Umschlag

Michael Herzig

Am Ende die Nacht

Roman

 
 

Der Autor

Michael Herzig, 1965 in Bern geboren, lebt schon lange in Zürich. Er arbeitete viele Jahre im Sozialbereich und kennt dadurch auch die dunklen Seiten einer Großstadt bestens.

Das ist seinen bisherigen Romanen um die eigensinnige Polizistin Johanna di Napoli deutlich anzumerken: Für seinen zuletzt erschienenen Thriller Frauen hassen wurde Herzig mit der Anerkennungsgabe der Stadt Zürich in Höhe von 10.000 Franken geehrt. Für den Vorgängertitel Töte deinen Nächsten erhielt er die ebenfalls mit 10.000 Franken dotierte Auszeichnung für herausragende literarische Neuerscheinungen des Regierungsrates des Kantons Zürich.

Und auch in Am Ende die Nacht, einem höchst kunstvollen Roman um zwölf Menschen mit zwölf völlig unterschiedlichen Lebensentwürfen, taucht Herzig wieder tief in menschliche Abgründe ein.

www.michaelherzig.ch

Blerim zieht um

Fünf Tage später wurde Blerim Selimi auf eine Bahre gelegt. Seine Augen waren zugeschwollen, Nase, Mund und Rachen verätzt. Eine Sauerstoffmaske wurde auf sein Gesicht gelegt und Luft in seine Lungen gepresst. Er nahm den geschäftigen Ton der Notfallsanitäter wahr und aufgeregte Kinderstimmen, jedoch formten sich in seinem Bewusstsein Laute nicht zu Worten und Worte nicht zu Bedeutung. Alle seine Empfindungen hingen an jenem Augenblick fest, als Zsófia Bihari in den Laden getreten war und das Regal mit den Handys betrachtet hatte.

Sie war eine Hure. Keine Szenetussi, keine Studentin, keine von hier. Dunkle Augen, rasierte und nachgezogene Brauen, ein auf den Hals tätowierter Schmetterling, ein rosa Top, die Konturen des Büstenhalters sichtbar unter dem dünnen Stoff, eine blaue Trainingshose, goldglänzende Turnschuhe.

Er begegnete ihr meistens nach Feierabend, wenn er auf dem Weg zum Bus war. Sie wohnte in einem Gebäude bei der Haltestelle, das sich von den anderen alten Stadthäusern in dem Block durch ein riesiges Lüftungsrohr unterschied, das auf der Hofseite vom Erdgeschoss zum Dach hinaufführte. Im Parterre hatten sich die Betreiber von Imbissbuden alle paar Jahre den Schlüssel weitergegeben, mittlerweile versuchte ein Telekomgeschäft, hier Fuß zu fassen. In den oberen Stockwerken betrieb der Untermieter eines Untermieters eine Absteige für osteuropäische Sexarbeiterinnen. So nannte Blerims Vater die Huren.

Sein alter Herr war Sozialarbeiter. Die Frauen würden ausgebeutet, sagte er. Von Zuhältern, Menschenhändlern, Freiern und Immobilienspekulanten. Eine Liege in einem Viererzimmer kostete zwei Tausender. Der Typ, der abkassierte, trug ein fleckiges Hemd und führte einen Köter mit sich.

Die Huren gingen arbeiten, wenn Blerim damit aufhörte. Immer im Rudel, nie allein. Sie wurden angestarrt, vermieden selbst aber jeden Blickkontakt. Prostitution war in dieser Gegend verboten, zurückschauen teuer.

»Haben Sie eine Verbindung zwischen USB und PS2?«

Blerim hatte den Kunden nicht bemerkt und außer der Hure von nebenan nur einen Deppen im Auge gehabt, der vor der Auslage mit den DVDs herumlümmelte.

»Das sind diese Stecker für Tastatur und Maus, die es gab, bevor irgendwann alle Anschlüsse auf USB umgestellt worden sind. So runde, mehrpolige Stöpsel. Verstehen Sie, was ich meine?«

Wir Jugos benutzen immer noch die alten Kisten, hätte Blerim am liebsten zu ihm gesagt. »So etwas führen wir nicht«, antwortete er stattdessen. »Das ist zu speziell für unser Sortiment.«

Der Mann war enttäuscht. »Mein Computer ist manövrierunfähig. Die USB-Anschlüsse funktionieren nicht mehr.«

Der Kunde erinnerte Blerim an einen Berufsschullehrer. Einen, der so viel Verständnis für seine Schüler hatte, dass man ihm nichts übel nehmen konnte. »Versuchen Sie es doch am besten da mal, die haben alles.« Er schrieb Name und Adresse eines Fachgeschäfts auf einen Zettel, in dem er gerne gearbeitet hätte. Doch dort stellte niemand einen vorbestraften Drogenhändler ein.

Der Kunde dankte und wandte sich ab. Plötzlich blieb er stehen, überlegte einen Augenblick und verlangte nach einer Packung Batterien.

Blerim verkaufte ihm eine von den teuren.

Mittlerweile hatten zwei Frauen den Laden betreten und waren in die Ecke mit den Fernsehern geschlendert. Anstelle der Prostituierten zogen sie nun die Blicke des Spanners auf sich, der immer noch vor der Auslage mit den Filmen stand.

Die Hure kam auf Blerim zu und blieb vor der Kasse stehen. Einige Herzschläge lang erglühte er unter ihren Augen, die dunkel in ihn hineinschauten, dann senkten sich ihre Lider. Leise und in gebrochenem Deutsch erklärte sie, dass sie eine Prepaidkarte und ein Handy haben wolle.

Blerim begleitete sie zu dem Regal und zeigte ihr die Geräte. Unbewusst verfiel er in das Baustellendeutsch seines Großvaters. Er scherzte, er schäkerte, er schmeichelte. Sie hörte zu, überlegte und deutete auf ein silbernes Telefon. Blerim öffnete die Vitrine, nahm das Handy heraus und ging zurück zur Kasse.

Weil er es für eine Schikane hielt, die ihm peinlich war, erklärte er etwas umständlich, dass sie ihm einen Personalausweis zeigen müsse. Gleichgültig kramte sie einen Pass aus ihrer Handtasche. Einen ungarischen. Dazu eine Meldebestätigung des Migrationsamtes.

»In Wirklichkeit sind Sie viel hübscher«, säuselte Blerim, nachdem er das Passfoto überprüft hatte.

Ohne ihn anzusehen, lächelte sie verlegen, bis sie unvermittelt wieder ernst wurde und ängstlich zur Tür starrte.

Blerim füllte das entsprechende Formular aus und betätigte die Kasse. Die Frau bezahlte bar.

Als er alles in eine Plastiktasche verpackt hatte und ihr diese überreichen wollte, zögerte er. Er wünschte sich die Intensität des ersten Blickkontaktes zurück, dass sie ihn berührte bei der Übergabe des Einkaufes, dass er den Duft ihres Haares riechen könnte oder dass der Schmetterling auf ihrem Hals mit den Flügeln flatterte und Blerim es fühlen könnte.

Sie griff nach der Tüte und huschte zum Ausgang.

Blerim starrte ihr auch dann noch hinterher, als die Ungarin längst um die Ecke verschwunden war. Es war kurz vor Feierabend. Für den nächsten Tag hatte er sich freigenommen. Sein Umzug stand an.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung, doch es dauerte einige Sekunden, bis seine Gedanken wieder bei der Arbeit waren. Vor einem Plasmabildschirm plapperten die beiden Kundinnen in Spanisch. Der Spanner wandte sich dem Ausgang zu. Instinktiv trat Blerim hinter der Theke hervor und ging auf ihn zu. Der Typ rannte los. Blerim versuchte, ihm ein Bein zu stellen, kam jedoch zu spät. Die Alarmanlage schrillte, als der Scheißkerl aus dem Laden raste und über die Straße hetzte, wobei er um ein Haar von einem Streifenwagen angefahren wurde. Im allerletzten Moment bremste der Polizist am Steuer, der Dieb stolperte, rappelte sich auf, rannte weiter, schubste auf der anderen Seite eine Frau weg und verschwand in der nächsten Querstraße.

Blerim sah, wie ihn der Beamte anstierte. Der Beifahrer sprach mit der angerempelten Frau, die ihre Kleider glatt strich. Sie schüttelte den Kopf. Daraufhin fuhr der Wagen weiter. Blerim ließ die Kinnlade hängen. Entweder waren die Bullen zu taub, um den Alarm zu hören, oder zu faul, um zu arbeiten. Weder das eine noch das andere würde sein Chef ihm glauben.

Blerim richtete die Kiste mit den Ramschartikeln wieder auf, die der Idiot umgeworfen hatte, und sammelte einige Regenschirme ein, die auf dem Trottoir herumlagen.

Nachdem er alles in Ordnung gebracht hatte, fiel ihm die Ungarin erneut auf. Mittlerweile wusste er, dass sie Zsófia Bihari hieß. Sie stand vor dem Durchgang zu dem Hinterhof, über den sie in ihre Wohnung gelangte. Linker Hand befand sich ein asiatisches Restaurant, rechts ein Café mit Außenbewirtung. An den Tischen genossen einige Gäste die Abendsonne.

Neben Zsófia stand ein Kerl. Groß, massig, kahl und mindestens zwanzig Jahre älter. Er begutachtete das Telefon, das ihr Blerim verkauft hatte, und schnauzte sie wegen irgendetwas an. Sie verschwand im Hof. Der Mann legte die SIM-Karte ein und wählte eine Nummer. Das Handy am Ohr, glotzte er Blerim an.

*

»Krasses Haar!« Blerims kleiner Bruder war ein Fußballtalent. A-Junior des Stadtklubs. Allerdings verhinderten seine Eltern, dass er wie ein Fußballer aussah, weshalb Haris Blerim um dessen ständig wechselnde Frisur beneidete.

»Ein Irokese ist doch nichts Besonderes«, zickte Julika, ihre Schwester. »Doch das Muster ist hübsch. Wer hat dir das denn auf den Schädel rasiert?«

»Eine Blondine mit prallem Hintern und dicken Möpsen.« Blerim setzte sich an den Tisch. Trotzig betrachtete er den dampfenden Topf Spaghetti und die Schüssel Bolognese. Haris’ Lieblingsgericht.

»Eine Tussi, die Kunst macht«, kicherte Julika.

»Schluss jetzt«, intervenierte der Vater, während er die Pasta auf seinem Teller mit einer dicken Schicht Parmesan bedeckte. »In dieser Wohnung hat eure Gossensprache nichts verloren!«

»Josips Häuschen ist hübsch geworden.« Die Mutter lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. »Und der Garten erst. So etwas fehlt uns in der Stadt.«

»Aber in unserem Hof kann man Fußball spielen«, verteidigte Haris sein Zuhause, dem sein Bruder ein Reihenhaus in der Agglomeration vorgezogen hatte.

»Außerdem kann ich im Treppenhaus die anderen Mädchen treffen«, fügte Julika an. »Und wenn die Jungs unter den Bäumen kiffen, kümmert das auch keinen.«

»Na, na, na, junge Dame«, warnte der Vater mit einem Seitenblick auf Haris. »Über Drogen sprechen wir nicht am Tisch. Das ist eine ernsthafte Sache.«

Die Mutter nickte heftig. »Damit muss man sich in dieser Gegend viel zu früh auseinandersetzen.«

»Ich weiß doch längst Bescheid.« Haris schaufelte Soße auf seinen Teller. »Im vierzehnten Stock wohnt ein Junkie. Der stinkt.«

»Ich möchte nicht, dass darüber gesprochen wird, als wäre das das normalste Thema der Welt«, beendete die Mutter das Gespräch. »Das ist es nämlich ganz und gar nicht. Basta!«

»Josip ist ein Spießer!«

»Sind wir das nicht alle?«, relativierte der Vater.

Blerim starrte auf die Gabel aufgerollter Spaghetti, über die hinweg sein Vater ihn in dem Bewusstsein anlächelte, dass seinen Sohn nichts mehr provozierte als Nachsicht und Verständnis.

»Wir lieben dich so, wie du bist, Blerim«, seufzte die Mutter. »Aber wir schlafen besser und vergießen weniger Tränen, seit du Fernseher und Computer verkaufst statt verbotenes Zeug.«

»Warum soll Josip spießig sein?«, bohrte Julika nach. »Weil er eine Schweizerin geheiratet hat?«

»Er wollte Kickboxer werden.« Blerim legte sein Besteck auf den Teller und stand auf. »Jetzt ist er Busfahrer.« Er brachte sein Geschirr in die Küche. Als er ins Esszimmer zurückkam, deutete er auf die Tätowierung auf seinem linken Unterarm. »Das ist der Name meines Großvaters. Er wurde als Arbeiter geboren, kam als Arbeiter in dieses Land und er ist als Arbeiter gestorben.« Blerim holte die Jacke aus seinem Zimmer. »Im Übrigen ziehe ich aus. Blaise hat eine Wohnung gefunden. In der ist Platz für zwei.« Er küsste Julika auf den Kopf und boxte Haris zärtlich auf die Brust. Anschließend ging er und schlug die Tür hinter sich zu.

Vom Laubengang aus überblickte Blerim die Dächer der Stadt, die Bahnlinie und die vom Abendverkehr verstopfte Straße. Er ging zum Fahrstuhl. Aus dem Treppenhaus klang Gelächter zu ihm herauf. Es roch nach Zigarettenrauch. Julikas Freundinnen warteten auf seine Schwester.

*

»Mann, sind die süß! Schau mal, wie die sich bewegen!« Sehnsüchtig blickte Blaise den Frauen hinterher, die schwatzend die Allee hinunterstöckelten. »Das ist genau mein Rhythmus.« Er ließ die Hüfte kreisen.

Blerim streckte ihm die Faust zum Gruß entgegen. »Vergiss es. Für diese Bräute bist du …«

»… zu schön, zu sexy, zu gut bestückt?«, unterbrach Blaise seinen Freund, während er seine eigene gegen dessen Faust drückte.

»Zu schwarz. Die rufen die Polizei, sobald du den Mund aufmachst.« Blerim lehnte sich an die Rücklehne der Sitzbank am Straßenrand.

Sie hatten sich beim Türken verabredet, ihrem üblichen Treffpunkt. Von da aus hatte man einen guten Überblick. Schräg gegenüber lagen das Einkaufszentrum und dahinter die Wohnsilos, davor die Tramstation und auf ihrer Höhe die Kreuzung.

Unter den Bäumen waren sie von Weitem kaum sichtbar. Wer auch immer auftauchte – Leute, die man unbedingt sehen wollte, oder solche, denen man besser aus dem Weg ging –, sah man, bevor sie einen sahen. Ein weiterer Vorteil war, dass man die Frauen begaffen konnte, die in die Trendlokale der Umgebung pilgerten.

»Die treffen Architekten, Grafiker, Künstler, aber keine Dschungelbewohner.«

»Regarder, ne pas toucher!« Blaise lachte sein schwärzestes Lachen. Er hatte es aus dem ersten Taxi-Film abgeguckt. Bei den seltenen Besuchen versorgte ihn sein Vater mit französischen Filmen. Ein verzweifelter Versuch, seinem Jungen zu einem Pluspunkt auf dem Arbeitsmarkt zu verhelfen. Dass er die Filme längst in einer deutschen Synchronfassung aus dem Internet heruntergeladen hatte, verschwieg ihm Blaise. »Hast du es ihnen gesagt?« Blaise entfernte sich ein paar Schritte und fragte einen älteren Mann, der vor dem Imbiss einen Kebab verschlang, nach Feuer.

»Vorhin.«

»Und?«

»Nichts.« Blerim spuckte auf den Boden. Ein vorbeischlenderndes Pärchen schreckte angeekelt zusammen.

»Igitt, der Opa hat mich mit Soße vollgesabbert«, beschwerte sich Blaise, als er mit dem brennenden Joint zurückkam. »Gab es wirklich kein Sozigelaber? Deine Eltern sagen doch zu nichts nichts!«

»Bin abgehauen.«

Blaise saugte den Rauch ein und behielt ihn so lange wie möglich in der Lunge. Beim Ausatmen sprach er weiter, was seine Stimme dämpfte und die Sprache verwischte. »Dass die Bude Gökhan gehört, hast du ihnen nicht verklickert?«

»Nein, Mann.« Blerim griff sich die Tüte und sog ebenfalls daran.

»Gut, denn offiziell ist es unsere. Der große Gökhan will nicht, dass ihm der kleine Staat viel Geld abknöpft.« Er legte Blerim seinen rechten Arm um die Schulter und zog ihn mit sich fort. »Komm, ich zeige dir etwas sexuell Geiles.«

Den Joint hin- und herreichend, gingen sie die Allee hinunter und bogen rechter Hand in eine Nebenstraße ein.

Vor einer Szenekneipe am Ende des Häuserblocks blieb Blaise stehen. »Da ist sie!«

»Wer?« Der Laden brummte. Blerim schaute die Leute an. Seine Altersklasse, aber nicht sein Stil.

»Die Karre.« Blaise ging zu einem knallgelben Auto, das am Straßenrand geparkt war. Er wedelte mit einem Schlüssel herum. Die Lampen leuchteten auf und die Türen wurden entriegelt. »Steig ein!« Blaise öffnete die Fahrertür. Kurz darauf heulte der Motor auf. Aus dem Menschenauflauf vor der Kneipe ertönten sofort die ersten Pfiffe. Blerim beeilte sich, auf den Beifahrersitz zu kommen.

»Ein aufgemotzter Seat Ibiza!«, strahlte Blaise.

»Gökhans aufgemotzter Seat Ibiza.« Blerim schnallte sich an. »Was musst du dafür tun?«

Blaise drehte die Lautstärke der Musikanlage auf und lenkte das Auto um die Ecke. »Transen kutschieren«, schrie er. »Mehr müssen wir nicht tun.«

*

»Gehen wir jetzt feiern?«

Gökhan hatte als Zuhälter angefangen. Zunächst ließ er Transsexuelle anschaffen, später kaufte er ein Bordell dazu. Mittlerweile investierte er in Immobilien. Sein Eintrittsticket in die respektable Gesellschaft. Auch sonst war er aufgeschlossen, solange es um Geld ging.

Nachdem Blerim und Blaise ihre Jugendstrafen abgesessen hatten, brauchten sie einen Job. Für Blerim war es einfach. Als Sozialarbeiter wusste sein Vater, wie man gestrauchelten Jungs auf die Beine hilft. Blaise hingegen erhielt von seinem Alten nichts geschenkt außer Filmen, die sich seine Mutter reinzog, mit wässrigen Augen und einer Flasche Fusel im Schoß. Also war Blaise zu Gökhan gegangen, der in derselben Siedlung aufgewachsen war und mit dessen jüngster Schwester Blaise im Treppenhaus herumgeknutscht hatte. Heute allerdings trug sie ein Kopftuch und wechselte die Straßenseite, wenn ihr Blaise oder Blerim entgegenkamen.

»Eine Tour haben wir noch.« Blaise machte die Musik leiser, damit Blerim ihn hören konnte. »Ein spezieller Spezialauftrag«, flüsterte er. Danach drehte er den Regler wieder auf.

Genervt steckte sich Blerim eine Zigarette an. Als Erstes hatten sie Paola in ein Bonzenhaus am See gefahren. Paola war eine von mehreren Transsexuellen, die für Gökhan arbeiteten, eine kaffeebraune Schönheit, die überdies noch witzig war und mit Blerim schäkerte, während Blaise unter vielen Anwesen die richtige Villa suchte.

Nach Paola nahm das Atemberaubungspotenzial der Fahrgäste ab. Blerim sah Botoxlippen, Silikonbrüste und Stirnglatzen. Je älter die Transen waren, umso verlorener wirkten sie. Sogar Paola schien deprimiert, als Blaise sie drei Stunden später wieder abholte.

Die ganze Fahrt über schaute sie zum Fenster hinaus. Erst starrte sie den See an, dann die Stadt und am Schluss das Partyvolk, das vor den Klubs und Bars herumwuselte. Vor einem Appartementhaus verabschiedete sie sich. Auf einem kleinen Platz davor lag ein Besoffener in seiner Kotze. Ein Nachtwächter in einem VW-Bus öffnete die Einlassschranke für alle zufahrtsberechtigten Automobilisten: Anwohner, Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr. Gökhans aufgemotzter Seat gehörte nicht in diese Kategorie.

Blerim begleitete Paola das kurze Stück zum Hauseingang. Als das Licht im Flur eingeschaltet wurde, schien es ihm, als habe sie Tränen in den Augen. Bevor sie die Tür aufstieß, holte sie etwas aus ihrer Handtasche hervor und gab es Blerim. Irgendetwas Zylindrisches, das sie in einen Briefumschlag eingepackt hatte.

»Für Gökhan«, hauchte sie.

»Was ist das?«, fragte Blerim, nachdem er zum Wagen zurückgekehrt war und Blaise das Kuvert gegeben hatte.

»Macht.« Blaise legte den Rückwärtsgang ein und winkte beim Zurücksetzen dem Wachmann in seinem VW-Bus zu.

Blerim warf die Zigarettenpackung auf die Ablage über dem Handschuhfach, stellte den Hip-Hop leiser und klopfte auf dem Sitzpolster den Takt mit. »Ein Dieb hat so getan, als sehe ich nichts, ein Cop hat so getan, als wäre ich nichts, mein Chef hat so getan, als täte ich nichts, mein bester Freund tut so, als kapiere ich nichts«, rappte er zu dem Rhythmus.

»Yo, Mann«, strahlte Blaise.

Gereizt schaute Blerim einer Gruppe Frauen nach, die in Richtung Partymeile unterwegs war. Die Röcke waren kurz, die Absätze hoch, der Gang der einen oder andern war bereits etwas unsicher. »Hier wimmelt es nur so von Weibern und du machst den Neger? Ja, Gökhan, Massa, sicher, Gökhan, Massa, natürlich, Gökhan, Massa!«

Ungerührt lenkte Blaise den Wagen stadtauswärts.

»Das ist die falsche Richtung, Mann!«

»Entspann dich, Muttersöhnchen! In einer halben Stunde sind wir fertig. Dann räumen wir ab. Von den Bräuten, die jetzt noch unterwegs sind, brauchst du keine anzusäuseln. Angaffen, antanzen, anspringen, fertig. Wenn du Glück hast, hat sie Ecstasy übrig. Oder Discoschnee.« Blaise holte einen neuen Joint hervor und gab ihn Blerim. »Wer hat dir das geile Muster auf die Kopfhaut gezaubert?«

»Meine Schwester«, grummelte Blerim, die Zigarette in der einen Hand, den Joint in der anderen.

»Julika, die süße, kleine Julika«, summte Blaise grinsend, während er Blerim Feuer gab. »Ist sie immer noch so gescheit?«

»Klüger als du, Dschungeljunge!« Blerim zog an dem Joint und dachte an die ungarische Prostituierte, die ihm ein Handy abgekauft hatte. »Julika wird studieren. So klug ist sie.« Er reichte Blaise die Tüte. »Wenn ich dich jemals in ihrer Nähe erwische, schlitze ich deinen Bauch auf, hole das Gedärm heraus und erwürge dich damit.«

»Den kenne ich«, grölte Blaise. »In welchem Streifen kommt der vor? Troja? Irgendein Sandalenscheiß!«

Blerim lehnte sich ins Polster und starrte die entgegenkommenden Fahrzeuge an.

*

»Boah, das ist wie in einem Hip-Hop-Video!«

Eine dunkelhaarige Frau in hochhackigen Stiefeln und Stringtanga trat auf die Straße und schob vor dem Beifahrerfenster ihren Büstenhalter herunter. Neben ihr wackelte eine groß gewachsene Blondine mit dem Hintern.

Blaise lenkte den Wagen an den beiden vorbei.

Am Wegrand befanden sich in regelmäßigen Abständen hölzerne Unterstände, die vor Wind und Regen schützen sollten. In ihrem Innern leuchteten Neonröhren, davor reihten sich Frauen auf, die mehr oder weniger offen zeigten, was sie zu bieten hatten. Einige saßen rauchend in den Baracken und schauten dem Treiben zu. In der Mitte der beiden Fahrbahnen leuchtete eine farbige Lichterkette. Ein Freilichtpuff in der Ästhetik eines Schrebergartens.

Sie drehten eine Runde und betrachteten die arbeitenden Frauen.

»Warst du schon mal hier?«

Blaise nickte. »Habe Paola hergefahren und wieder abgeholt. Die ist hier nicht beliebt, denn sie versaut den anderen das Geschäft. Wenn Paola mit ihrem Schniepel auf dem Platz ist, machen Frauen mit Mösen keinen Stich mehr.«

»Und warst du auch schon mal in einer Box? Mit Paola vielleicht?«

»Sicher: Auto waschen.« Grinsend hob Blaise seine Rechte für einen High Five.

Blerim schlug ein. »Wen suchen wir denn?«

»Frischfleisch für Gökhan.« Blaise fuhr an der Beratungsstelle für Prostituierte vorbei, die direkt am Straßenstrich angesiedelt war. Auf der Veranda standen Frauen und rauchten. »Die in Klamotten sind Sozialarbeiterinnen«, kicherte er. »Dort drüben stehen die Boxen.« Er deutete auf eine Reihe farbig beleuchteter Holzgaragen, bremste abrupt, ließ einen heranbrausenden Chrysler passieren und reihte sich wieder in die Fahrzeugkolonne ein.

Nach halber Strecke kamen sie zu mehreren Parkplätzen. Auf einem stand ein Wohnmobil. An der Kühlerhaube lehnte eine Frau.

»Warte hier!« Blaise stieg aus und ging auf sie zu.

Blerim beobachtete, wie die Autos im Schritttempo an den Prostituierten vorbeifuhren, wie die Frauen verhandelten und manchmal in die Fahrzeuge einstiegen. Im Scheinwerferlicht einer vorbeirollenden Limousine sah er, dass Blaise der Frau irgendetwas überreichte. Vermutlich Geld, schließlich befanden sie sich auf dem Strich.

Blaise folgte der Frau in den Wagen, hinter der Windschutzscheibe wurde der Vorhang zugezogen. Fluchend durchwühlte Blerim das Handschuhfach. Er hatte keine Lust, Däumchen zu drehen, während sein Kumpel eine schnelle Nummer schob. In einer Lutschtablettendose fand er Gras und Zigarettenpapier, doch noch bevor er den Joint fertig gebaut hatte, kam Blaise zurück. Offensichtlich war es dringend gewesen.

Die Frau aus dem Wohnwagen folgte ihm. Dass sie jetzt einfach so mit ihnen mitkommen sollte, entsprach nicht Blerims Vorstellung von Prostitution.

Erst, als sie die Autotür öffnete, erkannte er sie wieder: Zsófia Bihari, die Ungarin, die ihm ein Handy abgekauft hatte.

*

Blerim sah den Zuhälter, der in einem alten BMW an ihrer Stoßstange hing, weil er den Kopf nicht mehr in Fahrtrichtung gedreht hatte, seit Zsófia Bihari auf dem Rücksitz saß. Als Erstes hatte er ihr den Joint angeboten, dann gefragt, ob es ihr gut gehe, ob sie Hunger habe, wobei er gleichzeitig dachte, dass das eine idiotische Frage war, die im Normalfall seine Mutter gestellt hätte, daraufhin hatte er vermutet, dass ihr Job da draußen bei den Sexboxen wohl hart wäre, aber vermutlich sicherer als früher auf dem offenen Straßenstrich. Schließlich hatte er ihr gesagt, dass er sich freue, sie wiederzusehen, und dass er ihre Schmetterlingstätowierung mochte. Als sie nicht verstand, hatte er sich selbst auf den Hals gedeutet, worauf Zsófia zum ersten Mal gelächelt hatte. Sie hatte die Daumen ihrer Hände ineinander verschränkt, die Finger rhythmisch auf und ab bewegt und so einen davonflatternden Schmetterling angedeutet. Erst als er sie so fröhlich vor sich gesehen hatte, war Blerim bewusst geworden, dass sie praktisch nackt auf dem Autositz saß. Instinktiv wandte er seinen Blick von ihr ab und entdeckte den Verfolger, dessen kahler Schädel sich deutlich von dem dunklen Wageninneren abhob.

Zsófia schrie panisch auf, als sie sich umdrehte. Blaise wollte wissen, was los sei.

»Gehört es zu Gökhans Plan, dass der Menschenhändler ebenfalls die Firma wechselt?«

»Quatsch keinen Scheiß!«

»Dann solltest du Gas geben!«

Blaise blickte in den Rückspiegel. »Ein Opa in einer Rostlaube?«

»Das ist ihr Macker. Ich habe die beiden vor meinem Geschäft gesehen.«

»Máté!«, kreischte Zsófia. »Böse! Máté böse!«

»Jetzt kannst du zeigen, was du in den bescheuerten Taxi-Filmen gelernt hast!«, brüllte Blerim nervös.

Blaise drückte das Gaspedal durch.

Blerim schaute sich nach irgendetwas um, was sich als Waffe verwenden ließ. Dabei fiel ihm der Joint auf den Boden, den Zsófia ihm zurückgegeben hatte. Er duckte sich und schlug den Kopf am Handschuhfach an, als Blaise um eine Kurve raste. Als er sich wieder aufrichtete, sah Blerim, dass Blaise in Richtung Ausgehmeile unterwegs war. »Bist du voll weich? Da vorn wimmelt es nur so von Fußgängern, Trams und Bullen!«

Nachdem er eine rote Ampel missachtet hatte, verlangsamte Blaise vor einer Rechtskurve, gab danach wieder Gas, nur um kurz darauf abrupt zu bremsen und auf ein Areal mit mehreren modernen Bürogebäuden abzubiegen. Nachts war dort nicht viel los. Sie fuhren viel zu schnell durch die Zwanzigerzone, um einen großen Platz herum, auf dem die dunklen Silhouetten von Leuten erkennbar waren, rollten auf der anderen Seite an Hotels vorbei und landeten schließlich in einer nahezu undurchdringlichen Menschenmasse. In einer ehemaligen Industriehalle befanden sich Theatersäle, ein Jazzschuppen und ein Edelrestaurant, in der weiteren Umgebung Klubs und Bars. Vor ihnen strömte das Partyvolk von einem Ort zum anderen. So schnell es ging, pflügte sich Blaise hupend und gestikulierend bis ans Ende der Straße durch.

»Jetzt fickt uns Máté in den Arsch«, murmelte Blerim.

Links herrschte Fahrverbot, geradeaus befand sich die Straßenbahntrasse, hoch über ihr eine massige Betonbrücke, deren Pfeiler einer Allee gleich die Tramlinie säumten, halb rechts war eine Dreißigerzone und ganz rechts nur für Zubringer.

»Da, die Rampe!« Blerim deutete auf ein Gebäude in der Fußgängerzone, an dessen Außenwand eine Auffahrt zu einem Parkdeck hinaufführte. Im Erdgeschoss des Blocks befanden sich Restaurants, vor denen die Gäste saßen, standen und rauchten. Die Zufahrt war mit einer Schranke abgesperrt, aber gerade in diesem Augenblick fuhr ein Mini Cooper auf den Ausgang zu.

Blaise ignorierte das Fahrverbot und preschte los, fuhr an einer Autowaschanlage vorbei, kreuzte den Mini, an dessen Steuer ihm eine junge Frau entgegenstaunte, und raste die Auffahrt hinauf, bevor die Absperrung wieder zuging. Oben angelangt, fanden sie ein halb leeres Parkdeck vor. Blaise fuhr bis an das andere Ende, parkte neben einem Sportcoupé, schaltete den Motor ab und die Zündung aus.

»Ich bin vielleicht in die falsche Richtung gefahren, aber das mit der Rampe war deine Idee!«, fauchte Blaise Blerim an.

»Ich habe auch nicht gesagt, dass du anhalten sollst. Ich dachte, dass du die Brüstungsmauer durchstoßen, auf einem Lieferwagendach landen, mit Vollgas einen Satz auf die Straße machen und von da aus gemütlich auf die Autobahn fahren würdest.« Blerim öffnete das Fenster und schmiss den abgebrannten Joint hinaus, den er immer noch in der Hand hielt. »Wenn Máté uns hier oben erwischt, kann uns die Polente da unten vom Asphalt abkratzen.«

Von der Stadt her näherten sich Sirenen.

»Hören!«

Die beiden drehten sich um und schauten Zsófia an.

»Máté weg«, sagte sie ernsthaft. »Polizei nix gut.«

Blerim stieß Blaise an. »Wenn sie recht hat, müssen wir nur warten, bis die Bullerei abzieht.«

»Polizei nix gut.« Zsófia betätigte die Türklinke. »Verstecken!« Sie stieg aus. »Kommen! Polizei nix gut.« Je näher die Sirenen kamen, umso eindringlicher wurde ihre Stimme.

»Es gibt tatsächlich Leute, die den Bullen noch weniger trauen als wir«, staunte Blerim, stieg aus und ging zu Zsófia, die schlotternd hinter dem Auto wartete. In nichts anderem als in Stilettos und Unterwäsche. Er hätte ihr gerne etwas zum Anziehen gegeben. Noch lieber hätte er sie in den Arm genommen.

»Hier ist alles dicht.« Blaise gesellte sich zu ihnen und deutete auf das Gebäude zu ihrer Rechten, zu dem die Parkplätze gehörten. Ein mehrstöckiges Bürohaus. Vollkommen dunkel. »Was nun?«

*

»Es kommt jemand«, flüsterte Blaise. »Ein Auto nähert sich!«

Blerim hörte nichts als ein lautes Rauschen in seinen Ohren. Zusammengekrümmt und eingeklemmt lag er im Kofferraum des Seats. Zsófia schnaufte schnell und ängstlich vor ihm, eng an ihn gepresst, ihr Kopf auf seinen Füßen, die Fersen gegen sein Kinn gedrückt. Anders hatten sie nicht hineingepasst.

»Sie steigen aus!«

Irgendwo vibrierte ein Handy. »Máté«, flüsterte die Ungarin. Blerim spürte, wie ihr Körper zitterte.

»Schritte«, zischte Blaise. »Sie kommen näher.«

Blerim fühlte, dass etwas gegen seinen Oberschenkel gepresst wurde.

»Nehmen!«, hörte er Zsófia flüstern.

Sachte bewegte er seinen linken Arm und schob die Hand über sein Bein nach vorn, bis er ihre Finger ertastete, die ihm das vibrierende Handy entgegenstreckten. Er ergriff es und versuchte, es hinter seinem Rücken so weit wie möglich in das Wageninnere zu schieben. Der Kofferraumboden verstärkte das Geräusch massiv. Hastig schnappte Blerim das Gerät wieder und behielt es in der Hand.

Blaise drückte einen Ellbogen gegen Blerims Stirn. Über ihnen sprach jemand.

»Welche Farbe, sagt die Zeugin, hat der Wagen? Grün?«

»Ja, genau«, erwiderte jemand anders. »Aber du weißt, wie zuverlässig solche Angaben sind, Rolf. Ebenso gut könnte er blau sein oder …«

»Gelb?« Rolf klopfte auf den Kofferraumdeckel.

Zsófia zuckte zusammen, Blerim hielt den Atem an. Da spürte er, wie sie ihre Hand auf seine legte. Er konnte ihren Griff nicht erwidern, weil er das Handy halten musste. Mit dem anderen Arm konnte er sie unmöglich erreichen. So konzentrierte er sich auf die Stelle, wo ihre Haut ihn berührte, stellte sich vor, wie weich sie war, wie sie duftete, wie die schwarzen Linien der Schmetterlingstätowierung ihren Hals liebkosten.

»Oder auch gelb.«

Das Handy vibrierte wieder. Zsófia zog ihre Hand weg, Blerim versuchte, seine ruhig zu halten und das Telefon so wenig wie möglich zu berühren, um nicht aus Versehen die Lautsprechfunktion zu aktivieren.

»Überprüfen wir halt die Nummernschilder. Mehr können wir nicht tun.« Rolf stand kaum mehr als dreißig Zentimeter von Blaises Kopf entfernt. Blerim hoffte, dass Gökhan den Seat ordentlich angemeldet hatte.

»In dieser Gegend wimmelt es von zugedröhnten Schnöseln und du willst Autonummern aufschreiben?« Die andere Stimme war jetzt weiter weg. »Eine Buße wegen Missachtung eines Fahrverbots und unberechtigten Parkens wäre das höchste der Gefühle. Und dafür bräuchten wir erst noch eine Anzeige des Parkplatzeigentümers.«

»Na gut«, lenkte Rolf ein. »Fahren wir die Klubs ab. Vielleicht kriegen wir noch etwas Richtiges in die Finger.«

Noch nie hatte sich Blerim so danach gesehnt, den Motor eines Streifenwagens zu hören, wie in diesem Augenblick.

*

Am Horizont wurde es langsam hell. Zsófia hatte genauso wenig an wie zuvor. So gut es eben ging mit den gigantischen Absätzen, rannte sie die Strecke vom Taxi zum Hauseingang.