mit der Zeit hinter die Fassade und entdeckt gerade als Kind so manches, das die Eltern gern vor einem geheim gehalten hätten. Aber ehrlicherweise musste ich mir eingestehen, dass ich viel zu wenig über meinen Vater wusste, um ernsthaft beurteilen zu können, ob er den Nerv für eine außereheliche Affäre gehabt hätte. Ich konnte mich nur an das Bild von ihm halten, das er für mich gemalt hatte.

Zu meiner Rechten tauchte jetzt das Einkaufszentrum Sihlcity auf, der Bus bog jedoch links ab und passierte den Waffenplatzpark. Die Strecke führte anschließend quer durch die Enge, ein gutbürgerliches Quartier mit beeindruckenden Jugendstilhäusern und gepflegten Gärten. An der Endhaltestelle stieg die Frau aus. Morgental.

Wir befanden uns nah am südlichen Stadtrand und ein verstaubter dörflicher Charakter zeichnete die Gegend aus. Wäre die Frau jetzt geradewegs den Hügel hinuntergelaufen, hätten wir in wenigen Minuten das Ufer des Zürichsees erreicht. Doch stattdessen schritt sie die leicht ansteigende Straße hoch, an einem Friseur und der benachbarten Drogerie vorbei. Wie schon auf dem Friedhof bewegte sie sich seltsam gehetzt, ging mit kleinen, schnellen Schritten. Sie erinnerte mich an ein scheues Tier, das sich ohne Deckung ausgeliefert fühlt.

Ich folgte ihr in einigem Abstand, denn ich wollte unbedingt in Erfahrung bringen, wer sie war, wo sie wohnte. Und was sie mit meinem Vater zu tun gehabt hatte. Die Türklingel oder der Briefkasten würden mir ihren Namen verraten, danach würde ich aller Wahrscheinlichkeit nach im Internet mehr über sie herausfinden.

Plötzlich flog ihr Kopf zur Seite, eine halbe Drehung bloß, aber ich konnte auch so erkennen, wie sich ihre Nasenflügel kurz blähten. Sie hatte die Gefahr gewittert, meine Beschattung war aufgeflogen.

Die Frau ging jetzt schneller und bog nach dem Reformhaus scharf um die Ecke. Sofort verlangsamte ich meine Schritte, um ihr etwas Vorsprung zu gewähren, auch in der Hoffnung, dass sich dadurch ihr Argwohn legte. Als ich jedoch den Durchgang zwischen den beiden Häusern betrat, erwartete sie mich schon. Wir befanden uns in einer Art Sackgasse, von zwei Garagen begrenzt, entlang der Wand standen Müllcontainer. Eine schmale Treppe führte durch eine mit Obstbäumen bepflanzte Grünfläche zur nächsten Querstraße hoch. Die Frau stand auf der ersten Treppenstufe, bereit zur Flucht, doch ihr Körper war angriffslustig vorgebeugt, die Miene herausfordernd.

»Was willst du?« Ihre Stimme klang kühl, doch der Blick flackerte, als wüsste sie aus eigener Erfahrung, was einer Frau in Sackgassen widerfahren konnte.

»Sie haben eben ein ganz bestimmtes Grab auf dem Friedhof Sihlfeld besucht.«

Ihre Lider zuckten. »Und?«

»Ich bin der Sohn des Verstorbenen.«

Ein paar Atemzüge lang musterte sie mich eingehend, dann nestelte sie, ungehalten seufzend, eine Zigarette aus ihrer Handtasche und zündete sie an. »Was erwartest du jetzt von mir?«

»Was verbindet Sie mit meinem Vater?«

»Geht dich nichts an.«

»Darf ich fragen, woher Sie ihn kannten?«

»Nein.«

Ich hielt ihrem herausfordernden Blick stand. Dann fingerte ich eine Visitenkarte aus meiner Gesäßtasche und reichte sie ihr. »Sehen Sie? Gleicher Name.«

Ihr linker Mundwinkel verrutschte zu einem mitleidigen Lächeln. »Vijay Kumar. Du bist also Schnüffler?«

»Privatdetektiv.« Einen Hauch Berufsstolz hatte ich in den vergangenen Jahren doch entwickelt.

Die Frau besah sich die Karte genau und drehte sie dann um, als ob sie dort weitere Informationen erwartete.

»Dein Vater hat manchmal von dir erzählt«, sagte sie, ohne aufzublicken, und ein Anflug von Wärme schlich sich in ihren Tonfall. »Er war sehr stolz auf dich.«

Meine Kehle wurde schlagartig eng.

»Er hat zwar erwähnt, dass du selbstständig bist«, bemerkte sie nachdenklich, »aber dass du Privatdetektiv bist, wusste ich nicht.«

Sekundenlang starrte sie auf meine Karte, dann hob sie ruckartig den Kopf. Sie öffnete die Lippen, verschluckte dann aber den Satz, der ihr eindeutig auf der Zunge gelegen hatte.

»Was?«

»Ich muss los«, erklärte sie, plötzlich wieder in Eile, drängte sich an mir vorbei und hastete aus der Sackgasse.

Sie rief mich noch am selben Abend an.

Ich hatte eben meine Jacke ausgezogen, die Schuhe abgestreift und mir eine schmerzlindernde Portion Amrut eingeschenkt. Meine Schritte klangen seltsam verloren auf dem knarrenden Parkett. Noch immer kam mir die leere Wohnung fremd vor und ich fragte mich, wann ich mich daran gewöhnen würde. Die Lücken, die manche Menschen hinterließen, waren groß genug, um einen zu verschlingen.

Ich stellte mich ans Fenster und schaute auf die Dienerstrasse hinunter. Dick eingepackte Spaziergänger wackelten vorbei, Schnee lag auf den Dächern der umliegenden Häuser und in der beißenden Kälte sah der Asphalt brüchig und ausgetrocknet aus. Ich hatte gerade einen ersten Schluck von meinem indischen Lieblingswhisky genommen, als mein Handy klingelte.

Die Friedhofsfrau hieß Franziska Zehnder, wie sie mir verriet. Nach unserem Treffen am Nachmittag habe sie gründlich nachgedacht und müsse mich dringend treffen. Am Telefon wolle sie aber nicht darüber sprechen, es handle sich um eine heikle Situation und sie sei auf äußerste Diskretion angewiesen.

Ich sagte ihr, dass ich gerade vorhatte, mich gründlich zu betrinken, und erst am nächsten Tag wieder im Dienst sei.

Donnerstag

Dass in der Filiale einer Schweizer Großbank dereinst anstelle von potenziellen Kreditnehmern Spareribs und Schweinsbratwürste gegrillt würden, hatten die Finanzanalysten wohl kaum vorausgesehen. Doch im erst vor einem Jahr eröffneten Trendlokal Bank direkt am Helvetiaplatz lockte man genau damit die Kundschaft. Heute investierte man hier nicht mehr in Hedgefonds, sondern in hauseigene Cocktails, der Gewinn daraus war – zumindest kurzfristig – genauso beglückend. Entsprechend konnte der eigene Aktienkurs im Verlauf eines Abends je nach Konditionen an- oder absteigen, doch wenn man geschickt anlegte und die Bonitätsprüfung bestand, stieg man rasch im Rating und manchmal kam es danach sogar zu einer Fusion mit anschließendem Freiverkehr als Bonus. Allzu oft endete der Abend aber in einem veritablen Crash, bei dem die eigene Kreditwürdigkeit angezweifelt wurde und man ohne Fremdkapital den Turnaround nicht schaffte.

Ich kalauerte in Gedanken vor mich hin, während ich auf meine Bestellung wartete. Zwar war es noch zu früh für Gegrilltes, doch der Kaffee wurde von einem immerhin italienisch aussehenden Barista zubereitet und schmeckte erfahrungsgemäß großartig, das knusprige Brot stammte aus der hippen Bäckerei nebenan und es gab jeden Tag Frühstück bis elf, was mir sehr entgegenkam, seit ich wieder allein wohnte. Hinzu kam das ansprechende Interieur. Außer den goldenen Lettern über dem Eingang erinnerte nichts mehr an die frühere Bank: unverputzte Wände, frei liegende Lüftungsrohre und rosa gestrichene Stahlträger, die den vier Meter hohen Raum locker unterteilten, lange Sitzbänke entlang der Wand und schick aussehende Bistrotischchen, dazwischen exotisch anmutende Pflanzen in Kübeln. Das Publikum war überraschend gemischt. Alteingesessene aus dem Quartier verkehrten hier genauso wie Szenemütter mit Kinderwagen und Tablet. Man traf auch immer noch diese auf jung getrimmten Männer in zu engen Hosen und sündhaft teuer aussehenden Schuhen an, die nicht mitbekommen hatten, dass der Trend der Hornbrillen und Zottelbärte höchstens noch im Appenzeller Hinterland beklatscht wurde. Hinter ihren Laptops verbarrikadiert, schlürften sie einen ›Flat White Double Shot‹ oder wie auch immer sie einen Milchkaffee in ihrer globalisierten Hipstersprache nannten. Daneben Obdachlose, die sich ein paar Minuten im Eingangsbereich der Bank aufwärmten, bevor sie von den Kellnern verscheucht wurden.

Im Verlauf der Jahre hatte sich meine einst kategorische Aversion gegen die wie Pilze aus dem Boden schießenden Trendlokale in diesem Quartier gelegt. Weniger aus Altersmilde als aus Erfahrung. Denn was als hip und chic gepriesen wurde, musste nicht zwangsläufig schlecht sein, so meine Erkenntnis. In vielen Fällen waren die neuen Läden einladender und qualitativ überzeugender als ihre oftmals schmuddeligen Vorgänger mit den seit der Einführung der Bundesverfassung unveränderten Speisekarten.

Ich hatte eben mein Frühstück beendet, als Franziska Zehnder das Café betrat. Sie stampfte kurz auf, um den Schnee von ihren Schuhen loszuwerden, zog ihre gestrickten Handschuhe aus und sah sich suchend nach mir um. Ich winkte ihr zu und sie lächelte flüchtig.

Aus mir schleierhaften Gründen hatte sie es strikt abgelehnt, das Gespräch bei sich zu Hause zu führen. Sie zöge einen Treffpunkt in der Öffentlichkeit vor, hatte sie erklärt, als hielte sie mich für einen rückfallgefährdeten Sexualstraftäter auf Freigang. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, so musste ich wenigstens nicht erneut quer durch die Stadt bis nach Wollishofen fahren. Allerdings hatte sie für unser Rendezvous das Migros-Restaurant am Limmatplatz vorgeschlagen. Erst nach einigem Hin und Her hatte ich ihr das Selbstbedienungslokal der größten Schweizer Supermarktkette ausreden können. Nicht wirklich die erste Wahl für eine geschäftliche Besprechung.

»Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte Franziska Zehnder zur Begrüßung, als sie an meinen Tisch trat.

»Das ist mein Job«, erwiderte ich und wies auf den freien Stuhl gegenüber.

Verdutzt registrierte ich, dass sie mich im Gegensatz zu gestern siezte. Wahrscheinlich weil unser Wiedersehen heute in einem offizielleren Rahmen stattfand und sie im Begriff war, meine Auftraggeberin zu werden.

Sorgfältig faltete Frau Zehnder ihren Mantel und legte ihn auf den benachbarten Stuhl, bevor sie sich setzte. Heute war sie leicht geschminkt, Lippenstift und etwas Wimperntusche, das Haar hatte sie hochgesteckt. Wie ich gestern schon bemerkt hatte, wirkte sie wesentlich älter als sie vermutlich war.

Flüchtig sah sie sich um, zog dann den Kopf kaum merklich ein und lächelte zaghaft. In dieser Art von Lokal schien sie sich nicht besonders wohlzufühlen, hatte ich den Eindruck, doch erst als sie die Karte überflog und dann viel zu schnell wieder zuklappte, ahnte ich, woher ihre Unsicherheit rührte. Die Migros passte plötzlich perfekt ins Bild.

»Ich nehme nur ein Glas Wasser«, ließ sie den Kellner wissen, doch ich griff sofort ein und bestellte trotz ihrer Einwände Kaffee für uns beide.

Sobald die Bedienung außer Hörweite war, holte sie ihr Portemonnaie hervor, sah den Preis des Kaffees auf der Getränkekarte nach und klaubte den Betrag – diesmal trotz meines Einwandes – höchst umständlich, dafür aber auf den Rappen genau heraus.

Während sie sich über ihre Brieftasche beugte, musterte ich Franziska Zehnder diskret. Obschon es an ihrer Kleidung – olivgrüne Strickjacke, schwarze Bluse und eine weite Hose – nichts zu beanstanden gab, konnte man deutlich erkennen, dass sie abgetragen war. Die Bündchen der Jackenärmel waren ausgeleiert, der Cardigan beulte sich und das Oberteil war so verwaschen, dass sich eine nebelgraue Maserung über den Stoff zog. Ich tippte auf Secondhandshop oder eher noch Caritasladen.

»Sie wollen mich also engagieren?«, versicherte ich mich, nachdem sie mir die Münzsammlung über den Tisch zugeschoben hatte.

Erleichtert blickte Frau Zehnder auf. Wahrscheinlich war sie froh, dass ich sie nicht erneut über ihr Verhältnis zu meinem Vater löcherte.

Doch da wiegte sie sich in falscher Sicherheit. Denn das Thema interessierte mich nach wie vor brennend. Ich hatte mir allerdings vorgenommen, einen günstigen Moment abzuwarten, bevor ich sie ausfragte. Denn nachdem ich gestern gegen eine Wand angerannt war, wusste ich, dass Franziska Zehnder nicht von sich aus Auskunft geben würde. Aber jeder Mensch hatte Schwachstellen und ich war mir sicher, dass ich ihre im Verlauf unseres Gesprächs entdecken würde. Das war der wahre Grund, weshalb ich sie hatte sehen wollen. Ihr Auftrag interessierte mich nicht die Bohne.

»Es ist so …«, begann sie und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Mir ist die Angelegenheit ein wenig peinlich, vielleicht verstehen Sie das. Sie haben sicher oft seltsame Anfragen?«

Ich erwiderte nichts. Zehnder wirkte nervös, ihre Hände taumelten durch die Luft, während sie sprach. Wie Vögel, die gegen eine Fensterscheibe geknallt waren.

»Es gibt da jemanden, einen Bekannten. Ist einige Jahre her. Er war mir damals sehr wichtig und ich hätte ihn gern wiedergesehen. Leider ist er wie vom Erdboden verschluckt, ich zumindest habe keinen Hinweis zu seinem Verbleib gefunden. Könnten Sie ihn für mich ausfindig machen?« Sie zupfte an ihrem Ohrläppchen und presste die Lippen zusammen. »Ich vermisse ihn schrecklich«, fügte sie hinzu und der Satz blieb wie eine Frage zwischen uns hängen.

Ich wartete ab, ob sie gedachte fortzufahren, doch augenscheinlich war das alles, was sie sich zurechtgelegt hatte. Man musste kein Detektiv sein, um darauf zu kommen, was hier los war. Es stand überdeutlich in ihrem Gesicht, sprach aus ihrer nebulösen Anfrage, den fahrigen Gesten. Genauso gut hätte sie ein Schild mit der Nachricht hochhalten können. Franziska Zehnder war keine schlechte Lügnerin, nein, sie war eine unvorstellbar miserable Lügnerin. Doch ich war gespannt, worauf ihre magere Geschichte hinauslief, deshalb blieb ich sitzen und spielte mit.

»Wer ist der Mann?«, erkundigte ich mich.

»Ich habe ihn vor ungefähr fünf, sechs Jahren kennengelernt. Dann haben wir uns aus den Augen verloren.«

»Sicher erinnern Sie sich an seinen Namen?«

»Gaudenz, Gaudenz Pfister.«

»Woher kommt er?«

»Zürich. Da haben wir uns auch kennengelernt.«

»Wo denn?«

»In der Roten Fabrik.«

Ein ehemaliges Fabrikareal am linken Seeufer, das aus roten Backsteinen besteht und heute als Kulturzentrum genutzt wurde.

»Sein Beruf?«

»Darüber haben wir nie geredet.«

»Haben Sie ein Foto von diesem Gaudenz Pfister?«

»Nein, leider nicht.«

»Beschreiben Sie den Mann.«

»Mittelgroß.« Frau Zehnder stockte. »Graues, kurz geschnittenes Haar. Damals trug er keinen Bart, aber das kann sich natürlich geändert haben …«

»Alter?«

»Zwischen fünfzig und sechzig.«

»Irgendwelche besonderen Merkmale?«

»Ich erinnere mich an keine.«

Ich notierte mir ihre Angaben, obschon sie so vage waren, dass sie auf einen Großteil der männlichen Bevölkerung über fünfzig zutrafen. »Ich nehme an, Sie haben bereits im Telefonverzeichnis und im Internet nach ihm gesucht?«

»Ja, aber ohne Erfolg.«

»Waren Sie bei der Polizei?«

Franziska Zehnder machte eine abwehrende Geste. »So wichtig ist die Angelegenheit nicht. Ich würde ihn einfach gern wiedersehen. Das ist eine private Anfrage, keine Vermisstenmeldung.«

Da war er wieder, der ranzige Geruch der Lüge.

»Also wird er nicht vermisst?«

»Offiziell?«

»Ja, offiziell.«

»Ich glaube nicht …«

»Haben Sie Kontakt zu seinem Umfeld?«, fragte ich, obschon ich die Antwort bereits wusste.

Wie erwartet, schüttelte Frau Zehnder den Kopf.

»Welche Art von Verhältnis verband Sie mit ihm?«

»Wie meinen Sie das?«

»Waren Sie befreundet? Liiert?«

»Wir waren damals kurz ein Paar …« Sie brach ab, ihre Wimpern flatterten. Gefährliches Terrain, sie wusste es und ich sowieso.

Sie langte nach ihrem Portemonnaie, das noch auf dem Tisch lag, und entnahm ihm ein Bündel Banknoten. Sie sahen relativ neu aus, in der Mitte hatten sie einen Falz.

»Ich weiß nicht, wie viel so etwas kostet. Aber ich möchte, dass Sie den Mann finden.« Frau Zehnders Blick blieb an den Scheinen hängen, bevor sie sie mir bestimmt zuschob. Dabei war ein leises Knirschen zu hören und ein paar Zuckerkristalle rieselten auf die Tischplatte. Vermutlich hatte Franziska Zehnder die Noten in einer entsprechenden Dose aufbewahrt.

Ich zählte die Scheine durch. Dafür, dass ihr die Suche nicht so wichtig war und sie eben kaum die Summe für einen Kaffee zusammengebracht hatte – von der ärmlichen Bekleidung ganz zu schweigen –, lag da eine ordentliche Stange Geld auf dem Tisch.

»Je schneller, desto besser.«

In ihrem Gesicht konnte ich dieselbe Entschlossenheit wie gestern erkennen. Da war sie mutig in der Sackgasse stehen geblieben, bereit, ihren Verfolger zur Rede zu stellen, obwohl der Vorsprung zur Flucht gereicht hätte. Ich fragte mich, aus welchen Gründen sie Gaudenz Pfister so dringend finden wollte, dass sie mit ihren womöglich gesamten Ersparnissen einen Privatdetektiv engagierte.

Zurück in meiner Zweizimmerwohnung, die gleichzeitig als Büro diente, startete ich den Laptop und öffnete das Mailprogramm. Sechzehn ungelesene Nachrichten, doch wirklich sinnvolle Meldungen waren über Nacht keine eingegangen. Seit meinem vierzigsten Geburtstag wurde ich mit Spam zugemüllt. Man bot mir Viagra und Penisverlängerungen zu Schnäppchenpreisen an, wies wenig dezent auf Prostatamittel, Tinkturen gegen Haarausfall und sensationelle Diätpillen hin, zudem warteten reife Hausfrauen auf irgendwelchen Parkplätzen in ihren Autos, um mich zwischen Bügelarbeit und Mittagessenkochen zu verwöhnen. Der Werbung zufolge schien der Mann ab vierzig ein derart deprimierendes Dasein zu führen, dass ich mich über ein Schnupperangebot von Exit, der Schweizer Sterbehilfeorganisation, nicht gewundert hätte.

Ich löschte den ganzen Kram und wechselte zu einer Suchmaschine, um nach Gaudenz Pfister zu fahnden. Drei Treffer insgesamt, doch ich war mir sicher, dass sich der Gesuchte nicht darunter befand, sonst hätte Franziska Zehnder mein Honorar garantiert in der Zuckerdose stecken lassen.

In rascher Abfolge klickte ich auf die Suchergebnisse, sie führten mich allesamt zu Facebook. Jeder der drei Kandidaten hatte Familie und Job, einer engagierte sich in einem politischen Gremium, ein anderer war Vorsitzender des Taubenzüchtervereins und spielte Curling in der Seniorenliga. Unglaublich, was man im Internet alles über Menschen herausfand. Der eine Pfister war ein großer Fan von Lebensweisheiten, die so banal waren, dass sich sogar Paulo Coelhos Nackenhaare gesträubt hätten. Ein anderer hatte offenbar einen Fußfetisch, denn auf den meisten Urlaubsfotos waren seine nicht besonders ästhetischen Zehen im Vordergrund zu sehen. Was dennoch jeweils etwa dreißig Leute mit einem virtuell erhobenen Daumen honorierten, wie ich schaudernd registrierte.

Auch im Telefonverzeichnis waren nur drei Pfisters aufgeführt. Zur hundertprozentig sicheren Abklärung rief ich sie an. Wie vermutet, machte keiner von ihnen einen vermissten Eindruck. Kinderlachen im Hintergrund, Taubengurren, eine Frau, vermutlich eine Sekretärin, die halblaut etwas wissen wollte. Zwei der Männer klangen außerdem deutlich jünger als fünfzig. Vor allem aber erinnerte sich keiner an eine Franziska Zehnder.

Danach ging ich die Vermisstenmeldungen auf der Seite der Schweizer Polizei durch. Ich war jedes Mal betroffen, wenn ich sah, wie viele Menschen offenbar spurlos verschwanden. Eine polizeiliche Suchaktion wurde jedoch nur in bestimmten Fällen eingeleitet. Bei Kindern und Minderjährigen zum Beispiel, beim Verdacht auf ein Verbrechen oder einen Unfall, bei Suizidgefahr und psychischen Problemen. Wenn hingegen eine Ehefrau von ihrem Kerl und den Blagen die Nase voll hatte und abhaute, war das vielleicht moralisch bedenklich, aber ihr gutes Recht. Kein Polizeikorps der Welt schickte eine Hundertschaft durch die Wälder, während es sich die Vermisste vermutlich in einem Tiroler Wellnessresort gut gehen ließ.

Ich schloss die Seite. Auch bei den Vermisstenmeldungen hatte ich keinen Hinweis auf Pfister gefunden.

Stöhnend streckte ich die Arme über den Kopf. Das hier war detektivische Erbsenzählerei, das langwierige und wenig spektakuläre Fundament unserer Arbeit. Weder dramatische Verfolgungsjagden noch verruchte Blondinen, die Zigaretten mit langen Filtern rauchten, keine Bösewichte mit Augenklappen und Perserkatzen auf dem Schoß. Bloß das exakte Nachprüfen aller Möglichkeiten. Eine so trockene Tätigkeit, dass mein Blick sehnsüchtig zur Whiskyflasche schweifte, doch es war noch nicht einmal Mittag. Noch war ich nicht so weit, dass flüssiger Lunch à la Harald Juhnke eine Option war, redete ich mir ein.

Ich öffnete die Wirtschaftsdatenbank Deltavista, gab mein Passwort und danach Pfisters Namen ein. Wenn der Gesuchte irgendwo einen Kredit aufgenommen oder einen Leasingvertrag abgeschlossen hatte, eine Hypothek abbezahlte, einen Vertrag mit einem Telefonanbieter eingegangen war oder einen Postnachsendeauftrag aufgegeben hatte, dann würde er garantiert in dieser Datenbank auftauchen. Für Privatdetektive war sie Gold wert.

Die Trefferquote war üblicherweise hoch, doch nicht in diesem Fall. Natürlich stieß ich wieder auf die drei mir bereits bekannten Männer, aber wenn ein vierter Gaudenz Pfister existierte, besaß der weder ein Handy, noch hatte er in den vergangenen Jahren irgendetwas auf Pump gekauft. In der heutigen Zeit eine derart riesige Ausnahme, dass es beinahe unmöglich schien.

Meine Suche war dadurch um etliche Stufen komplizierter geworden. Und mir graute zutiefst vor dem, was als Nächstes auf der Liste stand: das Abklappern sämtlicher Ämter nämlich. Einwohnermeldeamt, Zivilstandsamt, Finanzamt und so weiter.

Ich griff nach meinem Handy, doch nach kurzem Abwägen legte ich es wieder hin, langte nach der Whiskyflasche und goss mir eine motivierende Dosis Amrut ein. Juhnke war fast sechsundsiebzig geworden. So schädlich konnte flüssiger Lunch demnach gar nicht sein.

Der Wohnblock sah so makellos und unpersönlich aus, dass er – zu einer Miniaturausgabe geschrumpft – als Modelleisenbahnzubehör durchgegangen wäre. Bausatz ›Urbanes Vorstadtghetto‹. Die Fassade eierschalenfarben, Milchglas in den Balkonbrüstungen und Fenster, die auf bedrückend niedrige Zimmerhöhen schließen ließen. Eine frisch angelegte Buchsbaumhecke grenzte das Haus von der Straße ab.

Dank dem guten Dutzend Telefonate, bei dem ich scheinbar willkürlich von einer Amtsstelle zur anderen weiterverbunden worden war und mein Anliegen immer wieder aufs Neue hatte vorbringen müssen, stellte sich immerhin heraus, dass in den letzten Jahren kein Gaudenz Pfister als verstorben registriert worden war. Sonst hatte ich nur wenig über ihn in Erfahrung bringen können.

Glücklicherweise war die Namenskombination nicht besonders häufig. Nebst den drei bekannten Kandidaten erhielt ich nur einen einzigen weiteren Hinweis. Die letzte Wohnadresse, an der dieser vierte Gaudenz Pfister regulär gemeldet gewesen war, lag an der Segantinistrasse in Höngg, einem ruhigen und gutbürgerlichen Quartier im Westen der Stadt, das sich über die Südhänge des Käferbergs und des Waidbergs erstreckte. Die hohe Ärztedichte und eine Vielzahl an Praxen, die alternative Heilmethoden anboten, spiegelten die voranschreitende Überalterung. Aber auch bei Familien mit einem gewissen Einkommen war die Gegend beliebt, standen doch mehrere Naherholungsgebiete zur Verfügung, zudem hatte man einen großartigen Ausblick über die Stadt, auf die Limmat und die Werdinsel.

Ich war ein paar Minuten zu früh und blieb in meinem hellblauen Käfer sitzen. Im Radio jammerte einer dieser wahnsinnig sensiblen Jungs in weinerlichem Tonfall, dass er sein Leben selbst gestalten wollte, weil er doch keine Maschine sei. Das klang nach wuscheligem Haar und handgestricktem Pullover, nach einem richtigen Opfer. Vermutlich ließ er sich gern barfuß fotografieren, trank Kräutertee in Bioqualität und verwendete immer noch das Wort ›Petting‹. Die Teeniemädchen von heute waren echt nicht zu beneiden.

Ich zündete mir eine Zigarette an und kurbelte das Fenster runter. Eiskalte Luft strömte herein.

Doris Flückiger war am Telefon alles andere als erpicht darauf gewesen, Fragen zu ihrem einstigen Ehemann zu beantworten. Erst beim Hinweis auf sein spurloses Verschwinden hatte sie einen Funken Interesse und die Bereitschaft gezeigt, mich zu empfangen. Allerdings mehr aus Neugier als aus Sorge, wie ich den Eindruck hatte.

Ich hörte dem Jüngelchen beim Rumjammern zu und nuckelte an meiner Fluppe, bis mich nur noch Millimeter vom Filter trennten. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Alles wirkte so sauber und aufgeräumt, dass ich einfach nicht anders konnte, als die Kippe auf den Gehsteig zu schnippen. Irgendwo tief in mir steckte immer noch ein kleiner Rebell.

Ich stieg die Außentreppe hoch, denn die Eingänge befanden sich auf der von der Straße abgewandten Seite des Blocks. Doris Flückiger wohnte im obersten Stock. Es dauerte eine Weile, bis sie auf mein Klingeln reagierte.

»Ich war gerade in der Küche«, erklärte sie in leicht vorwurfsvollem Ton, als sie die Tür öffnete.

Eine schlanke Mittfünfzigerin, die sich dezent, aber geschmackvoll kleidete. Auberginefarbener Pullover mit Strickmuster, eine schwarze Hose, Slipper mit goldenen Schnallen. Die Kurzhaarfrisur war mit hellen Strähnchen gespickt, außer den Perlenohrsteckern trug sie keinen Schmuck.

Sie ließ mich eintreten, blieb aber im Eingangsbereich der Wohnung stehen und signalisierte mir damit deutlich, dass ihre Zeit knapp war. Mir sollte es recht sein, ich war schließlich nicht hier, um ihre Einrichtung zu bewundern.

»Wie bereits am Telefon erwähnt, habe ich ein paar Fragen zu ihrem Mann …«

»Exmann«, berichtigte mich Frau Flückiger dezidiert und ihre Backenknochen traten kurz hervor. »Sie haben gesagt, er sei verschwunden.«

»Zumindest blieben meine Nachforschungen ergebnislos.«

»Wer um Himmels willen gibt denn Geld aus, um den zu finden?«

»Das darf ich leider nicht verraten. Berufsgeheimnis.«

Wieder zuckten ihre Backenknochen, die Lippen bloß noch eine dünne Linie. »Ich kann’s mir ohnehin denken. Eine seiner Schlampen vermutlich.«

Ich lächelte so neutral wie möglich und dachte an Franziska Zehnder. »Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«

»Wir hatten seit der Scheidung vergangenen Winter keinen Kontakt mehr.«

»Aber er ist an dieser Adresse gemeldet.«

»Dann hat er sich nicht korrekt abgemeldet. Gaudenz ist am zweiten Januar ausgezogen, keine Ahnung wohin. Es hat mich damals nicht interessiert und tut es bis heute nicht.«

»Sie haben also keine Idee, wo er sein könnte.«

»Nein.«

»Haben Sie Kinder?«

Sie zögerte kaum merklich. »Nein.«

»Wer sind seine Freunde, Bekannte? Mit wem hatte er regelmäßig Kontakt?«

»Eigentlich mit niemandem.«

»Wie bitte? Das kann doch nicht sein!«

»In den letzten Wochen vor seinem Auszug hat Gaudenz sich komplett abgekapselt, verstehen Sie? Er ließ keinen mehr an sich ran. Nicht einmal ich drang zu ihm durch. Mit wem er sich heute herumtreibt, weiß ich natürlich nicht.«

»Warum hat er sich zurückgezogen?«

Doris Flückiger machte eine enervierte Handbewegung, die alles Mögliche bedeuten konnte.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass er sein Leben mutwillig an die Wand gefahren hat, das meine ich damit«, erwiderte sie überraschend bitter. »So etwas überlebt keine Beziehung.«

»Geht das auch konkreter?«

»Fragen Sie ihn selbst, wenn sie ihn aufgespürt haben.«

Für den Moment ließ ich es dabei bewenden, obschon mich die Antwort keineswegs befriedigte. »Er ist nirgendwo gemeldet, zahlt weder Steuern noch AHV-Beiträge, sein Personalausweis ist abgelaufen und wurde nicht erneuert. Er hat kein Bankkonto und besitzt offenbar nicht einmal ein Handy.«

»Was?« Sorge flackerte in Doris Flückigers Augen auf, doch ihr Blick wurde gleich wieder hart. »Also hat er seinen Job gekündigt?«

»Es scheint ganz so.«

»Das wusste ich nicht. Aber eigentlich geht es mich auch nichts an. Gaudenz soll sein Leben so leben, wie er es für richtig hält.«

»Das hat er scheinbar schon vor seinem Verschwinden getan.«

Sie zuckte ganz leicht mit den Schultern. »Die Vergangenheit habe ich hinter mir gelassen. Wir hatten uns längst auseinandergelebt, als er endlich ausgezogen ist, die Scheidung hatte ich schon Monate zuvor eingereicht.«

»Wo war Gaudenz Pfister zuletzt angestellt?«

»Bei einer Schweizer Privatbank. Er war im Investmentbereich tätig.«

»Da hat er wohl nicht schlecht verdient.«

»Wir kamen über die Runden.«

Eine maßlose Untertreibung vermutlich, doch ich ging nicht darauf ein. »Was ist mit dem Geld geschehen?«

»Er hat mir nach der Scheidung eine mehr als großzügige Abfindung ausbezahlt und das Appartement auf mich überschrieben. Was er mit dem Rest seines Vermögens gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis.«

Nachdenklich starrte ich auf den Kupferstich, der in der Diele an der Wand hing und das alte Höngg zeigte. Direkt darunter war eine kniehohe Vase positioniert, aus der ein Bündel getrocknetes Schilf ragte. Der Anblick deprimierte mich.

Es schien, als hätte Gaudenz Pfister die Scheidung von seiner Frau dermaßen aus der Bahn geworfen, dass er seinen Job, sein Sozialleben, seine ganze Existenz von einem Tag auf den anderen aufgegeben hatte. Das kam mir etwas gar dramatisch vor, doch die Informationen, die ich momentan zur Hand hatte, deuteten exakt in diese Richtung.

Womöglich hatte ich aber einfach noch nicht tief genug gebohrt. »Eine indiskrete Frage: Waren andere Frauen der Grund für die Scheidung?«

Frau Flückigers Miene gefror, ihr Oberkörper wich unmerklich zurück. »Das ist privat.«

»Momentan stehe ich noch ganz am Anfang der Ermittlungen und bin auf möglichst viele Informationen angewiesen.« Da sie nicht darauf reagierte, drückte ich ein wenig auf die Tränendrüse: »Ihr Exmann ist wie vom Erdboden verschluckt und ich würde ihn sehr gern finden. Wer weiß, was ihm widerfahren ist. Vielleicht befindet er sich in Gefahr oder benötigt Hilfe …«

»Ist ja gut.« Abwehrend hob Doris Flückiger die Hand. »Wenn Sie’s unbedingt wissen wollen: Er hat gesoffen, viel gesoffen. Es gab Wochen, da kam er keinen Abend nüchtern nach Hause. Das kann man sich als normaler Mensch gar nicht vorstellen.«

Wohlweislich hielt ich die Klappe.

»Deswegen haben wir uns scheiden lassen, ich habe das nicht mehr ausgehalten.«

»Das war der einzige Grund?«

»Ja …« Sie brach ab und ein jäh aufwallender Schmerz ließ ihre Augen dunkel werden. »Das und alles, was es später mit sich brachte.«

»Wie meinen Sie das?«, hakte ich nach. Ich hatte den Eindruck, dass wir gerade an etwas Wichtigem vorbeigeschrammt waren.

»Wie ich es gesagt habe.«

»Er hat Sie geschlagen?«

Beinahe amüsiert schüttelte sie den Kopf und der Moment war vorbei. »Gaudenz ist vieles, glauben Sie mir. Er hat mir das Leben zur Hölle gemacht und sich selbst wahrscheinlich auch. Aber eins ist er ganz sicher nicht: gewalttätig.«

Ich steuerte meinen hellblauen Käfer die Limmattalstrasse hinab Richtung Escher-Wyss-Platz. Das endlose Grau, das über der Stadt hing, drückte auf meine ohnehin schon düstere Stimmung.

In Gedanken ging ich das Gespräch mit Doris Flückiger noch einmal durch. Der Schmerz, der für den Bruchteil einer Sekunde in ihrem Blick aufgeblitzt war, konnte sehr wohl mit der Scheidung und der Alkoholsucht ihres Exmannes zusammenhängen. Aber ich vermutete, dass mehr dahintersteckte. Denn die unterschwellige Wut, die sie immer noch auf ihren Ex zu verspüren schien, hatte sie nur schlecht verbergen können. Wenn sie allein wegen seiner Trinkerei so empfand, war sie ziemlich nachtragend.

Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir um einen dunklen Fleck herumgeredet hatten, etwas, das sie um jeden Preis geheim halten wollte. Vielleicht würde es nötig sein, mich nochmals mit ihr zu unterhalten. Aber für den Moment hatte ich genügend Hinweise, die mir auf der weiteren Suche nach Gaudenz Pfister behilflich sein würden.

Zudem hatte ich sie um ein Foto ihres Exmannes gebeten, das sie erst nach längerem Kramen in einem Schlafzimmerschrank zutage förderte. Gaudenz Pfister war dem Porträt zufolge ein gutmütig wirkender Mann mit Schalk in den Augen, etwas über fünfzig, der Bart sah gepflegt aus, das Haar war beneidenswert dicht und von einem silbern gesprenkelten Dunkelgrau. Er sei schon immer etwas fest um die Hüften gewesen, hatte Doris Flückiger ungefragt ergänzt, der viele Alkohol und die üppigen Geschäftsessen hätten seiner Linie in den letzten Jahren ihrer Ehe zugesetzt.

Ich bog in den Sihlquai ein und die Aussicht auf den schmalen Uferweg erinnerte mich schmerzlich an einen der letzten Spaziergänge mit meinem Vater. Ein sonniger Tag im Herbst, das Laub hatte sich bereits verfärbt und für die Strecke am Fluss entlang brauchten wir ewig. Denn mein Vater konnte nur noch kleine schlurfende Schritte machen, er hielt sich an meinem Arm fest und sah mich hin und wieder verwundert an, als fragte er sich, wer ihn da führte. Und wohin.

Zum wiederholten Mal rätselte ich, was ihn mit Franziska Zehnder verbunden hatte. Je länger ich darüber nachdachte, desto schwerer fiel mir die Vorstellung, dass mein Vater etwas mit ihr gehabt hatte. Die beiden passten einfach nicht zusammen. Auch betrug der Altersunterschied über fünfunddreißig Jahre, wobei mir bewusst war, dass dieses Argument nicht zählte. Dass sie gestern Nachmittag meine entsprechenden Fragen so rigoros abgeblockt hatte, hatte mir jedoch bestätigt, dass mein Verdacht nicht bloß ein Hirngespinst war. Auch Franziska Zehnder hatte etwas zu verbergen. Etwas, das mit meinem Vater zu tun hatte. Das war für mich Grund genug dranzubleiben.

Sie ahnte nicht, dass sie mir mit ihrem Auftrag einen Trumpf zugespielt hatte: Gaudenz Pfister. Ich würde alles daransetzen, um ihn aufzuspüren. Denn für jede Information über ihn würde ich von Zehnder eine über meinen Vater verlangen.

Die Atelier Bar an der Bärengasse war stilvoll eingerichtet: Kronleuchter hingen von der hohen Decke, Stühle und Tische stammten aus verschiedenen Epochen des Schweizer Designs und wenn plötzlich Joan Collins im Denver-Clan-After-Work-Drink,