Umschlag

H. Dieter Neumann

Tod auf der Rumregatta

Kriminalroman

 

Der Autor

H. Dieter Neumann, Jahrgang 1949, war Offizier in der Luftwaffe der Bundeswehr und in verschiedenen internationalen Dienststellen der NATO. Anschließend arbeitete der diplomierte Finanzökonom als Vertriebsleiter und Geschäftsführer in der Versicherungswirtschaft, bevor er sich ganz aufs Schreiben verlegte.

Der passionierte Segler ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt in Flensburg.

www.hdieterneumann.de

 

Für
Heiner, Karl, Mike und Peter,
meine Seebären-Crew

Prolog

Die Sonne brennt draußen die Schatten fort, als Ekua stirbt. Seit ein paar Tagen liegt sie apathisch in der dunkelsten Ecke der Hütte unter einigen schmutzigen Fetzen und stinkt und stirbt. Jeden Tag ein bisschen mehr. Fliegen sitzen in dicken Klumpen um ihre Körperöffnungen herum und legen Eier ab. Seit gestern kann sie nicht mehr schlucken. Die Tante träufelt nur noch ab und zu aus einer Plastikflasche ein wenig von dem brackigen, warmen Wasser auf Ekuas Fliegenlippen.

Ihre Augen sind schon leer, die Tante hat es Kwasi gerade gesagt. Das ist nichts Besonderes hier, aber irgendetwas daran macht ihm dennoch Angst. Seine Tochter ist jetzt dreizehn Jahre alt. Kwasis Frau und fünf seiner Kinder sind lange tot. Drei haben schon ihre Geburt nicht überlebt, konnten nicht atmen durch die Löcher in den deformierten Köpfen.

Dreizehn ist eigentlich gar nicht so schlecht. Und zwei Söhne hat er ja noch für die Arbeit. Wenige Kinder werden hier dreizehn. Wozu auch? Es gibt keine schönen Jahre, keine schönen Tage. Nicht mal schöne Stunden. Warum also soll Ekua nicht sterben, was stört ihn so daran?

Etwas wird sich für ihn ändern mit ihrem Tod, das ahnt er. Nur was?

Schwer ist es für ihn geworden, einen Gedanken festzuhalten. Kwasi ist schon achtundzwanzig, ein alter Mann, und sein Kopf ist längst wirr von den Dämpfen. Er sieht und hört, ohne zu fassen. Aber er ist unruhig, seit die Tante gerade zu ihm gesprochen hat. Zögernd hebt er die Hände und legt seine verkrümmten Finger an die Stirn, schiebt die Haut hoch und starrt blicklos über die schwelenden Halden mit den Tausenden Baracken aus morschem Holz und rostigem Blech in die Ferne, dorthin, wo der Strand sein muss.

Früher, in einer anderen Zeit, hat er seinen Traum geträumt. Vom Meer, blaugrün und klar, und einem kleinen Jungen in einem Boot, der fischt. Silbrige, duftende, helle Fische. Er hat Palmen auf blankweißem Sand gesehen, wie geputzt. Sogar das Wasser auf seiner Haut hat Kwasi gespürt, kühl, frisch, versöhnlich.

Er weiß von alldem nichts mehr, hat sogar seinen Traum vergessen.

Da vorn sind seine beiden Söhne, zehn und zwölf Jahre alt. Sie haben Lumpen in eines der vielen stinkenden Rinnsale getaucht, die durch das Viertel fließen. Mit den feuchten Lappen vor Nase und Mund kann man besser arbeiten, kommt näher heran an die Berge aus schwelendem Plastik. Benzin kann hier niemand bezahlen, aber alter Schaumstoff aus dem Müll brennt auch.

Wenn man die Monitore damit umwickelt und alles in Brand setzt, schmilzt der Kunststoff, und man kann die Kupferdrähte aus dem Inneren der Gehäuse herausholen.

Sie müssen natürlich immer neben dem Feuer stehen bleiben, das wissen die Söhne, das weiß hier jeder. Man darf nie weit weggehen, egal, wie sehr die gelben Giftschwaden in der Lunge ätzen. Nicht einmal wegsehen darf man, wenn auch die Augen tränen, sonst kommen die Räuber, die hinter den Müllbergen lauern und jeden töten, der nicht auf der Hut ist. Wenn der Kunststoff schließlich weggeschmolzen ist, braucht einer nur noch die Ummantelung von den Drähten zu entfernen, während der andere mit dem Messer herumfuchtelt, um die Raubmörder abzuschrecken.

Und dann endlich hält man das reine Kupfer in der Hand. Nicht viel davon. Überall auf der Welt werden immer weniger Kupferdrähte in die Geräte eingebaut. Man muss eine Menge Elektroschrott schmelzen, um genug von dem wertvollen Metall zum Überleben herauszuholen. Aber der Nachschub reißt nicht ab. Von morgens bis abends karren die Lastwagen die alten Geräte aus Europa, aus den USA, aus China und wer weiß woher an, kippen immer neue Berge auf.

Die Menschen in den Hütten brauchen den Schrott. Zu Tausenden sind sie hier, immer mehr Familien kommen täglich hinzu – und immer weniger zahlen die Leute, die jeden Tag mit ihren Geländewagen durch den Slum fahren.

In seinen klaren Zeiten, seltener nun, spürt Kwasi Stolz auf seine Söhne. Seit er nicht mehr arbeiten kann, holen sie das Kupfer aus den Gehäusen. Und sie gehören zu den Besten im ganzen Viertel. Kaum jemand schafft mehr Geld heran als seine Jungen. Manchmal sind es fast fünf Dollar am Tag. Sie verkaufen nur gegen Dollars. Dafür gibt es wenigstens etwas zu kaufen. Gereicht hat es dennoch nie.

Ein schwacher Wind von der Küste treibt beißende Schwaden herüber. Kwasi hustet seinen keuchenden Husten, bekommt keine Luft mehr. Alles wird dunkel. Schwarzes öliges Wasser füllt seinen ausgehöhlten Kopf, bis er sich übergibt, nur bittere Galle. Zusammengekrümmt fällt er zur Seite, auf einen Haufen aus geschmolzenen Kunststoffteilen. Quiekend, verschreckt springt das kleine Schwein hoch, das sich darunter vor der sengenden Sonne vergraben hat.

Auf einmal zieht wie ein schwach glimmender Funke flüchtig der Gedanke vorbei: Was soll ich künftig in der Nacht tun, wenn Ekua tot ist?

Das Gift steckt Kwasi in den Gliedern, jede Bewegung schmerzt, aber er hat noch viel Druck in den Lenden. Als habe sich die Kraft dort gesammelt, während alles andere abgestorben ist. Es sind nur Sekunden, aber sie sind das Glück auf der Halde. In jeder Hütte suchen die Menschen diese Sekunden immer und immer wieder. Sie sind das Leben. Ihr einziges.

1

»Frau Sörensen!«

Die kleine schwarz-weiße Hündin hob ihren spitzen Kopf, stellte die Segelohren auf und blickte unschuldig von dem angekauten Rest eines Matjesbrötchens hoch, der vor ihren Pfoten auf dem Kai lag.

»Aus!«, rief Simon Simonsen. »Du sollst keinen Müll fressen, alte Ziege! Komm her, bei Fuß!«

Sichtlich widerwillig ließ die Hündin von ihrer Beute ab und trottete aufreizend langsam heran. Simon sprang an Land, hob Frau Sörensen über die Reling und setzte sie an Bord.

»Ich hole jetzt Brötchen«, erklärte er ihr. »Und du bleibst hier und passt auf das Schiff auf!« Die Hündin sah ihn an, als verstünde sie jedes Wort, drehte sich um und sprang auf das Schiebeluk über dem Niedergang. Dort setzte sie sich, drehte den Kopf hin und her und blickte dabei aufmerksam den Kai entlang.

Simon grinste. »Schön aufpassen, altes Mädchen«, rief er ihr zu. Er wusste genau, dass seine Mischlingshündin jeden Eindringling mit ihrem wütenden, wenn auch schon etwas heiseren Gebell abschrecken würde, zur Not auch unter Einsatz ihrer spitzen Zähne. Niemand kam an Bord der Seeschwalbe, wenn Frau Sörensen etwas dagegen hatte.

Langsam schlenderte Simon den Kai entlang und blickte über das glitzernde Wasser zur anderen Hafenseite hinüber, wo die Morgensonne aus einem wolkenlosen Himmel strahlte. In diesem Jahr sah es gut aus mit der Wettervorhersage für die Rumregatta. Heute war Donnerstag, und bis Sonnabend sollte das kleine Zwischenhoch mit Sonne und gutem Wind wohl noch durchstehen, hatte Kapitän Dietzel vorhin auf DP07, dem privaten Seefunk, vorhergesagt. Erst am Sonntag würde wieder Regen drohen.

Simon hatte in den vielen Jahren schon jedes Wetter während dieser Veranstaltung erlebt, von schwerem Sturm, bei dem die alten Gaffelsegler fest vertäut im Hafen blieben, bis zu brütender Hitze mit totaler Flaute. Solch gute Aussichten wie in diesem Jahr waren ein seltener Segen für das größte Treffen der Traditionssegler in Nordeuropa, das jährlich im Mai stattfand. Ganz Flensburg fieberte dem großen Fest entgegen. Die meist norddeutschen und skandinavischen Besucher ließen sich dieses Ereignis zwar auch bei Schmuddelwetter nicht entgehen – und die Crews auf den Traditionsseglern aller Größen und Klassen schon gar nicht –, aber vor allem die Betreiber der Stände auf dem Gaffelmarkt am Kai und rund um die Hafenspitze durften sich bei solch warmen Sonnentagen wohl auf besonders großen Andrang freuen. Die Aufbauarbeiten für die Buden, die verschiedenen Bühnen und die Bierzelte waren gestern bereits abgeschlossen worden. Heute, am Himmelfahrtstag, war schon mit dem ersten Andrang zu rechnen, auch wenn die meisten Schiffe erst morgen eintreffen würden, um an der Regatta am Sonnabend teilzunehmen.

Simon drückte sich Richtung Schiffbrücke zwischen zwei Imbisswagen hindurch, die um diese Zeit noch geschlossen waren, überquerte die Straße und ging durch den Oluf-Samson-Gang hoch zur Norderstraße, wo es einen Bäcker gab, der auch an diesem Feiertag wegen des großen Ereignisses geöffnet hatte. Gerade war er auf dem Kopfsteinpflaster in der uralten Gasse stehen geblieben, um die bunten Stockrosen vor einem der liebevoll restaurierten Fischerhäuser zu bewundern, als sein Handy sich meldete. Er fischte das Gerät aus der Hosentasche und blickte aufs Display. Helene.

»Na, ausgeschlafen?«, fragte sie fröhlich.

»Ja, klar. War schon mit Frau Sörensen Gassi, und jetzt hol ich Brötchen.«

»Wann kommt denn die Nervensäge, pardon, der liebreizende Herr Papke aus Berlin mit seinen … äh … Kumpels?«

»Rede nicht so despektierlich über ihn«, erwiderte Simon lachend. »Schließlich gehört ihm die Seeschwalbe, du weißt ja.«

Natürlich wusste Helene Christ das. Schließlich hatte sie in den letzten zwei Jahren die Dramen um den über fünfzig Jahre alten Colin Archer hautnah miterlebt.

»Sag schon, wann werden die ankommen?«, fragte sie.

»Der Zug kommt fahrplanmäßig …«

»Was?«, rief Helene erstaunt. »Er fährt nicht mit seinem fetten Jaguar?«

»Nee, er will ja auch einen Törn raus auf die Ostsee machen. Also segeln wir am Sonntag nach Rostock. Da setz ich Papke und seine Freunde dann ab, und von dort fahren sie mit der Bahn nach Hause.« Simon zog einen zerknüllten Zettel aus der Gesäßtasche seiner Jeans und warf einen Blick darauf. »Sie kommen heute mit dem ICE, der direkt von Berlin fährt. Ankunft um 15:25 Uhr. Aber warum interessiert dich das so?«

»Na, ich bin ja nicht allzu weit weg von dir. Dann könnte ich doch in meiner Mittagspause was Leckeres einkaufen, an Bord kommen, und wir essen in Ruhe, bevor die Berliner über dich hereinbrechen. Was hältst du davon? Die nächsten Tage werden wir ja nicht viel voneinander haben. Papke wird dich voll in Anspruch nehmen, denke ich.«

»Großartige Idee, das machen wir!«, rief Simon begeistert aus. »Vielleicht können wir dann gleich noch mal über deinen Umzug reden. Wir sollten uns endlich einig werden, finde ich. Auch wegen der Kündigungsfrist für deine Wohnung.«

Keine Reaktion.

»Äh, Helene …?«

Ihr Schweigen wurde ungemütlich. Dann kam ein betont unbetontes: »Ich bin noch dran.«

»Du hast doch sicher noch einmal nachgedacht? Ich meine, ach, du weißt schon …«

Ihre Stimme war leise, klang nicht mehr fröhlich. »Da gibt es nichts mehr zu überlegen. Der Denkprozess ist abgeschlossen.«

»Also wirklich, sei doch nicht so stur«, fuhr Simon auf. »Es ist die beste Lösung.«

»›Lösung‹? Was für ein Ausdruck. Ich habe kein Problem, für das ich eine ›Lösung‹ suchen müsste. Wir haben beschlossen, zusammenzuziehen, ja. Aber ich habe dir erklärt, dass ich auf keinen Fall dauerhaft in dieses Haus einziehen werde. Basta.«

Simon fluchte unhörbar in sich hinein. Verdammt, warum hatte er gerade jetzt dieses Thema wieder angeschnitten? Er hätte sich ohrfeigen können. »Also gut, lassen wir das für heute«, versuchte er, zu beschwichtigen. »Wir reden ein andermal.« Das konnte nicht klappen – er wusste es schon, als er es sagte. Nicht bei Helene.

Ihr Tonfall war noch kühler geworden. »Daran ändert sich auch ein andermal nichts, mein Lieber. Du hast das Haus seinerzeit mit deiner Frau gemeinsam geplant und gebaut – und zwar für euch beide. Es sind ihre Ideen, die da drinstecken. Und sie hat alles …«

»Verdammt, Helene, das haben wir doch schon zigmal durchgekaut. Lisa ist seit zwei Jahren tot, ermordet, wie du sehr wohl weißt. Was hat das …?«

»Du willst es einfach nicht verstehen, was, Simon?«

»Meine Güte, du kannst ja alles umräumen und neu einrichten, und wir renovieren und bauen auch um, wenn’s sein muss. Aber es ist nun mal auch mein Haus. Hab’s knapp genug vor der Versteigerung retten können. Und das Dorf magst du doch, und alle kennen dich da nun schon und …«

»Gegen den Ort hab ich gar nichts, es geht allein um das Haus. Verkauf es, wenn du mit mir zusammenleben willst, Simon. Hab ich dir schon zehnmal gesagt. Oder, wenn du das nicht übers Herz bringst – was ich durchaus verstehen würde –, dann vermiete es. Ich brauche kein Haus, das weißt du. Mit dir ziehe ich überallhin, auch in eine Dreizimmerwohnung – aber nicht in dieses Haus. Überleg es dir.«

»Aber …«

»Und iss dein Mittagessen heute lieber allein. Schöne Zeit an Bord, grüß den ollen Papke – und tschüss!«

»He, warte doch bitte!«, versuchte Simon, das Unvermeidliche zu verhindern. »Du kommst doch während des Wochenendes mal an Bord, hoffe ich? Ich meine, wir sehen uns sonst erst wieder, wenn ich von Rostock zurückkomme und … Helene, hallo!«

Das Display grinste ihn höhnisch an. Verbindung beendet.

»Scheiße, verdammte«, fluchte Simon vor sich hin und steckte das Handy zurück in die Tasche. Seit Monaten stritten sie sich über dieses leidige Thema. Beide wollten sie endlich zusammenleben, unter einem Dach, so weit war alles klar. Und sein Haus bot sich dafür doch geradezu an, fand Simon. Es stand in dem kleinen Küstenort am Südufer der Flensburger Förde, wo er aufgewachsen war. Gerade mal zwanzig Kilometer von der Flensburger Stadtmitte und damit von Helenes Arbeitsplatz in der Polizeidirektion entfernt. Praktischer ging es doch gar nicht mehr! In dem Dorf befand sich auch die Baufirma, deren Geschäftsführer Simon war, und die Seeschwalbe lag wenige Hundert Meter vor dem Haus im kleinen Hafen. Ideal. Eigentlich.

Aber Helene wollte nicht. Eher würde sie … ja, was? Würde sie es darüber auf einen Bruch ankommen lassen? Das konnte doch nicht wahr sein nach all dem, was sie gemeinsam in den letzten zwei Jahren erlebt hatten.

Simon fröstelte plötzlich in der warmen Morgensonne. Die Kälte in ihrer Stimme spürte er noch immer am ganzen Leib. Unwirsch schüttelte er sich. Dann drehte er sich zögernd um und stapfte wütend die Gasse hinunter, zurück zum Boot. Er brauchte einen Kaffee. Der Appetit war ihm vergangen.

2

»Janz jroße Klasse«, rief Papke aus und hielt die Flasche hoch. »Ick freu ma so, det ick wieda ma schippan kann! Prost, Leute – und uff ’ne jute Zeit!« Mit einem lauten Plopp sprang der Bügelverschluss auf, und mit sichtlichem Behagen ließ der Berliner das Bier in seine Kehle laufen. »Schön kalt!« Anerkennend nickte er Simon zu.

»Hab noch ein paar in der Kühlung, keine Sorge.«

»Das ist gut!«, sagte einer der beiden Freunde Papkes strahlend, der sich vorhin als Helmut vorgestellt hatte. »Ganz trockene Luft da in der Bahn. Und ’ne elende Hitze – von wegen Klimaanlage!«

Simon schmunzelte. Er stand, ebenfalls eine Flasche Bier in der Hand, mit dem Rücken zum Kajütaufbau in der geräumigen Plicht der Seeschwalbe und betrachtete amüsiert die drei Männer, die vor einer halben Stunde mit dem Taxi vom Bahnhof gekommen waren. Zu seinen Füßen saß Frau Sörensen, die Herrn Papke reserviert, aber halbwegs gnädig begrüßt hatte, und fixierte dessen beiden Freunde argwöhnisch. Wer fremd an Bord war, hatte es bei ihr nicht leicht.

»Wie sieht denn nun eigentlich unser Programm aus, Skipper?«, fragte Lutz, der dritte Mann der Papke-Crew. »Friedel hat uns schon viel erzählt, aber wenn ich es richtig sehe, haben Sie ja das Kommando hier, oder?«

»Ich heiße Simon. Und …«

»An Bord von so ’nem Sejelboot duzt man sich. Det is so üblich!«, trompetete Papke. »Und damit det klar is: Simon is unsa Skippa, aba ihr seid meene Jäste!« Er schlug dem neben ihm sitzenden Lutz mit seiner Schrotthändlerpranke begeistert auf die Schulter und hielt Simon seine leere Flasche hin. »Und hier an Bord soll keena vadursten!« Sein mächtiger Leib wogte gut gelaunt auf der Sitzbank hin und her.

»Wir machen die Leinen heute ja nicht mehr los«, gab Simon zurück und nahm die leeren Flaschen der drei in Empfang. »Also tut euch keinen Zwang an.« Er stieg den Niedergang hinunter und öffnete den Deckel der Kühlbox.

Richtig gemacht, dachte er und grinste in sich hinein, als er die vielen Bierflaschen sah, die dort gut gekühlt auf ihren Einsatz warteten. In weiser Voraussicht hatte er keinen wertvollen Stauraum an andere Dinge verschwendet.

Wenn er den Törn nach Rostock mitrechnete, lagen nun fünf harte Tage vor ihm, für die er sich Urlaub hatte nehmen müssen – der Tribut, den er dem Eigner der Seeschwalbe zahlen musste. Aber mehr als zweimal im Jahr war Friedel Papke, den er an Bord natürlich duzte, bisher nicht an die Küste gekommen. Das ganze restliche Jahr über stand das Segelschiff Simon zur Verfügung, der sich um alles kümmerte, was das Boot betraf. Der Eigner zahlte die Liegeplatzgebühren, das Winterlager, alle Reparaturen und jedes Ersatzteil. Die Seeschwalbe hatte ihren Liegeplatz nur ein paar Hundert Meter von Simons Haus entfernt im Hafen des kleinen Ortes, und er konnte sie nutzen, wann und wie er wollte. Dem Berliner schien dieser Aufwand nicht zu groß zu sein, um seinen Kunden und Geschäftsfreunden gern und häufig von »det jroßartije Sejelschiff, det ick anne Ostsee zu liejen habe« erzählen zu können.

Eigentlich ein fantastischer Deal, und dennoch …

Simon zuckte kurz mit den Schultern, griff entschlossen nach dem Nachschub und stieg wieder ins Cockpit hoch. »Also, dann mal zum Programm«, sagte er und drückte die Flaschen in die drei Hände, die sich ihm entgegenreckten. »Heute bleiben wir hier am Kai liegen. Ihr könnt nachher einen Bummel über die Meile machen, da findet ihr auch reichlich kulinarische Angebote, alles, was ihr wollt. Morgen müssen wir losmachen, denn hier wird’s voll werden. Direkt vorn am Kai liegen dann die großen Schiffe, die hereinkommen, auch Dreimaster. Wir fahren denen entgegen und begleiten sie anschließend in den Hafen hinein. Wird euch Spaß machen! Später müssen wir gucken, wo wir selbst einen Platz kriegen. Aber das regelt sich alles.« Simon nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Da es noch seine erste war, wurde das Bier schon warm.

»Und was ist mit dieser Rumregatta? Segeln wir da auch mit?«, fragte Helmut.

»Nee, det kannste vajessen«, gab Papke zurück. »Da dürfen nur Jaffelsegler teilnehmen, also die Kähne mit diese olle Takelung. Wir machen ’ne Rejattabejleitfahrt. Da kriejen wa ooch allet mit, aba ohne Stress.«

Frau Sörensen warf ihrem Herrchen einen verstörten Blick zu. Vermutlich hatte sie von einer ›Jaffel‹ auch noch nie etwas gehört.

Simon schmunzelte. »Die Seeschwalbe ist schon über fünfzig Jahre alt. Der Mast ist zwar noch aus Holz, aber das Boot ist kein Gaffelsegler, sondern besitzt bereits eine moderne Kuttertakelung. Das heißt, wir haben ein dreieckiges Großsegel und können zwei Vorsegel setzen.« Er zeigte zum Bug. »Ihr seht da vorn zwei kräftige Drähte, die zum Masttop führen. Daran ziehen wir die verschiedenen Segel hoch. Aber das werdet ihr alles noch mitkriegen, wenn wir unterwegs sind.«

Eine Stunde und ein paar Runden Bier später machten sich die drei Berliner landfein, stiegen über die Reling und stürzten sich unternehmungslustig ins Gewimmel auf dem Gaffelmarkt. Wie Simon erwartet hatte, waren schon heute viele Besucher vom guten Wetter in den Hafen gelockt worden. Dicht gedrängt schoben sie sich über den Kai, standen in Trauben vor den Ständen, an denen Bootsbauer, Schmiede, Fassmacher und andere maritime Handwerker ihre uralte Kunst vorführten. Dicht bei der Seeschwalbe hatten die Reepschläger auf dem Pier ihre beliebte Bude aufgebaut. Dort durften sich die Leute darin üben, selbst am Seilergeschirr Taue und Tampen zusammenzudrehen.

Grillduft lag in der Luft, es roch nach Pommes frites, gebrannten Mandeln und Bratfisch. Musiker aller Stilrichtungen wetteiferten hörbar miteinander, Klänge von Seemannsliedern und eine dröhnende Lautsprecherstimme, die fortwährend »Hier gibt’s Backfisch« grölte, wehten an Bord.

Frau Sörensen saß in majestätischer Pose auf dem Niedergangsluk und beäugte die vorbeiziehenden Landratten mit gelangweilter Herablassung. Simon hatte sich bei seinen Gästen entschuldigt. Später wolle er vielleicht noch dazustoßen, hatte er gesagt – er würde sie schon finden. Erst müsse er noch ein paar Telefonate erledigen.

Es war nur ein einziges, aber dafür brauchte er niemanden um sich herum. Außerdem war seine Lust auf feuchtfröhlichen Frohsinn seit dem morgendlichen Gespräch mit Helene gleich null. Er blickte auf seine Armbanduhr. Halb sechs. Ob sie wohl noch im Dienst war? Er drückte die Taste für ihre Durchwahlnummer.

»Ja doch, Apparat Christ, Schimmel«, knurrte es nach mehrfachem Läuten aus dem Handy.

»Simon Simonsen hier, hallo, Herr Schimmel. Helene scheint nicht mehr auf der Dienststelle zu sein, oder?«

»Nee, die ist schon nach Hause gefahren. Versuchen Sie es mal über ihr Handy. Sie wollte doch eigentlich zu Ihnen an Bord kommen, dachte ich.«

»Hat sie das gesagt? Wann?«

»Heute Mittag.«

»Ja … äh, da ist was dazwischengekommen«, gab Simon lahm zurück.

»Aha.« Mehr kam nicht von dem Hauptkommissar, der Helenes Partner in der Mordkommission war.

»Na ja, wir haben da eine … Meinungsverschiedenheit. Hat sie Ihnen wahrscheinlich erzählt, oder?«

»Ich weiß von nichts«, wehrte der Alte ab. »Aber Sie offenbar auch nicht.«

»Wie bitte? Wie soll ich das verstehen?«

»Als Hilfssheriff waren Sie nicht so begriffsstutzig«, grollte Schimmel.

»Hören Sie mal«, fuhr Simon ärgerlich auf, »was soll das denn heißen? Wollen Sie mir etwas sagen?«

»Geht mich nichts an. Und Helene hat mir natürlich auch nichts erzählt. Aber was ich so mitkriege …«

»Was sind das denn für kryptische Andeutungen? Sagen Sie doch klar und deutlich, was Sie mir mitteilen wollen.«

»Nur eins, Simon: Schalten Sie mal Ihr Gehirn ein. Haben Sie ja, so was, weiß ich doch.«

»Vielen Dank, Herr Hauptkommissar, sehr freundlich – wie immer«, stieß Simon verärgert hervor und beendete das Gespräch. Wütend hob er den Holzdeckel vom Barfach im Salontisch und griff nach einer der dort seefest verstauten Flaschen. Dann holte er ein Glas aus dem Kombüsenschapp, schenkte sich einen doppelten Gammel Dansk ein und stürzte ihn hinunter.

Der Graue, wie Schimmel in der Polizeidirektion Flensburg genannt wurde, hatte ihn aus der Fassung gebracht. Wieder mal. Verdammter Kerl.

3

Die drei Berliner waren bei ihrem zweiten Guinness angelangt, nachdem sie die bunte Festmeile bis zur Hafenspitze hoch- und wieder hinuntergewandert waren. Dazu hatten sie fast zwei Stunden benötigt, denn Friedel Papke war nicht müde geworden, seinen beiden Freunden die feilgebotenen Waren wärmstens ans Herz zu legen. Es schien fast so, als wäre er am Umsatz der Buddelschiffhöker, der Verkäufer von Fischerhemden, Seemannspullovern und allerlei maritimem Nippes, beteiligt. Immer wieder auch hatten sie ihren Rundgang an einer der vielen Fressbuden unterbrochen, wo Papke sein offenbar unstillbares Verlangen nach allen erdenklichen Sorten gegrillter und gebratener Wurstspezialitäten lustvoll stillte.

Erhitzt, aber hochzufrieden ließen sie sich schließlich dort nieder, wo man Guinness frisch zapfte – nur hundert Meter vom Liegeplatz der Seeschwalbe entfernt. Nebenan sang jemand mit tiefer Stimme und starkem russischem Akzent zum Akkordeon wehmütige Lieder von kleinen weißen Möwen, von traurigen Seeleuten und vom Heimweh, und zu den Füßen der rechtschaffen ermatteten Berliner stapelten sich die Plastiktüten mit ihrer Beute.

Helmut betrachtete verträumt einen mit grellen rot-weißen Ringen bemalten Plastikleuchtturm, den er auf den Tisch zwischen die Biergläser gestellt hatte. »Mit Beleuchtung!«, erklärte er den anderen. »Kommt bei uns zu Hause aufs Regal.«

»Da wird sich deine Frau aber freuen«, murmelte Lutz in sein Glas hinein.

»Ja, det Flair hier is schon eenmalig«, schwärmte Papke, nahm einen tiefen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken den Schaum aus den Mundwinkeln und seufzte: »Ach ja …«

Erstaunt hob Lutz den Kopf und sah ihn an. »Is was?«

»Ach ja …«, wiederholte Papke, setzte eine nachdenkliche Miene auf und blickte Richtung Seeschwalbe, deren Mastspitze er über den Köpfen der Menge erkannte.

»Was bist du denn auf einmal so elegisch, Friedel?«, fragte Helmut misstrauisch. »Hast du Magenschmerzen? Würde mich nicht wundern!«

»Um ehrlich zu sein – ick weeß nich, ob ick det Boot noch lange behalten kann. Meine Olle macht ma Dampf ohne Ende.«

»Wieso das denn?«, fragte Lutz erstaunt nach. »Sie hat sich doch bisher nicht darum geschert – so hab ich dich jedenfalls verstanden. Was ist denn los?«

»Uff eenmal will se so’n Ferienhaus uff ne jriechische Insel. Woot imma warm is. Janz varrückt isse danach, lässt ma keene Ruhe damit.« Er seufzte tief. »Sonst kann ich ja nüscht sajen jejen meine Püppi, jar nüscht, ’ne richtije Perle isse, echt. Ihr wisst ja, det se schon meine vierte is – und diesmal soll et halten. Det wird ja ooch teuer, so langsam.« Papke sah seine Freunde treuherzig an, die verständnisvoll nickten und dann angelegentlich in ihre fast leeren Gläser starrten. »Aba een Haus in det Äjäische Meer und denn noch een Sejelboot anne Ostsee – det kann ooch ick ma nich leisten.«

»Was willst du denn machen? Vielleicht … verkaufen?«, fragte Helmut vorsichtig.

»Na ja, ick weeß ooch noch nich …«, murmelte Papke betrübt und starrte eine Weile grübelnd vor sich hin. Dann setzte er sich ruckartig auf, hob den Kopf und leerte sein Glas in einem Zug. »Ick hol uns mal noch ’ne Runde«. Entschlossen griff er sich die leeren Gläser und stand schwungvoll auf.

Als alle wieder ein frisches Guinness vor sich stehen hatten, fragte Lutz, der erst seit Kurzem mit Papke Geschäfte machte: »Wie wär’s denn, wenn Simon, unser Skipper, das Schiff kaufen würde? Hat es ihm nicht sogar früher mal gehört?«

»Hat et, hat et«, nickte Papke. »Aber ick weeß nich, ob er sich det schon wieda leisten kann – hat det Boot damals an mich vakooft, weil er pleite war.« Von kräftigen Zügen aus seinem Bierglas unterbrochen, erzählte der Schrotthändler dann die Geschichte der missglückten Jungfernfahrt mit seiner Frau, die sich seither weigerte, auch nur einen Fuß an Bord eines Schiffes zu setzen, und von dem Deal, den er daraufhin mit Simon gemacht hatte. »Der Junge war froh, auf die Weise noch wat von sein ehemalijen Besitz zu haben. Der hat nämlich janz jut wat mitjemacht, det könnta wirklich jlooben! Seine Ex wurde ermordet ausn Wassa jefischt und ihm ham se dann erst ma vahaftet.« Gedankenschwer blickte er von einem zum anderen. »Ja, det is ’n Ding, wa? Innen Knast ham se ihm jesteckt – unta Mordvadacht!«

Helmut kannte das alles, aber Lutz, der zum ersten Mal privat mit Papke unterwegs war, hakte nach: »Wann war das denn?«

»Zwee Jahre is det jetzt her. War ’ne Riesenstory«, antwortete Papke. »Aba det is ja nu allet Jeschichte. Klar issa unschuldig jewesen … Inzwischen issa ooch wieda auf die Füße jekommen, is nu Jeschäftsführer in seine frühere Firma – aba keene Ahnung, ob er schon wieda jenuch Jeld hat, um det Boot zurückzukoofen.« Er stürzte den Rest Guinness in sich hinein. »Ick weeß ja ooch noch jar nich, ob ick det wundaschöne Schiff wirklich vakoofe – et liecht ma doch sehr am Herzen.« Pathetisch legte er seine breite Pranke flach auf die Brust und atmete tief und schnaufend durch. »Vielleicht übalecht sich meene Püppi det ja doch noch mal mit die Äjäis.« Damit stand er entschlossen auf, um eine neue Runde zu holen. »Aba Simon jejenüba haltet ihr erst ma die Klappe wejen diese Sache. Ick bin ma wirklich noch nich sicha.«

Als schließlich absolut kein Tropfen mehr in die drei Männer hineinpasste, nicht einmal in Friedel Papke, rafften sie ihre Einkaufsbeutel zusammen, Helmut klemmte sich den in der Dunkelheit prachtvoll blinkenden Plastikleuchtturm unter den Arm, und sie schwankten bierselig hinüber zur Seeschwalbe.

Die Ankunft der Männer war unüberhörbar. Frau Sörensen knurrte bedrohlich, als der Missklang von drei Stimmen heranwehte, die zu einer unbestimmbaren Melodie mehrstimmig irgendetwas sangen, in dem Liebe und Matrosen vorkamen.

»Lass gut sein, unsere tapferen Helden kommen zurück. Reg dich nicht auf und lass sie zufrieden«, befahl Simon der Hündin. Er grinste beim Anblick seiner stark angeschlagenen, aber fröhlichen Crew und half ihr über die Reling an Bord. Papke drängte allen lautstark und unerbittlich »noch een Absacka« auf, aber danach verschwanden die drei rasch nach unten in ihre Kojen.

Keine fünf Minuten später dröhnte lautstarkes Schnarchen zu Simon ins Cockpit herauf. Und bald mischte sich noch ein sehr ähnliches Geräusch in das Konzert. Es kam von Frau Sörensen, die sich auf ihrer Decke unter der Spritzkappe zum Schlafen gebettet hatte.

»Okay, dann kann ich ja wohl auch in die Koje«, murmelte Simon lächelnd und stieg den Niedergang hinab.

4

Die Leiche war kaum zu erkennen. Nur schwacher Lichtschein von einer Laterne hinter dem Toilettenwagen fiel auf den Körper, der zwischen zwei überquellenden Müllcontainern auf dem Rücken lag. Papke stand stocksteif davor, blickte entsetzt auf die leblose Gestalt zu seinen Füßen und zitterte plötzlich am ganzen Leib. Nach und nach hoben sich die Biernebel in seinem Kopf, und er erkannte die große dunkle Pfütze um den Kopf herum, aus dessen dunkelhäutigem Gesicht ihn zwei tote Augen anstarrten.

»Scheiße«, stieß der Schrotthändler erstickt hervor. »Scheiße, Scheiße …« Sein Blick ging hinüber zu der Gestalt, die sich mit gesenktem Kopf nur fünf Meter entfernt von der Leiche zusammengekauert hatte, hin und her schwankte und fortwährend unverständliches Zeug brabbelte.

Hektisch sah Papke sich um, doch niemand sonst war weit und breit in Sicht. Er schaute auf seine Armbanduhr. Drei Uhr zwanzig.

Ein gewaltiger Harndrang hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, und da Simon darum gebeten hatte, die Bordtoilette möglichst nur auf See zu benutzen, war er unter den misstrauischen Blicken von Frau Sörensen über die Reling geklettert und zum Toilettenwagen gewankt, der nicht weit entfernt hinter den Buden an der Straße stand.

Gerade als Papke an der Rinne gestanden und sich mit wohligem Stöhnen erleichtert hatte, war plötzlich ein spitzer Schrei durch die dünne Wand des Wagens hindurch an seine Ohren gedrungen, gefolgt von einem schrecklichen Laut, wie in höchster Qual ausgestoßen, und einem unheimlichen Aufheulen. Durch und durch war ihm das gefahren und hatte ihn derart erschauern lassen, dass fast ein Unglück mit dem strammen Strahl passiert wäre. Kurz darauf waren ein dumpfer Aufschlag und schließlich ein Wimmern zu hören gewesen, das nicht hatte aufhören wollen. Es hatte noch eine Zeit gedauert, bis der Schrotthändler fertig und endlich in der Lage gewesen war, den Wagen zu verlassen. Auf der obersten Treppenstufe war er stehen geblieben und hatte in die Nacht hineingelauscht, während sich in rasender Geschwindigkeit und begleitet von heftigem Pochen elende Kopfschmerzen in seinem Schädel ausgebreitet hatten.

Erst hatte Papke gar nichts gehört. Stille, Totenstille. Aber plötzlich hatte das Wimmern wieder eingesetzt – und war ganz klar von der Rückseite des Toilettenwagens gekommen. Einen Augenblick lang hatte der Berliner mit sich gerungen. Eine innere Stimme hatte ihm zugeflüstert, das alles ginge ihn gar nichts an – das war bestimmt nur ein Betrunkener, mit dem er bloß Scherereien bekommen würde. Dann aber hatte Papke unwirsch seinen schmerzenden Kopf geschüttelt, war, wenn auch recht zögerlich, die Treppe hinabgestiegen, um die Ecke herumgegangen und hatte im trüben Licht den Mann gesehen, der da wankend kauerte und ununterbrochen monoton vor sich hin stammelte. Sekunden später hatte Friedel Papke die Leiche entdeckt.

Immer noch wie festgenagelt stand er nun da, gebannt durch den Ausdruck der weit aufgerissenen Augen des Toten – helle Male in einem dunklen, erstarrten Gesicht. Blut sickerte aus der Nase des Toten, und um den Schädel herum lagen grauweiße Gewebeteile in einer rasch größer werdenden Blutlache.

Er musste irgendetwas tun, das wusste Papke genau. Nur wollte ihm partout nicht einfallen, was. Wenn doch der Kerl da drüben wenigstens mit seinem elenden Gewimmer aufhören würde! Das unablässige Gestammel, von dem er kein Wort verstand, zerrte mächtig an seinen Nerven.

»He, du da!«, rief er. »Wat machst du da? Wer bist du? Wat redest du?« Keine Reaktion. Der Kerl schien nicht einmal zu bemerken, dass jemand ihn ansprach.

Vadammt, ick muss jetzt handeln, unbedingt. Ick sollte …

Wieder verfing sich Papkes Blick in den blinden Augen des Toten. Er spürte, dass ihm übel wurde. Schon brannte die bittere Galle in seiner Kehle. In seinem Kopf schepperte es schmerzhaft, als schlüge jemand mit einem Hammer munter auf ein Stück Blech ein. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle hingesetzt und …

Und wat? Reiß dir zusammen, Friedel, du musst …

Ein Telefon – er musste jemanden anrufen, ganz klar! Am besten die Polizei … Natürlich, was denn sonst? So was Blödes, wieso war er da nicht sofort drauf gekommen?

Aber das Handy lag neben seiner Koje auf der Seeschwalbe. Das Boot, genau! Er musste aufs Boot zurück, seine Leute alarmieren, vor allem Simon wecken. Ja, klar – Simons Freundin war doch bei der Kripo!

Dieser Gedanke beruhigte Papke wundersam schnell – warum auch immer –, und das Zittern ließ ein wenig nach. Aber durfte er jetzt einfach weggehen? Das hier war doch so was wie ein Tatort.

Verdammte Scheiße! Wahrscheinlich war sowieso alles falsch, was er machte. Er fuhr sich wild durch die Haare und rieb sich die Stirn. Als er auf den schmerzenden Schläfen ankam, zuckten seine Finger zurück.

Was, zum Teufel, blieb ihm übrig? Er musste zum Schiff zurück. Und zwar sofort. »Bleib ja sitzen, du!«, rief er dem brabbelnden Häufchen Mensch zu, das dahockte und seinen Oberkörper so heftig hin und her bewegte, dass es aussah, als würde es jeden Moment umkippen. »Wehe, du haust ab!«

Dann drehte er sich schnell um und rannte los.

»Was?« Simon fuhr hoch und sprang aus seiner Koje.

»’ne Leiche, ja doch! Beim Toilettenwagen dahinten – ’n toter Nejer!«, wiederholte Papke schrill. »Wenn ick et doch saje!«

»Ein toter … was?«, rief Simon und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

»Mein Jott, ’n Nejer eben, so’n … Dunkelhäutija, janz jung noch. In seinem Blut liechta da. Ick hab et mit meine eijenen Augen jesehn!«

Er ist noch betrunken – sicher, das war die Erklärung. Simon vermutete, dass der gute Mann einfach seinen Rausch noch nicht ausgeschlafen hatte. »Nun mal langsam«, beschwichtigte er. »Was hast du denn um die Zeit …?«

Doch nun drehte Friedel Papke erst richtig auf: »Pinkeln musste ick, vadammt noch mal, da hab ich ’n Schrei jehört und ’n Plumps, wie wenn eena uff’n Boden fällt. Ick also los und rum um det Pissoir und da hab ick ihn denn jefunden. Und noch eena is da …«

»Was? Zwei Leichen?«, fragte Simon, der mühsam um Fassung rang, während er sich schnell einen Pullover überzog und in seine Jeans stieg.

»Nee, der is wohl bloß besoffen oder ballaballa oder wat weeß ick … Keene Ahnung, ob der ooch valetzt is. Ick jloobe, da war Blut an seine Hände, aba sonst hat et nich danach ausjesehn. Aba janz richtig issa nich im Kopp. Vielleicht hat der ja den Nejer im Suff erschlajen – oder so …« Papke zuckte plötzlich zusammen. »Ick hoffe nur, det der Kerl sich nich inzwischen aus’m Staub jemacht hat!«

»Nun mal der Reihe nach, Friedel!« Simons Stimme hatte einen scharfen Klang bekommen.

Der Schrotthändler ließ sich erschöpft auf die Polster der Salonbank sinken, holte tief Luft und begann mit seiner Geschichte noch einmal von vorn. Schon nach den ersten paar Sätzen lief Simon alarmiert an ihm vorbei in Richtung Niedergangstreppe. »Los, komm, zeig mir, wo du den Toten gefunden hast!« Im Vorbeigehen griff er nach seinem Handy, das auf dem Kartentisch lag, und wählte die Notrufnummer der Polizei.

5

Kriminalkommissarin Helene Christ trat hinaus in die Morgenluft und schloss die Tür des Notarztwagens hinter sich. Langsam ließ sie ihren Blick über den Hafen wandern und atmete tief ein. Oben hinter dem Wasserturm am anderen Fördeufer zeigte sich das erste Licht der aufgehenden Sonne.

Erst wenige Schiffe waren im Hafen. Nur einen einzigen großen Zweimaster entdeckte sie. Er lag auf der anderen Seite der Innenförde vor den Silos am Ballastkai, beide Masten gleich hoch und eine Gaffel am Großmast – eine Brigg. Die Flagge am Heck war nicht zu erkennen. Komisch, dass die nicht auf dieser Seite festgemacht hatten. Vielleicht warteten sie, bis ihnen hier ein Platz zugewiesen wurde. Dort drüben jedenfalls wäre kaum mit vielen Besuchern zu rechnen, die das Schiff besichtigen wollten.

Hier auf der Westseite lagen bisher nur ein paar kleinere Boote, Einmaster, nicht länger als fünfzehn, zwanzig Meter. Die meisten der größeren Schiffe würden erst gegen Abend aus dem dänischen Sonderburg eintreffen, wo sie sich nach guter Tradition am Himmelfahrtstag sammelten, um heute, am Freitag, im Rahmen einer Auftaktregatta nach Flensburg zu fahren. Schon am Nachmittag würde es hier anders aussehen. Und wenn dann später die vielen Masten der dicht an dicht liegenden Segler in den Himmel ragten, wäre kein freier Blick auf Flensburgs Ostufer mehr möglich, das wusste Helene.

Ihr Blick fiel auf die Seeschwalbe, die etwa hundert Meter entfernt festgemacht hatte. Ein flaues Gefühl breitete sich sofort in ihrem Magen aus.

Der Streit mit Simon.

Warum nur wollte er ihre Haltung nicht begreifen? Oder lag sie vielleicht selbst falsch, war uneinsichtig, starrköpfig?

Verdammt, sie wollte keine Konfrontation, hasste die miese Stimmung zwischen ihnen. Wie gern würde sie endlich mit ihm zusammenziehen, ja, aber bestimmt nicht in dieses Haus. Nein, das nicht.

Sie presste die Lippen zusammen und drehte sich um. Ihr Blick fiel auf das rot-weiße Absperrband, das den Tatort weiträumig umspannte und leicht in der Morgenbrise flatterte. Mehrere, in weiße Schutzanzüge gekleidete Spurensicherer liefen herum, knieten auf dem Boden und nahmen Proben. Immer wieder flammte grell das Blitzlicht auf, wenn der Fotograf seine Tatortbilder schoss.

Vor einer halben Stunde war sie eingetroffen – kein weiter Weg hierher von ihrer Wohnung in der Schloßstraße über der Stadt auf der westlichen Höhe. Ihr Wohnzimmerfenster konnte sie von hier aus sehen. Nachdem der Anruf des wachhabenden Kollegen sie aus dem Schlaf geholt hatte, war die junge Kommissarin rasch unter die Dusche gesprungen, hatte sich die Zähne geputzt, ihren Jogginganzug angezogen und war losgelaufen. Sie hatte sogar darauf verzichtet, ihre Haare zu föhnen. Die wilde hellblonde Mähne war noch feucht gewesen, als sie hier angekommen war – und dennoch war Helene von Edgar Schimmel, der in seinem grauen, zerknitterten Anzug bereits am Tatort herumlief, mit einem spöttischen: »Einen taufrischen guten Morgen, Miss Marple«, in Empfang genommen worden.

»Wieso bist du denn schon hier?«, hatte sie missmutig gefragt. Zu neckischem Geplänkel war sie noch nicht aufgelegt gewesen, sie lechzte nach einem Kaffee.

»War noch im Büro, als der Anruf kam«, hatte er kurz angebunden erklärt. »Hab ein paar alte Akten bearbeitet.«

Im Büro, aha. Helene hatte keine Lust gehabt, weiter nachzuhaken. Das tat man beim Grauen besser nicht. Wenn er überhaupt so etwas wie ein Privatleben hatte, dann nahm es ihn jedenfalls nicht übermäßig in Anspruch. Und er sprach nicht darüber. Nie. Also war sie erst einmal in den Krankenwagen gestiegen und hatte versucht, den Zeugen zu vernehmen – vergeblich.

Rasch ging sie nun die paar Schritte hinüber zu Schimmel und dem Gerichtsmediziner. Die beiden hockten vor der Leiche. »Moin, Moin, Dr. Asmussen! Also, können Sie schon etwas sagen?«, fragte sie und sah hinab auf den Toten.

»Moin, Frau Christ. Ein Schwarzer, etwa Mitte zwanzig …«, murmelte Dr. Asmussen und stieß ein Zischen aus, als ihm auffiel, dass er mit einem Schuh in die große Blutlache getreten war, in der Fetzen von Gehirnmasse herumlagen.

»Du lieber Himmel, Doktor«, fuhr Schimmel unwirsch dazwischen. »Das sehen wir selbst, sogar ohne Medizinstudium.«

»Wieder mal in blendender Laune an diesem schönen Morgen, was, Herr Hauptkommissar?«, feixte der Arzt. So schnell ließ er sich offenbar nicht provozieren. Nun ja, dachte Helene mäßig amüsiert, die beiden alten Schlachtrösser kannten sich gut, trafen schon allzu lange aufeinander – immer an Tatorten, immer im Angesicht des Todes. Zwar gab es in Flensburg kein rechtsmedizinisches Institut – alle Leichen wurden nach Kiel in die Gerichtsmedizin des Universitätskrankenhauses geschickt, wo sämtliche forensischen Untersuchungen stattfanden –, doch Dr. Asmussen, der dort angestellt war, wohnte in einem kleinen Dorf hier in der Nähe. Nach dem Auffinden von Opfern einer Gewalttat versuchte man daher immer erst, ihn zu Hause zu erreichen – was häufig gelang, da diese Art von Verbrechen selten am helllichten Tag entdeckt wurde. Vom Resthof seiner Familie zu einem Tatort in Flensburg und Umgebung hatte der Rechtsmediziner dann einen kurzen Weg.

Zu viele Tatorte in all den Jahren, zu viele Tote, ging es Helene durch den Kopf. Die ewigen Wortgefechte der beiden waren wohl ihre Art, das Grauen auf Abstand zu halten.

»Wir wissen sogar schon, wer das ist«, erklärte der Hauptkommissar, kramte einen durchsichtigen Asservatenbeutel aus den Tiefen seines Knitterjacketts hervor und blickte auf die laminierte Karte darin. »Er hatte einen Studentenausweis in der Gesäßtasche seiner Jeans. Senyo Owusu heißt er, geboren am 16. 03. 1989.«

»Also siebenundzwanzig. Nicht schlecht geschätzt«, kam es von Dr. Asmussen. »Wo war er denn eingeschrieben?«

»Hier in Flensburg.«