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Inhalt

Ein ganz gewöhnlicher heimtückischer Mord

Drei Gebote des Reporters – Tarnen, täuschen und verpissen

Termin in einer Dorfkneipe – ratlos!

Nachbarn sind wir alle – von Schreibtischtätern und Samaritern

Mord – oder »Die Frau an seiner Seite«

Bierstadt ist nicht Casablanca

Wer fragt, bekommt eine blutige Nase

»Wir wollen Brot und Rosen«

Der Champagner war zu trocken

Schwarze Musik für Lisa Korn

Zwei Leichen live – oder »qui tollis peccata mundi«

40 Jahre durch die Wüste zum Berg Sinai

Einladung zu einem erotischen Wochenende

Schau mir in die Augen, Kleiner!

Eine Frau braucht vier Männer

Ein Staatsanwalt träumt

Ein Samariter bei den Indios

Spende für ein Altenheim

50.000 in bar und ohne Quittung

Eine Spur führt in die Sonne

Kein Gift im Wein vergiftet auch

Zwei Hochprozenter treffen aufeinander

Eine alte Dame in Nöten

Die Sonnenseite, die Schattenseite

Wie aufmüpfige Mieter gefügig gemacht werden

Kurt Korn macht keine halben Sachen

Eine neue Heimat für Lorchen

Endlich: Die Bunten greifen ins Geschehen ein

Wer ist Kurt Korn?

Sonnenuntergang auf der Spielbank

Die rauschende Ballnacht und ein fürstliches Mahl

Audienz beim Schreibtischtäter

Ein Ermittler gerät aus dem Takt

Am Abgrund zählt nur eins: Haltung!

Eine Begegnung der blonden Art

Genossin Schneewittchen macht Karriere

Ein teures Ruhekissen für Kurt Korn

Erinnerung an warme Haut

In vier Stunden in einer anderen Welt

Ich hatte alles im Griff?!

Sommerfrische vom Allerfeinsten

Willkommen im Klub!

Brunnes Versuchung

Rosemarie will aussteigen

Hajo lässt zum Abschied grüßen

Geborgenheit im Ritual

Das Aus für das lokale Radio

Geld oder die lang ersehnte Wahrheit?

Lisa-und-Kurt-Korn-Stiftung gegen die Wohnungsnot

Eine parteiübergreifende Bombe

Eine Nummer zu groß?

Ins eigene Haus pinkelt man nicht

Der erste Ausklang

Letzter Ausklang

 

Der erste Fall für die Bierstädter Reporterin Maria Grappa entwickelt sich gleich zu einer verhängnisvollen Affäre.

Maria Grappa recherchiert zwei ungeklärte Todesfälle: die der Quoten-Bürgermeisterin Lisa Korn und des Gigolos Richie Mansfeld. Dabei lernt die Reporterin den zwielichtig-charmanten Edel-Kneipier Michael Muradt kennen.

Macht er mit den Mördern gemeinsame Sache?

 

*

 

»Das ist Reviermilieu in voller Miefigkeit und es stimmt genau, und die Grappa ist mit einer solchen Identifikation und Selbstironie gezeichnet, dass man sie einfach lieb haben muss.«

Westdeutsche Zeitung

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

(korrigiert nach den reformierten Regeln deutscher Rechtschreibung)

Originalausgabe © 1994 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagillustration: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-980-8

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappas Versuchung

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar (hier).

www.gabriella-wollenhaupt.de

Die Personen

 

 

(in alphabetischer Reihenfolge)

Dr. Arno Asbach, Fraktionschef der Bunten, wandelnder Karriereknick mit erheblichen Webfehlern.

Hajo Brunne, wie alle Fotografen träumt er von blonden Models und viel Geld.

Gregor Gottwald, der Oberbürgermeister. Steckt alle in die Tasche und klebt an seinem Stuhl.

Maria Grappa, Journalistin, immer auf der Suche nach der Wahrheit. Nach mörderischen Erfahrungen muss sie sich mit der Wirklichkeit zufriedengeben.

Kurt und Lisa Korn, Bauunternehmer und Bürgermeisterin. Die Kombination der beiden Berufe des Ehepaares führt zu einem millionenschweren Geldsegen.

Richie Mansfeld, jung und tot. Und allen ist es egal.

Michael Muradt, schön und kultiviert. Lügt nur leider ein bisschen viel.

Manfred Poppe, Radiomann mit der schönsten Stimme nördlich des Äquators.

Karl Riesling, Chef des Lokalradios. Erst spät findet er zu seiner wahren Berufung.

Willy Stalinski, Chef der Mehrheitsfraktion. Hat alles und jeden im Griff.

Heinz Strickmann, Staatsanwalt, der Damen gern bei Pannen hilft.

Elfriede Strunk, eine nette alte Dame, die nicht aus ihrer Wohnung ausziehen will und dafür büßen muss.

Die Geschichte spielt in Bierstadt, einer Großstadt im Revier, die nach einer neuen Identität sucht. Fußballverein, Brauereien und Stahl bestimmen aber noch immer das Leben der Menschen, die unter Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit leiden. Trotzdem sind die Menschen offen und freundlich und versuchen, ihr Leben zu meistern.

Ähnlichkeiten zwischen real existierenden Personen und den Personen in dieser Geschichte sind rein zufällig, auch wenn sich Übereinstimmungen manchmal geradezu aufdrängen.

Ein ganz gewöhnlicher heimtückischer Mord

 

 

Für einen Tag Anfang März war es recht mild. Vier junge Männer verließen das Gasthaus »Zum Stier« gegen 23 Uhr. Einer der vier ging nicht mehr sicher auf seinen Beinen. Die drei anderen passten auf, dass er nicht hinfiel. Die vier hatten ein Ziel. Sie wollten den dunkelgrünen alten Mercedes erreichen, der um die Ecke im Halteverbot parkte. Behutsam schoben zwei der jungen Männer den dritten auf den hinteren Sitz, so, als hätten sie Angst, dass er sich verletzen könnte. Sie fuhren nicht weit und hielten auf dem Gelände der Universität an. Um diese Zeit war hier niemand – die vielen Autos der Studenten, die tagsüber kreuz und quer parkten, waren verschwunden.

Der Mann am Steuer stoppte und stieg aus. Die anderen beiden zerrten den jungen Mann vom hinteren Sitz ins Freie. Im Schein der Straßenlaterne war zu erkennen, dass der Mann blondes Haar hatte, recht groß war und dass dunkle Streifen vom Haaransatz bis zum Adamsapfel führten. Es sah aus wie Blut, das aus einer Kopfwunde geflossen und eingetrocknet war.

»Gib deine Hände«, forderte einer barsch. Der Blonde rührte sich nicht. Sie drehten ihm die Hände auf den Rücken und fesselten sie mit einem Kabel. Dasselbe geschah mit den Füßen.

Die anderen beiden gaben dem Blonden einen Stoß. Er fiel hin.

Der Fahrer des Wagens stieg ins Auto, setzte etwa 50 Meter zurück, legte den Vorwärtsgang ein und gab Gas. Die beiden sahen ungerührt zu, wie der alte Wagen über den Mann auf dem Boden rollte.

Zehn Meter hinter dem Opfer, das sich noch bewegte und wimmerte, legte der Fahrer mit einem Ruck den Rückwärtsgang ein und fuhr noch einmal langsam über den Körper am Boden.

»Das dürfte reichen«, sagte einer der Zuschauer und zündete sich eine Zigarette an. Er zog gierig an ihr und sie glimmte auf. »Lass uns weg hier«, drängelte er.

Doch der Fahrer schüttelte den Kopf. Er hatte noch nicht genug, er wollte sicher sein. Er öffnete den Kofferraum des alten Wagens, der mit Quietschen aufsprang, und holte ein Abschleppseil heraus. Er band es um die Knöchel des Toten, verknotete es und legte das Ende des Seils um den Abschlepphaken.

Die drei stiegen ein, der Fahrer gab Gas. Der Körper wurde mitgeschleift, überschlug sich ein paar Mal, doch das Seil hielt.

Der Fahrer stoppte und stieg aus. »Jetzt ist er hin«, konstatierte er und drückte seine Zigarette auf dem Boden aus. »Packt mit an!«

Gehorsam stiegen die beiden aus und halfen, den leblosen, blutüberströmten Körper in den Kofferraum zu legen. Dann fuhren sie los in Richtung Norden. Das Auto hielt vor einer Bundesbahnbrücke und die drei schleppten den Körper die Böschung hinauf und legten ihn mitten zwischen die Schienen, so, dass Arme und Beine ausgebreitet auf den Schottersteinen lagen.

Sie hatten eine häufig befahrene Strecke ausgewählt. Hier verkehrten in regelmäßigen Abständen Güterzüge, S-Bahnen und die schnellen Intercitys.

Es dauerte deshalb auch nicht lange, bis ein Zug sein Kommen ankündigte. Einer schaute auf die Uhr. »Pünktlich! Der Intercity Basel–Dortmund.«

Die drei traten etwas zurück. Dann kam der Zug. Mit Tempo 120 überfuhr der Stahlkoloss den Körper des Blonden und zerfetzte ihn.

»Sauerei«, murrte einer der Zuschauer und wischte sich mit einem Taschentuch ein Stück blutiger Masse von der Hose. Die Hand säuberte er notdürftig und leise fluchend an dem Gras, das den Bahndamm spärlich bewuchs.

»So, das wär's«, der Fahrer drehte um und die anderen kletterten mit ihm die Böschung herunter. »Der ist tot, toter geht's nicht.« Die beiden anderen lachten. Es war ein Lachen der Zufriedenheit. Hier war ein Job schnell und ohne Spuren erledigt worden.

»Meine Kehle ist verdammt trocken, ich brauch ein kühles Blondes.«

»Und ich eine heiße Blonde«, wieherte einer der drei im Dunkeln. »Dann lass uns hier verschwinden.« Ein paar Augenblicke später lag der Bahndamm wieder verlassen und einsam da. Die Dunkelheit deckte einen Schleier über die blutigen Überreste eines jungen Mannes, dessen Leben mit ganz gewöhnlicher, fast schon alltäglicher Gewalt beendet worden war.

In der Ferne drängelte sich eine Sirene durch die Dunkelheit. Die Bierstädter Feuerwehr war zu einem Einsatz irgendwo in der Stadt ausgerückt.

Drei Gebote des Reporters – Tarnen, täuschen und verpissen

 

 

Das Verhältnis zwischen meinem Chef und mir ist von tiefer, gegenseitiger Achtung geprägt. Er denkt »Achtung!«, wenn er mich sieht und ich denke dasselbe, wenn er mir über den Weg läuft. Ich verließ gerade das Funkhaus, verstaute den Kassettenrekorder im Auto, als er mir entgegenrief: »Nun, Fräulein Grappa, geht's wieder auf Recherche?«

»Frau Grappa bitte, Herr Riesling. Eine Reporterin ist immer auf Achse. Aber, wem sage ich das? Ihre letzte Reportage vor 15 Jahren beeindruckt mich noch heute.«

Ich sah, wie er rot anlief. Er wusste, dass er im Funkhaus »der Schreibtischtäter« genannt wurde. Und er fand das – im Gegensatz zu mir und meinen Kollegen – überhaupt nicht komisch.

Riesling kochte. Doch Schlagfertigkeit war nie seine Stärke gewesen. Er hielt es mehr mit Schüssen aus dem Hinterhalt, die dann einschlugen, wenn sein Opfer an nichts Böses dachte.

Ich wartete ab, was er sagen würde. Denn er würde antworten, das sah ich ihm an. Sein Hals war angeschwollen, seine Mundwinkel zuckten, doch die Worte wollten nicht so recht kommen. Kleine Sprachhemmung. Gar nicht gut für einen Journalisten, den eine schnelle Reaktionsfähigkeit auszeichnen sollte.

Doch bei manchen dauern die Schrecksekunden halt minutenlang. Ich sah ihn amüsiert an. Was würde kommen? Einige Dinge aus seinem mageren Repertoire kannte ich schon.

Na endlich, er hatte eine Antwort gefunden, denn er öffnete den Mund und holte Luft. Ich schaute ihn interessiert an und legte ein mildes Lächeln in meine Züge.

»Sie und arbeiten? Ich kann mich auch noch an die drei Gebote eines Reporters erinnern«, zischte er, »tarnen, täuschen und verpissen …«

Den Spruch kannte ich wirklich schon. Schade, ich hatte was Neues erwartet. Ich schwieg, denn ich hatte mir vorgenommen, meine manchmal etwas derben Umgangsformen zu verfeinern und nicht in jedes Messer zu laufen, das mir hingehalten wurde. Sollte er mich doch kreuzweise, der Dödel.

Ich winkte ihm nur noch freundlich zu und gab Gas und machte mich auf den Weg. Eigentlich war der Schreibtischtäter kein Problem für mich. Er würde mich in Ruhe lassen, solange ich die Leichen in seinem Keller nicht ans Tageslicht zerrte.

Solange ich ihn zum Beispiel nicht daran erinnern würde, dass er vor fünf Jahren von der Stadt ein preiswertes Grundstück direkt neben einem Naherholungsgebiet erhalten hatte. Ein Grundstück, das sicherlich viele gern gekauft hätten – etwa 800 Quadratmeter für 70.000 Mark in allerbester Wohnlage.

Und das in einer Stadt wie Bierstadt, wo Grundstücke in solcher Lage mindestens 250 bis 300 Mark pro Quadratmeter kosten – wenn es sie überhaupt zu kaufen gab.

Er würde mich in Ruhe lassen, solange ich ihn nicht daran erinnern würde, warum er in einer Zeit der hohen Zinsen einen äußerst günstigen Kredit bei der Stadtsparkasse erhalten hatte. Solange ich nicht ausplaudern würde, dass er in keiner seiner bevorzugten Gaststätten in Bierstadt das Portemonnaie rausholen musste, bevor er ging. Oder – dass Bierstädter Autohäuser ihm seine Autos zu Testzwecken lieferten und er so immer in den neuesten Modellen durchs Städtchen kutschieren konnte. Machte Eindruck bei den Mädels und bei seinen Kumpanen im Rotary-Klub, der Mann von Welt mit Haus und Autos und einem Radiosender, den er stolz »mein Dampfradio« nannte.

Vor 30 Jahren hatte der Schreibtischtäter noch Sporttabellen ins Reine getippt und war gern gesehener Gast in Ortsvereinsversammlungen und bei Heimatfesten gewesen. Langsam und stetig hatte er sich hochgebuckelt und nun war unsere Redaktion mit ihm gestraft. Ich seufzte tief, während ich mit meinem Auto vom Funkhaushof rollte.

Zwischen dem Schreibtischtäter und mir gab es seit vielen Monaten einen Waffenstillstand. Nicht offiziell vereinbart, sondern unausgesprochen und trotzdem wirksam. Ich hatte außerdem das Gefühl, dass er die Zeit bis zu seiner kurz bevorstehenden Pensionierung möglichst ohne viel Stress bewältigen wollte. Es sei ihm von Herzen gegönnt, dachte ich und war stolz auf meine Großzügigkeit.

Solange ich machen konnte, was ich wollte, würde ich auch keinen Grund haben, ihn an diese Dinge, mit denen er sich sein Leben so bequem eingerichtet hatte, zu erinnern.

Termin in einer Dorfkneipe – ratlos!

 

 

Im Gasthaus »Zum Stier« war nicht viel los, noch nicht. Das gelb getünchte Haus war durch Anbauten quer durch die Jahrzehnte verwinkelt, der Eingang zur Gaststätte lag fast versteckt an der spitzen Seite des Hauses. Die schwere Holztür stammte noch aus Kaiser Wilhelms Zeiten.

Merkwürdig, dass Kneipen immer so schrecklich riechen müssen. Nach Rauch von Zigaretten, nach schalem Bier und den großen Sprüchen, die von betrunkenen Männern jeden Abend hier geklopft wurden.

Ich musste durch einen engen Gang, bevor ich den Schankraum betreten konnte. Nicht viel los, wie gesagt. Aber es war noch früh. Pulsierendes Bierstädter Kneipenleben gab's sowieso nur im Norden der Stadt und nicht hier in diesem Stadtteil, wo alles noch ländlich-sittlich ablief und in den die Großstadt noch nicht ihre Wunden geschlagen hatte.

Es kam mir merkwürdig vor, dass ein junger, inzwischen dahingeraffter Mann hier verkehrt haben sollte … weil sie weder eine Discothek noch eine Szenekneipe für junge Leute war, diese Gaststätte »Zum Stier«.

Ich schaute mich um. Ein Stammgast hob den Blick über den Rand seines Bierglases, als ich zielstrebig zum Tresen marschierte. Den Kassettenrekorder hatte ich erst mal im Auto gelassen, denn manche Leute reagieren allergisch auf das schwarze Ding.

Der Mann hinter dem Glas erwachte langsam. »Was will'en die Frau hier«, lallte er in Richtung Wirt und versuchte sich aufzurichten.

Auf dem Tresen standen noch die ungespülten Gläser von gestern, die Aschenbecher auf den Tischen waren voller Kippen, und aus Richtung Klo zog der zarte Duft von Urinstein in meine Nase. Ich musste niesen und schüttelte mich.

Miese Atmosphäre, ich hasste solche Kneipen, aber manchmal hatte ich beruflich drin zu tun. Wie jetzt. Ich ging zur Bar. Der Wirt musterte mich schräg. »Bitte?«

»Ein Wasser, ohne Eis und Zitrone.«

»Eis ham wer sowieso nicht.«

»Na prima!«, gab ich zurück.

Es klirrte, als er die Flasche auf den Tresen knallte. Dann knallte er noch ein Glas daneben. Ich goss mir ein und setzte die Lippen vorsichtig ans Glas und nippte. Das Wasser war badwarm und schmeckte wie abgekaute Fingernägel.

»Vor zwei Wochen«, begann ich, »soll es hier eine Schlägerei gegeben haben …«

»Kloppereien gibt's hier immer. Das liegt an der Gegend.«

»Ich dachte, so was liegt eher an den Gästen … Also konkret: Skinheads gegen einen jungen Mann, blond, eins fünfundachtzig, Typ Gottschalk für Arme.«

Er knurrte. »Ich hab der Polizei schon alles gesagt. Was wollen Sie noch und wer sind Sie überhaupt, dass Sie hier reinschneien und Fragen stellen?«

»Ich bin vom Lokalradio. Ich mache eine Serie über ungeklärte Mordfälle.«

»Wieso Mord? Der hat sich doch selbst auf die Schienen gelegt. Probleme mit der Freundin, was weiß ich.«

»Also erinnern Sie sich doch?«

»Nix tu ich! Stand doch alles in der Zeitung.« Er kam hinter dem Tresen auf mich zu. »Hören Sie mal, Frollein. Ob der hier war, weiß ich nicht. Kann sein, aber kann auch nich' sein. Ich lass mir von meinen Gästen nicht den Ausweis zeigen, bevor sie ein Bier kriegen. Kapiert?«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte es trotzdem weiter. »Da sollen noch drei Leute dabei gewesen sein, so hat es einer Ihrer Gäste der Polizei erzählt. Kannten Sie die? Waren die inzwischen wieder da? Die drei Leute, meine ich?«

»Ich weiß nicht, wen Sie meinen. Und ich will es auch nicht wissen. Wir alle müssen mal sterben und jetzt raus.«

Ich wurde wütend. Was bildete sich der Kerl ein? »Hören Sie, so können Sie mit mir nicht umspringen.«

»So?«, fragte er und kam ein bisschen näher. »Und wie wollen Sie's gerne haben, junge Frau?« Er nahm das ein, was im Polizeideutsch eine »drohende Haltung« genannt wird.

Ich machte mich abflugfertig und rutschte schnell vom Barstuhl runter. Jetzt mischte sich auch noch der besoffene Gast vom Nebentisch ein, rappelte sich hoch und wollte mich »beschützen«.

»Hömma Heinz, so kannste doch mit 'ner Dame nich' umgehen. Nich‘, wenn ich dabei bin, da bin ich ganz eigen!« Er torkelte auf uns zu, sich redlich bemühend, den Weg zu finden.

»Setz dich hin, Paul und spiel nicht den Helden«, blaffte ihn Heinz unbeeindruckt an. Das half. Paul setzte sich und spielte nicht den Helden.

Heinz kam noch näher, er stank nach altem Schweiß und frischem Spülmittel. »Wenn Sie mich anfassen, haben Sie in zehn Minuten die Polente da!«, drohte ich mit etwas kläglicher Stimme.

»Ach nee. Da schlottere ich ja vor Angst. Und jetzt raus hier und zwar plötzlich.«

Da ich klüger war als Heinz, gab ich nach und trollte mich. Nicht jeder Tag ist ein erfolgreicher. Vorher hatte ich noch locker zwei Mark auf den Bierdeckel gelegt. »Für das Wasser und Ihre Mühe.« Und in der Tür sagte ich: »Bis bald, ich komme wieder.« Auch das schien ihn nicht weiter zu erschrecken, denn er machte Anstalten, mir wieder näher auf den Pelz zu rücken.

Ich sah zu, dass ich in mein Auto kam und gab Gas. Der Wagen knallte vom Bordstein runter. Irgendwann würde ich mir die Achse bei solchen Fluchtmanövern ruinieren.

Die Sache mit dem Toten auf den Schienen war nicht ganz koscher. Mein Informant im Polizeipräsidium hatte mir etwas von Ungereimtheiten erzählt. Das viele Blut an der Böschung, Hirnmasse im Gras und Schleif- und Reifenspuren. Keiner, der sich verzweifelt vor den Zug schmeißt, haut sich vorher so eins auf den Kopf, dass der Schädel zerspringt.

Das sah nach vertuschtem Mord aus. Und dann die Sache mit den drei Typen. Alles verdammt merkwürdig.

Nachbarn sind wir alle – von Schreibtischtätern und Samaritern

 

 

Der Schreibtischtäter war beim Oberbürgermeister von Bierstadt zum Hintergrundgespräch eingeladen, das konnte Stunden dauern. Gregor Gottwald, der Kaiser von Bierstadt, redete gern, und es war ihm irgendwie egal, wer ihm zuhörte. Hauptsache, es war überhaupt jemand da. Er stand auf Kriegsfuß mit den deutschen Fällen, verwechselte »als« und »wie« und »mir« und »mich«, was der Aussagekraft seiner Worte dennoch keinen Abbruch tat. Er wurde von den Bürgern verstanden, denn er sprach wie sie. Ohne Schnörkel und ohne Eiertanz.

Klar, die Gesellschaft »Rettet dem Dativ« hätte ihn gern zum Ehrenmitglied gehabt, und das Finanzamt hätte seinen Mitgliedsbeitrag sicherlich als Weiterbildungskosten anerkannt. Und irgendein »intellektueller Wichser« hatte irgendwann mal die Frage gestellt, ob sich eine aufstrebende strukturgewandelte Stadt einen solchen Mann noch leisten konnte, der bei der Begrüßung einer englischen Delegation munter und unverdrossen in den Ratssaal gedröhnt hatte: »Ei griet ju fromm se bottom of mei hart«.

Die Bürger liebten ihn dafür, denn er tat nicht so, als seien seine Fremdsprachenkenntnisse besser als ihre. Nein, so schnell legte Gregor Gottwald sein Zepter nicht nieder und stieg vom Sockel herunter. Er liebte Macht und Ansehen und manches Vögelchen mit akademischem Abschluss hatte sich in den Leimruten zu Tode gezappelt, die Gregor Gottwald fein säuberlich um seinen Sockel ausgelegt hatte.

Ich zumindest hörte ihn gerne reden. Gregor Gottwald war seit 20 Jahren unser Oberbürgermeister und es hatte einige Zeit gedauert, bis ich mich an seine Art gewöhnt hatte. Und er sich an meine Art, auch über ihn kritisch zu berichten.

Beim Schreibtischtäter lag die Sache anders. Riesling fühlte sich wohl unter Menschen, die was darstellten, die ein Amt oder Geld hatten. Riesling bezog sein eigenes Selbstwertgefühl aus dem Umgang mit der Macht.

Die Hintergrundgespräche im Rathaus fanden in schöner Regelmäßigkeit statt, heraus kam dabei nichts, wenigstens nichts Journalistisches. Kleiner Kaffeeklatsch über Gott und die Welt. Die Rollen waren auch verteilt: Der Oberbürgermeister war Gott, und die Welt war Bierstadt und der Schreibtischtäter der journalistische Statthalter – so glaubte er wenigstens.

Die Arbeit in der Redaktion gestaltete sich heute ruhig. Im Sendestudio nebenan lief gerade die Sendung »Nachbarn sind wir alle«, moderiert vom »Samariter«. Meine »Lieblingssendung«. Hier konnten aufmüpfige Ehefrauen gegen nette Kanarienvögel eingetauscht werden, hier konnten sich ganze Familien neu einkleiden lassen, hier wurden Wohnzimmerschränke, Couchgarnituren und alte Matratzen verschenkt. Aber – hier schwärzten auch gute ordentliche Deutsche ihre schlechten Nachbarn an, hier erzählten neurotische Hausfrauen ihre Albträume der letzten Nacht. Lebenshilfe live per Telefon.

Die Sendung für die Mühselig' und Beladenen, die Suchenden und die Findenden. Der Samariter, der mit bürgerlichem Namen Manfred Poppe hieß, knapp über 50 war und die schönste Radiostimme in der freien westlichen Welt besaß, nahm grundsätzlich alle Anrufer ernst, denn er war der Mann, der Hilfe und Trost spendete, der die Welt liebte und alle Kreaturen mit ihr.

Jedes Wesen war seiner Meinung nach von Natur aus gut – außer mir natürlich. Denn da ich ihn und sein selbstloses Lebensgefühl nicht ernst nahm und dies auch bei jeder passenden Gelegenheit kundtat, gehörte ich zur anderen Hälfte der Welt, zu denen, deren Leben ohne gute Taten einfach so sinnlos verstrich.

Doch immerhin: Der Samariter gab den Anrufern, die sich meldeten, das Gefühl: »Wir sind gar nicht so beschissen, wie wir uns meistens fühlen und wie man uns sagt, dass wir sind.«

Leider überstand dieses neue Selbstwertgefühl noch nicht mal die Dauer der Sendung, und die lief nur eine Stunde. Und in den Tagen danach wanderten die Altmöbel dann doch auf den Sperrmüll und der junge Mann, der im Radio live versprochen hatte, der alten Dame den Müll herunterzutragen, hatte nach zweimal Tütenschleppen die Nase voll.

»Vielleicht gibt es in Bierstadt einen armen, armen Menschen, der die zehn Jahre alte Schrankwand von Frau Müller aus der Nordstraße noch gebrauchen kann? Rufen Sie uns an …«, und der Samariter gab zum x-ten Mal die Nummer des Hörertelefons durch.

In der einen Stunde wurden an diesem Tag vier Katzen verschenkt, ein Wellensittich gefunden, zwei Matratzen und die Schrankwand von Frau Müller wechselten den Besitzer.

Der Samariter verabschiedete sich nach getaner Sozialarbeit und kam mit hochrotem Kopf ins Großraumbüro. »Es gibt so viel Not in Bierstadt«, sagte er erregt und blickte missbilligend auf mich, die ich gerade – dekadent wie ich war – in meiner Lieblingsgourmetzeitschrift mit den total ausgeklügelten Gaumenfreuden blätterte.

»Manfred, hier ist ein italienisches Mandelkuchenrezept drin, das zieht dir die Schuhe aus. Eischnee, geriebene Mandeln, Puderzucker und nur 50 Gramm Mehl, danach wird das Ganze mit Amaretto getränkt und noch glasiert. Einfach köstlich …«

Ich sah, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Trotz seiner sozialen Aufgabe, der er sich immer wieder mit Inbrunst stellte, war er ein ausgebufftes Schleckermaul, besonders wenn es um Süßes ging. Er war ein genialer Erfinder lockerer Nachtische und seine Petits Fours erreichten höchste Zustimmungsquoten. Und zwar live, wenn er die Kollegen nach einer gelungenen Backarie am Wochenende mit seinen Köstlichkeiten verwöhnte und die Rezepte mit seiner sonoren Stimme vortrug. Es war für alle ein Genuss: Für die Augen, für die Ohren und für den Gaumen.

»Manfred, ich brauche deine Hilfe«, sprach ich ihn an. »Vor 14 Tagen hat es im Gasthaus ›Zum Stier‹ eine Schlägerei gegeben. Das Opfer, ein junger Mann, bekommt erst die Hucke voll und wird am anderen Morgen in Einzelteilen neben den Schienen des Intercity Basel–Dortmund gefunden. Die Staatsanwaltschaft glaubt zurzeit noch an Selbstmord, hat die Leiche dann aber doch kurz vor der Beerdigung beschlagnahmen lassen. Meiner Meinung nach ist er vorher ermordet und dann auf die Schienen gelegt worden, um die Spuren zu vertuschen.«

Er schaute mich angeekelt an. »Und was willst du mit diesen Krawallgeschichten bei mir?«, fragte er. Er war inzwischen ganz auf italienischen Mandelkuchen eingestellt, denn er hatte mir mein Gourmetheft aus der Hand gerissen, um sich in das Rezept zu vertiefen.

»Deine Sendung hat nun mal die höchste Einschaltquote und ich dachte mir, dass du für mich nach Zeugen suchen könntest … Ob jemand den Jungen nach der Schlägerei noch irgendwo gesehen hat, vielleicht zusammen mit drei Typen, mit denen er aus der Kneipe wegging. Irgendwas, das mir helfen könnte, ein bisschen zu spekulieren. Die Polizei kommt zurzeit nicht weiter in der Sache und ich habe, wie gesagt, das Gefühl, dass es kein Selbstmord ist …«

»Ah ja«, meinte er triumphierend, »dazu ist meine Sendung plötzlich gut genug. Und sonst zerreißt du dir dein Schandmaul darüber …«

Ich sagte nichts und bemühte mich, eine betroffene Miene zu machen. Doch auch Menschen wie ich hatten ein Recht auf Hilfe. Ich wusste, dass der Samariter mich nicht im Regen stehen lassen würde. »Ich werde nie mehr was Schlechtes über deine Sendung sagen«, versprach ich und wir beide wussten, dass ich diesen Vorsatz schnell wieder vergessen haben würde.

»Na gut, erkläre mir die Geschichte und ich frage meine Hörerinnen und Hörer morgen danach. Die Menschen, die du spöttisch als Mühselige und Beladene bezeichnest …«

Ich schlug betroffen die Augen nieder. Nein, ich war kein guter Mensch! Wo er recht hatte, hatte er recht.

»Danke, Manfred! Du bist der Beste. Ich werde mich bessern!«

Die Töne kannte er. Er grinste mich an und warf einen Blick gen Himmel. Als Wiedergutmachung lieh ich ihm mein Gourmetheft.

 

Am nächsten Tag überreichte mir der Samariter einen Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer. »Mehr haben sich nicht gemeldet«, meinte er nicht ohne Stolz.

Ich steckte den Zettel ein. Ein Name stand drauf. Nicht viel, aber immerhin besser als gar nichts. »Ich danke dir, Manfred … – und nimm meine Kommentare über ›Nachbarn sind wir alle‹ nicht immer so furchtbar tragisch. Du weißt, ich mein' das nicht so.«

»Ich weiß genau, wie du das meinst, Maria. Und du wirst auch nie aufhören, dich über die Sendung lustig zu machen«, lächelte er ein bisschen gekränkt.

»Trotzdem danke.« Und ich nahm mir vor, ihn künftig etwas netter zu behandeln. Ich nahm es mir wirklich ganz ernsthaft vor. Hoffentlich würde es sich mal irgendwie ergeben.

Mord – oder »Die Frau an seiner Seite«

 

 

Ich verzichtete dann doch auf einen erneuten Besuch im Gasthaus »Zum Stier«. Der Wirt war derart unangenehm, dass es sowieso nichts gebracht hätte. Fragen an Leute zu stellen, die partout nicht antworten wollen, kostet Zeit und bringt keine Erfolge. Höchstens ein blaues Auge, und darauf kann ich verzichten. 14 Tage hatte es gedauert, bis ich wieder normal aussah, als mir zwei Jungs bei einer Faschisten-Demo die Faust entgegengestreckt hatten. Und im Funkhaus konnte ich damals noch den Spott der anderen ertragen.

Nein, wenn schon Veilchen, dann nur für ganz heiße Storys und die war noch nicht heiß genug. Ich hatte eher das Gefühl, dass sie langsam abkühlte. Und zwar mit jedem Tag mehr. Vielleicht sollte ich die Serie über unaufgeklärte Mordfälle doch fallen lassen. Zu viel Blut und zu viele unangenehme Leute. Die anderen Fälle, die ich mir zusammengesucht hatte aus dem Pressearchiv, lagen teilweise Jahre zurück, waren also noch kälter.

Ich hatte mir alles so schön vorgestellt: Ich würde durch unermüdliche und intelligente Recherchen neue Spuren finden, die zur Ergreifung der Täter führen würden. Mal gucken, wie lange ich meinen Kinderglauben behalte, dachte ich mürrisch.

Die Serie »Die Frau an seiner Seite«, die mir der Schreibtischtäter schon seit Wochen aufs Auge drücken wollte, riss mich allerdings auch nicht vom Hocker. In ihr sollten die Gattinnen bekannter Bierstädter Größen einer uninteressierten Öffentlichkeit nahegebracht werden. Frau Chefarzt-Gattin, Frau Theaterintendanten-Gattin oder Frau Brauereibesitzer-Gattin. Das würde bedeuten, stundenlang für die neusten Ikebana-Kunststücke Interesse zu heucheln oder die Kinderkrankheiten der jeweiligen Bälger durchhecheln zu müssen oder darüber zu reden, wie man dem Herrn Gemahl am nettesten die Pantoffeln nachschleppt … Nein, dann doch lieber Leichen auf Intercity-Strecken als Prominenten-Ehefrauen! Die Mordserie musste einfach was werden!

Ich machte einen kleinen Umweg, als ich nach Hause steuerte. Ich fuhr zu der Stelle, an der dieser Richie Mansfeld ums Leben gekommen war. Nichts deutete darauf hin, dass es hier vor zwei Wochen einen ungewöhnlichen Vorfall gegeben hatte, der mit dem Tod eines Menschen endete. Bei der Bahn hatten sie Leute, die die Toten und ihre Überreste von den Gleisen schaffen mussten. Und die restlichen Spuren wurden von Wind und Wetter beseitigt. Warum ich dort hingefahren war? Ich wusste es nicht mehr. Einfach nur mal gucken, vielleicht begreifen wollen, was nicht zu begreifen war, dass hier ein Leben beendet worden war.

Es war ohne Sinn. Ich fuhr die Strecke zu meiner Wohnung. In ihr war es warm und gemütlich. Ich zog mich bequem an und erinnerte mich an den Zettel. Mal schauen, ob die Spur taugte. Wenn nicht, würde ich mich langsam in die Serie »Die Frau an seiner Seite« eindenken müssen. Verdammter Job!

Ich wählte lustlos die Nummer, die der Samariter auf einen kleinen Zettel geschrieben hatte. »Michael Muradt« stand dort. Merkwürdiger Name, klang irgendwie arabisch – auf jeden Fall geheimnisvoll. Ich wählte die Nummer.

»Spreche ich mit Herrn Muradt? Gut. Hier ist Maria Grappa vom Lokalradio«, begann ich meinen Spruch, »ich plane eine Serie über ungeklärte Mordfälle und ich interessiere mich für den Tod von Richie Mansfeld. Sie haben sich in der Sendung gemeldet. Wissen Sie etwas darüber?«

»Nicht am Telefon«, meinte eine mitteltiefe kühle Männerstimme mit einem kleinen S-Fehler, »wir sollten uns treffen.«

»Hören Sie, ich kann mich nicht auf blauen Dunst mit jemandem treffen, den ich nicht kenne. Etwas mehr müssen Sie mir schon sagen, meinen Sie nicht auch?«

»Na gut, Richie Mansfeld war mein Neffe. Und ich bin logischerweise sein Onkel. Reicht das?«

»Ja. Wo treffen wir uns und wann?«

»In einer Stunde. Im Pinocchio.«

Ich kannte das italienische Nobelrestaurant nur vom Hören. »Wieso gerade da? Sind Sie dort Pizzabäcker oder essen Sie nur gerne?«

Er lachte und sein Lachen gefiel mir. »Beides falsch. Das Restaurant gehört mir.«

»Gut, ich rufe nur noch einen Freund an und sage ihm, wo ich hingehe.«

»Sie sind wohl besonders vorsichtig.« Wieder dieses Lachen und die leichten Schwierigkeiten bei den S-Lauten. Die Sache gefiel mir. »Ihnen kann nichts passieren, denn mein Restaurant ist stets gut besucht. Klappt es in einer Stunde? Und wenn Sie da sind, dann fragen Sie nach Herrn Muradt.«

Die letzte Anregung hätte er sich sparen können. »Ich werde mich beeilen. Bis dann.«

Ich wusch mir schnell die Haare, zog das kleine Blaue an, das mich zehn Pfund schlanker machte, und die flachen Schuhe, in denen ich prima wegrennen konnte, falls es nötig sein würde. Noch ein Pfund Lippenstift und die großen mexikanischen Ohrringe, die zu meinen Henna-Haaren passten. Und die Nase pudern, das war's. Ich konnte mich sehen lassen.

Ich wusste nicht, warum ich mich so in Schale schmiss, denn Menschen mit schönen Stimmen müssen noch lange nicht sympathisch sein. Aber vielleicht war er es doch …? Ich rief mich energisch zur Ordnung. Meine Affinität für schöne Männer in Hollywood-Klassikern neutralisierte wohl inzwischen meine 15-jährigen Erlebnisse in diversen Frauengruppen, in denen ich die Schlechtigkeit und Triebhaftigkeit der Männer nur zur Genüge durch die Erzählungen geschundener Frauen kennengelernt hatte!

Wenn ich mich schon für einen Unbekannten mit kühler Stimme und S-Fehler so rausputzte, war Alarm angesagt. Ich musste meine Männerverteufelungskurse dringend wiederholen.

Aber – so sagte das Weibchen in mir – wenn der Mann so aussah, wie seine Stimme klang, wollte ich trotz aller Frauenbewegungsideale nicht aussehen wie eine nahe Verwandte des Glöckners von Notre-Dame.

Ich gab den Katzen noch eine halbe Dose Futter und machte mich auf den Weg. Der Abend war noch jung und ich fühlte mich gut.

Bierstadt ist nicht Casablanca

 

 

Das »Pinocchio« lag mitten in der Stadt und war für seine italienische Küche bekannt. Keine Vorortpizza oder Spaghetti bolognese, sondern erste Sahne mit entsprechenden Preisen.

Ich betrat den Laden. Spiegel an der Wand, Messing und Silber, die Tische in Nischen, sodass niemand sehen konnte, was am Nachbartisch verspeist wurde. Eine leise Musik im Hintergrund und gedämpfte Stimmen.

Hier fehlte zum Glück die dunkle Gemütlichkeit der Bierstädter Restaurants, in denen ich mit dem Kopf an die Korblampe stoße, wenn ich in Richtung »kleine Mädchen« aufstehe. Der Raum war so hell erleuchtet, wie ich es mag, weil dann ein schmieriges Glas keine Chance hat und ich genau sehen kann, was ich auf dem Teller habe.

»Sind Sie Frau Grappa?«, sprach mich ein dünner Kellner in halblautem Tonfall an, »Herr Muradt hat einen Tisch für Sie reserviert. Kommen Sie bitte.«

Er führte mich zu einem Tisch für zwei. Kristallgläser und Silberbesteck, 925-er Sterling. Nobel, nobel! Aber hier klauen die Gäste vermutlich nicht.

Ich musterte das Personal, das die Gäste umschwirrte. Nein, in Kellnerkluft würde der Besitzer wohl kaum ankommen. Mir fiel ein kleiner Dicker auf, der an einer dezent versteckten Kasse saß. Vielleicht war er der Herr mit dem arabisch klingenden Namen und der schönen Stimme. Ich lächelte. Könnte sein, da erwarte ich Rübezahl und wer kommt: Rumpelstilzchen!

Doch der kleine Dicke machte keine Anstalten, seinen Hintern zu lupfen und an meinen Tisch zu kommen. Er tippte eifrig Zahlen ein. Ich wartete und nahm eine lässigere Haltung ein.

Jemand stand hinter mir, ich spürte einen leichten Luftzug. »Wie schön, dass Sie gekommen sind …« Der kleine S-Fehler war nicht zu überhören bei drei S-Lauten in einem Satz. Ich drehte mich um.

Da stand er. Sehr groß, was vermutlich daran lag, dass ich saß. Sehr männlich, was vermutlich daran lag, dass ich zurzeit etwas entwöhnt war. Sehr überlegen, was vermutlich daran lag, dass ich Naturgewalten schon immer für etwas Schicksalhaftes gehalten habe, gegen die ein normal Sterblicher nicht die geringste Chance hat und die man einfach nur überstehen muss.