Rückentext
Die Autorin
Personen
Am Herzen vorbei
Flutwelle und Kanzlerin
Prioritäten setzen
Ärzte im Rudel und Fluchtpläne
»Ich dachte, ich müsste sterben.«
Bierstädter Fußball
Abseits und wieder da
Ein Ball auf der Hüfte
Schwarze Gazelle und schlechtes Gewissen
Schwarz und rot
Nicht zu viel Ethik
Ein Bett für Margit
Ninho tanzt Samba
Journalisten übertreiben
Adjektive Emotionen
Skandalreporter und Straftäter
Frauenflüsterer und Elend pur
Lunaversichert und einzelgeteilt
Mütterlicher Besuch
Weltweit und stadtnah
Spanisches Flair
James Bond aus Rio
Männer vor dem Nervenzusammenbruch
Wahrheiten am Straßenstrich
Goldgelbe Brötchen
Analysen mit Überraschungen
Harras und die goldene Recherche
Kollektiver Wahnsinn
Weggeworfen
Keine Brötchen ohne Lizenz
Es ist die Falsche
Orakel – oder was?
Winterdepression
Spuren im Schnee
Kühler Kopf und heißer Verdacht
Doppelter Flughafen
Der runde Sauhund
Hinweis – auf was?
Brasilien klemmt
Hinter den sieben Bergen
Besuch auf Zimmer 24
Ausflug in den Winterwald
Handys und ihre Nummern
Der Tod und das Mädchen
Backende Bierschwester
Alle Männer sind Fahrlehrer
Grobe Arbeiten und ein Heiliges Quartett
Noch ein Brasilianer
Der Verlierer packt aus
Machtspiel und Machogehabe
Hurenglück und Bürgerehen
Gesammelt und gefrostet
Neues Jahr und altes Elend
Stricken in Loch Ness
Ein Freier dreht durch
Waffengewalt
Schreib, Grappa, schreib!
Zum Anfang zurück
Finden lassen und gefunden werden
Nur zwei Tage
Das Volk und sein Gespür
Ausklang
Letzter Ausklang
»Wie ist das genau passiert?«, fragte ich.
»Er war der Letzte im Duschraum. Die anderen Spieler waren schon draußen. Nach ersten Ermittlungen sollen ihn drei maskierte Typen abgepasst und einfach kassiert haben.«
»Nackt?«, fragte ich interessiert.
Jansen überhörte meine Frage und berichtete weiter: »Draußen stand ein Lieferwagen vom Catering-Service. Klappe auf, Toninho rein und weg.«
»Catering-Service?«
»Nur ein Täuschungsmanöver. Der Wagen war geklaut.«
»Sauerwald hat jetzt zwei Probleme«, stellte ich fest. »Eine geschändete Tochter und einen entführten Starkicker.«
*
Der Traditionsverein Schwarz-Gelb 09 kommt aus den Schlagzeilen nicht mehr heraus: Erst wird die Tochter des Präsidenten überfallen, dann der brasilianische Spitzenspieler Toninho Baracu entführt. Als rothaarige Reporterin Maria Grappa ein Paket in den Händen hält, in dem ein abgehackter Fuß liegt, wird auch sie vom Fußballfieber gepackt ...
*
Maria Grappa ist frecher, schriller und treffsicherer denn je!
E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH
Originalausgabe © 2006 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund
Internet: http://www.grafit.de/
E-Mail: info@grafit.de
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagfoto: Vandystadt, Agentur Focus
eISBN 978-3-89425-995-2
Gabriella Wollenhaupt
Rote Karte für Grappa
Kriminalroman
Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund. Sie mag wilde Tiere, gutes Essen und schöne Männer.
Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar.
www.gabriella-wollenhaupt.de
Toninho Baracu geht vom Platz
Theo Böhme ›Don Prosecco‹ schießt daneben
Anton Brinkhoff lässt keinen durch
Adriano Eckermann hält sich bedeckt
Maria Grappa kassiert die rote Karte
Simon Harras bleibt auf der Bank
Peter Jansen hat die Mannschaft im Griff
Esther Klein kommt aus der Deckung
Luigi Knotek sitzt lange auf der Bank
Moritz Müller bleibt am Spielfeldrand
Pascal macht müde Spieler munter
Wayne Pöppelbaum agiert im Strafraum
Erika Sauerwald gerät ins Abseits
Dr. Marcel Sauerwald kann die Blutgrätsche
Margit Sauerwald wird böse gefoult
Beate Schlicht stürmt aufs Tor
Anneliese Schmitz backt weltmeisterlich
Prof. Rudolfo von Siebenstein kriegt die Beine nicht hoch
Der Alte sagte: Das möge Gott erbarmen,
und es sei Ihm immerfort geklagt,
dass das Unrecht sich so breit macht.
Die Turniere, wie sie früher waren, werden verachtet;
dafür sind die heutigen aufgekommen.
Früher hörte man den Herold rufen:
Heißa, Ritter, sei doch fröhlich!
Jetzt ruft man den lieben langen Tag:
Los, jage, Ritter, los, jage, jag! Stich zu, stich!
Schlag drein, schlag zu! Blende den, der vorher sehen konnte!
Hau mir dem den Fuß ab;
schlag mir diesem die Hand ab!
Diesen sollst du mir aufhängen
und jenen Reichen fangen:
Der zahlt uns bestimmt hundert Pfund Silber!
Wernher der Gärtner: Meier Helmbrecht (um 1250)
Mir ist es egal, ob es ein Brasilianer, Pole, Kroate, Norddeutscher oder Süddeutscher ist. Die Leistung entscheidet, nicht irgendeine Blutgruppe.
Christoph Daum
Im Fußball bist du entweder Gott oder Bratwurst.
Tomislav Maric
Die Nacht war kurz. Ich schreckte aus dem Schlaf, hörte Menschen flüstern. Jemand sagte etwas Beruhigendes, doch er meinte nicht mich. Träumte ich? Der Schmerz in meinem Körper beantwortete die Frage: Ich war wach. Sogar hellwach.
Vorsichtig hob ich den Kopf, durch die Tür fiel Licht ins Zimmer und ich konnte Personen schemenhaft ausmachen, die sich über ein Bett beugten. Jetzt schaltete jemand das Notlicht an. Ich erkannte den Nachtpfleger, den Bereitschaftsarzt und zwei Schwestern. Eine Liege wurde ins Zimmer geschoben.
»Was ist los?«, krächzte ich.
»Alles in Ordnung«, erhielt ich zur Antwort. »Schlafen Sie weiter.«
Die Tür wurde geschlossen und Schritte entfernten sich. Ich lauschte ins Dunkel hinein. Nichts war zu hören. Mein Gefühl sagte mir, dass ich nicht mehr allein war.
Meine letzte Story, geschrieben für das Bierstädter Tageblatt, hätte mich fast mein Leben gekostet. So lieb hatte ich unsere Abonnenten nun auch wieder nicht, dass ich für eine gute Geschichte freiwillig ans Himmelstor geklopft hätte. Aber wenn jemand mit einer Waffe vor dir steht und einfach losballert, hast du keine Chance, verschiedene Denkmodelle durchzuspielen.
Zum Glück war es ja nochmal gut gegangen. Tagelang hatte ich zwischen Leben und Tod geschwebt. Die Kugel war knapp am Herzen vorbeigesaust, hatte aber genug Unheil angerichtet. Wie es im Einzelnen in mir aussah, wusste ich nicht, wollte es auch gar nicht wissen. Krankheiten waren dazu da, sie zu bekämpfen, und Unfälle, sie hinter sich zu lassen.
»Jetzt hast du deinen Nachruf auf mich umsonst verfasst«, so hatte ich meinen Chef Peter Jansen begrüßt, als der mich zum ersten Mal besuchte.
»Ich heb ihn auf«, tröstete er mich. »Wie ich dich kenne, ist es nämlich bald wieder so weit.«
»Darf ich ihn mal lesen?«, fragte ich.
»Lieber nicht. Ist mir ziemlich peinlich, was ich über dich geschrieben habe«, antwortete er.
»So schlimm?«, erschrak ich.
»Nein, viel zu nett. Wenn du wirklich die Person in meinem Nachruf wärst, hätten wir es alle leichter.«
»Sehr witzig!«
»Wann kommst du zurück zur Arbeit?«, wechselte er das Thema.
»So bald ich hier raus bin. Dieses Getue hier geht mir auf die Nerven. Ich brenne darauf, mich ins Leben zu stürzen.«
»Welche Wahnsinnsstory hast du denn schon wieder im Kopf?«
»Nein! Keine gefährlichen Storys mehr«, beruhigte ich ihn. »Ich werde meinen journalistischen Ehrgeiz künftig in das Rezept des Tages legen und mich aufopferungsvoll um die Vermittlung von heimatlosen Tieren kümmern. Und vielleicht kann ich auch endlich die Serie Die Frau an seiner Seite beginnen, mit der ich schon seit Jahren liebäugele. Meine Materialsammlung zu diesem Thema ist inzwischen riesig.«
»Ich glaube, dafür musst du wieder von vorn anfangen«, grinste er. »Die Paare, die du dir damals ausgeguckt hast, sind entweder tot, geschieden oder haben eine Geschlechtsumwandlung hinter sich.«
In Krankenhäusern beginnt der Morgen früher als anderswo. Dieser Rhythmus nervte. Wahrscheinlich glaubten die Mitarbeiter, dass sie schneller fertig waren, je eher sie anfingen, was ja auch irgendwie stimmte, nur für die Patienten wurde der Abend gähnend langweilig und ereignislos. Klar, in fast jedem Zimmer gab es einen Fernseher und man konnte sich in die Radioprogramme einstöpseln, doch beim Fernsehen fielen mir nach der Tagesschau bereits die Augen zu und die Musiktitel im Radio waren mir inzwischen so vertraut, als hätte ich sie komponiert.
Immerhin war ich informationsmäßig auf dem Laufenden geblieben: in Deutschland regierte erstmals eine Bundeskanzlerin, Flutwellen und Hurrikans hatten diesmal nicht nur die Dritte-Welt-Bevölkerung dezimiert, sondern auch in den USA gewütet, Terrorschläge waren weiterhin ein Mittel der politischen Auseinandersetzung und Bierstadt, die liebenswerte Metropole zwischen Montanresten und Hightechhoffnungen, war auf dem Weg in die Spaßgesellschaft. Das neue Bierstadt macht uns Spaß – dieser schlichte Satz, entsprungen den leistungsstarken Hirnen städtischer Werbestrategen, passte zum geplanten künstlichen See auf der Stahlwerkbrache genauso wie zum schicken futuristischen Bahnhof und der im Sommer stattfindenden Fußballweltmeisterschaft.
Es war erst sechs Uhr in der Früh. Der Nachtpfleger polterte ins Zimmer und trompetete fröhlich: »Guten Morgen, die Damen!«
Damen? Das war eindeutig ein Plural. Ich erinnerte mich an die Geschäftigkeit der vergangenen Nacht und schaute zum Bett nebenan. Tatsächlich, da lag eine Frau.
»Pascal!«, sprach ich den Mann mit strenger Stimme an. »Soweit ich mich erinnere, bin ich Privatpatientin mit Einbettzimmer und Chefarztbehandlung.«
»War ein Notfall«, erklärte der Pfleger. »Armes Ding. Kein Bett mehr frei. Da wollen wir doch mal nicht so sein, oder?«
Der Gardinenring in seiner Augenbraue blitzte. »Dafür hab ich den Kaffee wieder richtig stark gekocht – extra für Sie, Frau Grappa.«
Er schob das Tablett auf den Nachttisch und guckte dabei ins benachbarte Bett. Ich konnte aus meiner Position nicht viel erkennen – nur einen blonden, wirren Haarschopf.
»Was ist denn mit ihr?«, wollte ich wissen.
»Sie wissen doch, dass ich das nicht sagen darf«, antwortete Pascal. »Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sie aufwacht. Sie hat die volle Dröhnung gekriegt. Könnten Sie nach einer Schwester klingeln, wenn sie sich rührt?«
Ob ich auch so bewegungslos im Bett gelegen hatte wie die Frau neben mir? Ich versuchte, mich zu erinnern, doch da war nicht viel vorhanden im Gedächtnis. Nur verschwommene Bilder, zerrissene Töne und verworrene Gefühle. Venedig mit seinen hohen Gassen und den verfallenen Häusern, kühlen Kirchen und schlechten Restaurants. Gondoliere, die weder attraktiv waren noch schwülstige Kanzonen trällerten, Geschäfte mit überhöhten Preisen und patzigem Verkaufspersonal.
Aber da war auch anderes: Madrigale von Monteverdi, Bilder von Bellini und Tizian und jenes Prickeln beim Anblick eines schwarzhaarigen Machos, der Eissorten erfindet und sie nach meinen Stimmungen benennt. Und dann der Knall, der all das Schöne erst mal beendet hatte.
Ein Stöhnen riss mich aus meinen Gedanken. In dem anderen Bett tat sich etwas. Ich setzte mich auf und schielte zu dem blonden Haargewirr.
Die Frau hatte sich aus der Seitenlage herausgedreht und ich konnte ihr Gesicht erkennen.
Keine Frau, fast ein Kind, dachte ich erschrocken.
Das Mädchen hatte blutunterlaufene und geschwollene Wangen, einen Riss an der Lippe und Druckstellen am Hals.
Ich wollte mich gerade abwenden, da bemerkte ich, dass sie die Augen geöffnet hatte und mich ansah.
»Hallo«, sagte ich, »alles ist gut, machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind in Sicherheit.«
Keine Ahnung, ob sie mich verstand. Ich drückte die Klingel und Schwester Rita meldete sich über die Sprechanlage. Schwester Rita saß vierundzwanzig Stunden lang am anderen Ende der Klingel. Sie hieß natürlich nicht so, sondern informierte die einzelnen Pfleger und Pflegerinnen auf den Stationen über die Wünsche der Patienten. Schwester Rita – das waren mehrere Frauen, die im Schichtdienst in der Telefonzentrale hockten. Ich hatte eine Woche gebraucht, um das rauszukriegen.
»Zimmer 33. Sagen Sie Pascal auf der Chirurgischen Bescheid«, forderte ich. »Er soll sofort herkommen.«
Pascal ließ nicht lange auf sich warten, stürzte sofort zu meiner Nachbarin hin, überprüfte den Tropf und nahm ihren Arm.
Das Mädchen begann zu schreien.
Pascal erschrak, ließ die Hand der Patientin los. »Ich hol den Arzt«, brach es aus ihm heraus. »Behalten Sie sie im Auge, ja?«
Seine Gummisohlen quietschten auf dem Kunststoffboden.
Das Mädchen hatte sich wieder von mir weggedreht. Ein anderes Quietschen auf dem Flur näherte sich, ausgelöst durch mehrere Fußpaare. Ein Arzt, Pascal und eine Schwester polterten ins Zimmer.
»Sie sind in Sicherheit«, sagte der Arzt zu dem Mädchen. »Sagen Sie uns Ihren Namen? Wie heißen Sie?«
Aus den Kissen war nichts zu hören.
»Wer sind Sie?«
»Sie ist stabil«, stellte die Schwester fest. Sie hatte Blutdruck und Puls überprüft.
»Sie hat Schmerzen. Geben Sie ihr etwas dagegen«, ordnete der Arzt an. »Und wenn die Kripo wieder anruft, behaupten Sie, dass sie noch schläft. Die rufen jetzt schon alle fünf Minuten hier an.«
»Das Ergebnis des Abstrichs ist gerade aus dem Labor gekommen«, informierte die Krankenschwester. »Liegt alles in Ihrem Büro, Herr Doktor.«
»Was hat sie denn?«, fragte ich.
Erst jetzt nahm mich die Crew zur Kenntnis.
»Sie wissen, dass wir das nicht sagen dürfen«, wiederholte der Doc die Worte des Pflegers. »Rufen Sie uns bitte, wenn sie irgendwas sagt oder sich ihr Zustand verschlechtert.«
Ich versicherte ihm, dass er sich voll auf mich verlassen könne.
Ich wartete, bis alle gegangen waren, aktivierte mein Handy, schlich auf den Flur und rief Jansen an.
»Hast du irgendwas von einem Überfall auf ein junges Mädchen gehört?«, fragte ich. »In den letzten vierundzwanzig Stunden. Die Kripo scheint ein heißes Interesse an dem Fall zu haben.«
Jansen überlegte kurz und antwortete dann: »Ja, da war was. Vergewaltigung. An der Uni.«
»Ich glaube, das Opfer liegt bei mir auf dem Zimmer.«
»Ich hol mal eben die Pressemitteilung.«
Ich hörte es rascheln, dann sagte er: »Dieser Serienvergewaltiger hat wohl wieder zugeschlagen. Der Typ, der sich seit Jahren an der Uni herumtreibt. Erinnerst du dich?«
»Nur dunkel. Aber der hat doch schon lange keine Frauen mehr überfallen, oder?«
»Stimmt. Doch die Fälle sind nie aufgeklärt worden. Moment, hier steht noch was ... Sie haben sein letztes Opfer noch nicht identifiziert. Ein junges Mädchen. Blond, eins fünfundsechzig groß. Sie suchen Zeugen. Kann das die Frau in deinem Zimmer sein?«
»Und ob. Es passt alles.«
Die Kripo rückte am Nachmittag an, die Ärzte hatten sie wohl doch nicht länger abwimmeln können. Wunderbar, denn ich lag an der Quelle und konnte die Ohren spitzen. Es waren eine Frau und ein Mann, sie war ganz offensichtlich der Boss im Zweierteam. Ich stellte mich schlafend.
»Ich verstehe nicht, dass niemand sie sucht«, hörte ich den Kripomann raunen. »Es muss doch auffallen, dass sie gestern nicht nach Hause gekommen ist.«
»Wenn sie eine Studentin ist, dann ist das nichts Besonderes«, widersprach die Frau. »Das Verschwinden der anderen Opfer ist auch nicht gleich bemerkt worden. In den Studentenunterkünften herrscht ein Kommen und Gehen. Wann wird sie ansprechbar sein, Doktor?«
»Da kann ich keine Prognose abgeben«, sagte der Arzt.
Ich hörte, dass sich Schritte näherten, rührte mich aber nicht.
»Wer ist denn das?«, fragte die Frau.
»Eine Patientin«, erklärte der Doc.
»Das überrascht mich aber. Was hat sie?«
»Ärztliche Schweigepflicht – Sie kennen das doch«, konterte der Doc.
»Haben Sie kein Einzelzimmer für die Verletzte?«
»Das nächste freie Zimmer kriegt sie«, versprach der Arzt. »Und jetzt möchte ich Sie bitten zu gehen. Sie sind in einem Krankenhaus und nicht im Polizeipräsidium.«
Während der folgenden Stunden schaute ich einige Male nach meiner Zimmergenossin. Die Gesichtszüge waren inzwischen entspannt und sie atmete ruhiger.
Obwohl es fast Winter war und der Abend früh anbrach, schaffte es die Krankenhaus-Crew, das Abendessen noch bei Tageslicht zu servieren. Pfefferminztee, Fabrikbrot und ein ekelhaft rosafarbener Aufschnitt.
Bestimmt das berühmte Gammelfleisch, dachte ich. Ein neuer Lebensmittelskandal erschütterte gerade die Republik und im Fernsehen wurden entsprechend anregende Bilder gezeigt.
Ich musterte das Essen intensiver. Heute waren die Küchenchefs der Klinik geradezu tollkühn gewesen: Als Beilage gab es nicht die üblichen Mixedpickles, sondern ein paar schwarze Oliven, die eindeutig italienisch wirkten und verführerisch glänzten. Ich schnappte mir eine. Leider war der Kern groß und das Fruchtfleisch durch monatelanges Salzbad und unsachgemäße Lagerung steinhart geworden. Stammen wohl doch eher von einem Olivenbaum aus Mecklenburg-Vorpommern, überlegte ich.
Ein tiefer Seufzer entrang sich meiner Brust und prompt tat meine Narbe weh. Ich schloss die Augen, dachte an eine umfangreiche Kollektion italienischer Antipasti und stand kurz vor einem Speichelsturz. Schnell schnappte ich mir die Scheibe Wurst und steckte sie in den Mund. Die Realität hatte mich wieder im Griff, sie schmeckte laff und hatte die Konsistenz eines Putzlappens.
»Hallo«, sagte jemand mit matter Stimme.
Ich schob das Tablett beiseite und stürzte zum Nachbarbett. »Hallo«, sagte ich. »Wie geht es dir?«
»Was ist passiert?«
»Darüber reden wir später. Du bist jetzt im Krankenhaus«, erklärte ich. »Und alles wird gut. Du musst keine Angst mehr haben.«
Ich drückte die Klingel und forderte Schwester Rita auf, jemanden vorbeizuschicken.
»Gleich kommt jemand und schaut nach dir«, sagte ich. »Ich heiße Maria, Maria Grappa. Kannst du mir deinen Namen sagen?«
Sie sagte ihn mir und ich wusste Bescheid.
Ich hatte einen Vorsprung vor der Polizei, die den Namen der jungen Frau noch nicht kannte. Zeit genug, um meine neue Geschichte einzustielen. Zum Glück hatte ich mein Handy immer voll aufgeladen im Nachttisch liegen, auch wenn die Pfleger das nicht gern sahen. Ich hatte mit Pascal einen Kompromiss ausgehandelt: Das Gerät war tagsüber meist ausgeschaltet, vom Klingelton hatte ich auf Vibrationsalarm umgeschaltet und bei der Visite versteckte ich es.
Ich schlurfte in den Vorraum, von dem das Bad abging.
Peter Jansen war noch in der Redaktion.
»Sie ist gerade aufgewacht«, berichtete ich. »Und rate mal, wie sie heißt.«
»Grappa! Ich kenne nicht viele Mädchen in dem Alter. Also, sag schon!«
»Margit Sauerwald.«
»Sauerwald?« Ich wusste genau, welche Synapsen in Jansens Hirn miteinander eine Verbindung eingingen. »Die Tochter von Marcel Sauerwald! Und die ist überfallen worden?«
»Scheint so.«
»Und die Polizei weiß noch nicht, wer sie ist?«
»Nein. Die Ärzte haben die Kripoleute hinauskomplimentiert. «
Schweigen am anderen Ende. Jansen überlegte. »Ein Journalist ist auch noch nicht aufgetaucht?«
»Ich hab keinen gesehen.«
»Wenn das die Runde macht«, sagte er, »rennen euch die Kollegen die Bude ein.«
»Verlass dich ganz auf mich«, erwiderte ich. »Ich werde alle vergraulen, die mir die Story klauen wollen.«
»Story? Du bist krank!«
»Jetzt nicht mehr. Ich fühle mich topfit.«
Jansen lachte. »Und was ist mit dem Rezept des Tages und der geplanten Ehefrauen-Serie?«
Eine Stunde später traf ich mich mit Jansen in der Cafeteria der Klinik. Die Ärzte hatten nach Margit Sauerwald geschaut und kurz mit ihr gesprochen, sie dann aber wieder schlafen lassen.
»Irgendwie habe ich Probleme mit der Geschichte«, zauderte Jansen. »Es gehört sich nicht, die Notlage eines Menschen auszunutzen und Informationen aus ihm herauszuholen.«
»Sie kann froh sei, dass sie an uns geraten ist«, sagte ich. »Läge jemand von der Blöd-Zeitung in ihrem Zimmer, hätten die sie längst fotografiert oder versucht, alle Einzelheiten aus ihr herauszuquetschen. Es lebe die bürgerliche Tagespresse mit ihren ethischen Grundsätzen!«
»Ich wusste gar nicht, dass du das Wort Ethik kennst«, grinste er schief.
»Mein Wortschatz ist eben umfangreicher, als du glaubst«, entgegnete ich.
»Ich weiß ja, Grappa, dass du eigentlich eine ganz Sanfte und Liebe bist, die nur zu wenig Chancen hat, das zu zeigen. Ich habe übrigens ein Foto von Margit Sauerwald mitgebracht.« Jansen zog einen Umschlag aus der Tasche. »Dazu noch das ganze Zeugs aus dem Archiv und dem Internet über die vielen Vergewaltigungen. Damit du dich einlesen kannst.«
»Gib mir mal das Bild.«
Das Foto zeigte Margit Sauerwald mit ihrem Vater Marcel vor dem Fußballstadion. Vereinspräsident Dr. Marcel Sauerwald mit Tochter Margit (16) auf dem Weg in die VIP-Lounge, war zu lesen. Kein Zweifel, das war das Mädchen aus meinem Zimmer.
»Von wann ist das Foto?«, fragte ich.
»Zwei Jahre alt. Die beiden schauten sich damals das UEFA-Cup-Halbfinale an. Ist ja schwer versemmelt worden. War der Anfang der Unglücksserie der Schwarz-Gelben.«
»Wenn die damals sechzehn war, ist sie jetzt achtzehn«, murmelte ich. »Armes Ding. Sie wird Jahre brauchen, um darüber hinwegzukommen – wie alle Frauen, denen so was passiert. Falls sie überhaupt wieder ein normales Leben führen kann.«
»Erinnerst du dich an das Elfmeterschießen damals?« Jansen schwelgte in Erinnerungen. »Ging voll in die Hose. Eine Katastrophe war das!«
»Katastrophe? Ich rede über ein schweres Verbrechen an einem Kind und du hast nichts im Kopf als ein Fußballspiel, an das sich niemand mehr erinnert!«
»Das glaubst aber nur du«, widersprach er. »Nenne diese Jahreszahl einem schwarz-gelben Fan und beobachte, wie sich sein Gesicht verzerrt.«
»Ich werde nie kapieren, was alle Welt an Fußball findet«, seufzte ich. »Ganz normale Menschen mutieren am Wochenende zu so genannten Fans, ziehen sich hässliche schwarzgelbe Klamotten an und rasten völlig aus, weil ein Dutzend millionenschwere Idioten einem Ball hinterhersprintet.«
»Es sind zweiundzwanzig, Grappa«, meinte er mild. »Du hast die gegnerische Mannschaft vergessen. Aber mit dem Rechnen hattest du es ja noch nie.«
»Ich nehme mir die Freiheit, manche Sachen nicht zu wissen«, entgegnete ich. »Schade, dass ich den Artikel nicht selbst schreiben kann. Meinst du, du schaffst das?«
»Ich rufe dich sofort an, wenn mir die Worte fehlen«, versprach er. »Aber meine Schilderung wird nur halb so dramatisch sein, wie es deine wäre, und ihr wird jene brisante Mischung aus Fiktion und Realität fehlen, die deine Storys so unverwechselbar machen.«
Ich hatte keine Lust zu überlegen, ob dieser Satz als Kompliment gemeint war. Wir vereinbarten, Margit Sauerwalds Namen in dem Artikel über den Überfall nicht zu nennen und erst mal abzuwarten.
Noch vor dem opulenten Klinikfrühstück schlich ich zum Kiosk und klaute mir eine Sonntagszeitung aus dem Stapel, der vor der verschlossenen Tür abgelegt worden war.
Die Nachtschwester glaubte wahrscheinlich an einen Geist, als ich – die geöffnete Zeitung vor dem Gesicht – den Flur entlangschlurfte. Sie identifizierte mich dann aber doch und fragte perplex, was passiert sei.
»Die neuesten Fußballergebnisse«, erklärte ich. »Ich habe gestern das Spiel verpasst.«
»Ach so.«
Ich verzog mich ins Bett und suchte einen Bericht über den Fall:
Der seit Jahren gesuchte Serienvergewaltiger hat vermutlich wieder eine Frau überfallen. Die Identität des Opfers ist noch nicht geklärt, die Frau liegt schwer verletzt in einem Bierstädter Krankenhaus.
Die Polizei vermutet, dass es sich um denselben Täter handelt, der seit 1994 mindestens sechzehn Frauen überfallen und vergewaltigt hat. Dieser Mann soll zwischen 25 und 35 Jahren alt und mittelgroß sein. Leider gibt es sechs verschiedene Beschreibungen und Phantomfotos von ihm, was die Arbeit der Polizei erschwert.
Der Mann hat sich jedes Mal eine junge Frau ausgesucht, die sich im Umfeld der Universität aufhielt, und sie mit einem Messer bedroht. Da er DNA-Spuren hinterlassen hat, ordneten die Behörden einen der umfangreichsten Speicheltests an, der jemals in der Republik stattgefunden hat: Fast 10.000 junge Männer aus der Umgebung von Bierstadt wurden getestet – ohne Erfolg.
Auch ein extra aus Großbritannien angereister Profiler von Scotland Yard konnte nicht helfen. Der Brite fand nur heraus, dass sich der Täter in Bierstadt und Umgebung gut auskennen muss. Die Sonderkommission Messer hat nach Monaten der Ruhe jetzt wieder einen neuen Fall zu klären – vielleicht werden die Ermittlungen endlich von Erfolg gekrönt. Wir werden weiter über den Fall berichten.
Ich war beruhigt. Der Artikel in der Sonntagszeitung enthielt das Übliche, ich würde mit Besserem und Neuem aufwarten können, wenn ich erst mal wieder an meinem Schreibtisch saß.
Die Tür öffnete sich. Ärzte im Rudel – die Morgenvisite. Mein Bett stand näher zum Eingang, also war ich zuerst dran.
»Guten Morgen, Frau Grappa. Wie geht es uns denn heute?«, fragte der Chefarzt.
»Mir geht es blendend. Und Ihnen?«
»Wenn es den Patienten gut geht, dann ist mir auch wohl.«
Die Mitglieder seiner Crew lächelten pflichtschuldigst. Jeden Morgen das gleiche Spielchen zwischen mir und dem Doc.
»Wann werde ich entlassen?«, fragte ich. Auch diese Frage stellte ich, seitdem ich aus dem Koma erwacht war.
Er schaute auf das Krankenblatt. »Bald ist es so weit. Nur noch ein paar Untersuchungen.«
Dann wandte sich der Trupp Margit Sauerwald zu. Ich hörte, wie der Chefarzt sie beruhigte und ihr sagte, dass ihre Eltern im Ausland seien, aber den nächsten Flug nach Bierstadt genommen hätten.
Ich musste mich also beeilen, wenn ich etwas erfahren wollte.
Heute war es ein Vorteil, dass der Abend im Krankenhaus so früh begann. Gegen neunzehn Uhr lagen die Patienten sauber, satt und schon ziemlich still in den Betten.
Gerade wollte ich im Bad verschwinden, als Pascal auf seiner Runde vorbeischaute. Smalltalk, Kissenaufschütteln und Gute-Nacht-Sagen – das war sein abendliches Programm.
Bei Margit Sauerwald hielt er sich etwas länger auf, schüttete ihr etwas Tee ein und senkte das Bett ab. Er stellte ihr eine Frage, bekam aber keine Antwort und verdrückte sich schließlich, nachdem er das Notlicht eingeschaltet hatte.
Gesprächig war die junge Frau nicht gerade. Aber warum sollte sie auch munter drauflosplaudern nach einem solchen Erlebnis?
Ich überlegte, wie ich an Margit Sauerwald herankommen konnte. Das Gespräch von Frau und Frau war keine meiner bevorzugten Übungen, sie brutal auszufragen, gehörte sich nicht. Ich würde – wie so oft – improvisieren müssen.
Doch zuerst musste ich meine Flucht aus dem Krankenhaus vorbereiten. Ich holte die Alltagsklamotten aus dem Spind und packte mein Nachthemd in die Reisetasche. Die Kleider rochen muffig, es waren dieselben, die ich am Tag meines ›Unfalls‹ getragen hatte. Ich stieg in die Hosen, zog den löchrigen Pullover über, an dem noch Blut klebte, und stellte die Schuhe zurecht.
Der Zufall kam mir zu Hilfe. Margit Sauerwald wollte Tee trinken, stieß dabei die Tasse um und sah erschrocken zu, wie die rote Brühe auf dem Bettbezug versickerte.
»Hagebuttentee! Moment, das haben wir gleich.«
Ich tupfte mit einem Papiertaschentuch auf der Decke herum, kam ihr dabei näher. Sie lächelte mich an – dankbar und leicht verstört.
»Ich sehe, dass es dir schon viel besser geht«, plapperte ich drauflos. »Du hast Schreckliches erlebt, aber bald ist alles wieder gut. Und die Polizei wird das Schwein kriegen, das dich überfallen hat.«
Ihr Blick verdunkelte sich. Das war keine Glanzleistung, Grappa, dachte ich. Ich hatte sie an das Verbrechen erinnert und sie machte zu.
Die Hämatome in ihrem Gesicht wirkten im Zwielicht der Notbeleuchtung fast schwarz. Sie sah erbarmungswürdig aus.
»Was ist denn nun eigentlich passiert?«, traute ich mich zu fragen. »Willst du es mir nicht erzählen?«
»Ich dachte, ich müsste sterben«, antwortete sie tonlos.
Eine Stunde später schlich ich mich aus dem Zimmer. Ich hatte alles, was ich wollte.
Auf dem Flur war es ruhig, das Pflegepersonal saß im Aufenthaltsraum, quatschte und qualmte. Auch Pascal befand sich dort. Er war mit der Kaffeemaschine beschäftigt und drehte mir den Rücken zu.
Der Zettel, den ich auf meinem Kopfkissen hinterlassen hatte, würde ihn bei seinem nächsten Rundgang beruhigen und ihm bestätigen, dass ich das Haus auf eigenen Wunsch und eigene Gefahr verlassen hatte.
Ich drückte die Reisetasche eng an den Körper und erreichte schließlich den Aufzug.
Der Lift schwebte heran und öffnete sich. Drei Krankenschwestern wollten ebenfalls nach unten. Sie grüßten, hielten mich wohl für eine späte Besucherin. Ich stellte mich so, dass sie den zerfetzten Pullover nicht sehen konnten, passierte die Pforte und war draußen.
Die Luft war kühl, ein leichter Wind verfing sich in meinem Haar und wuselte es vollends durcheinander. So musste sich ein spanischer Konquistador gefühlt haben, der seinen Fuß auf einen neuen Kontinent gestellt hatte.
Das Leben hat mich wieder, dachte ich.
Auf der Straße vor der Klinik warteten Taxis auf Kunden. Ich nahm mir eins, bat den Fahrer, am Bahnhof vorbeizufahren. Ich brauchte ein paar Lebensmittel und dort hatte ein Lädchen fast rund um die Uhr geöffnet.
In meiner Straße war alles wie immer. Mein Cabrio stand brav geparkt, aber völlig verdreckt in der Parkbucht vor dem Haus unter den großen Platanen. Vögel hatten den schwarzen Lack weißgrau besprenkelt.
Ich öffnete die Wohnungstür, machte Licht, ging gleich durch ins Wohnzimmer und riss die Balkontüren auf. Luft! In der Küche räumte ich die Notration Lebensmittel aus der Tüte, checkte die Konservendosen und die Pastapackungen – es waren noch getrocknete Steinpilze, Pesto und andere Soßen da. Jetzt brauchte ich noch Musik und einem einsamen, aber auch wunderbaren Abend in Freiheit stand nichts mehr im Wege.
Jansens Päckchen mit den Artikeln legte ich auf den Esstisch, dann setzte ich das Pastawasser auf und entkorkte eine Flasche Rivaner.
Inzwischen war mein Verschwinden aus dem Krankenhaus bestimmt bemerkt worden. Egal, die Klinik war keine geschlossene Anstalt.
Ich dachte, ich müsste sterben, hatte Margit Sauerwald im Krankenhaus gesagt. Anschließend hatte sie mir mit stockenden Worten erzählt, was passiert war. Ich hatte schon einige Male mit Frauen gesprochen, die Opfer von sexueller Gewalt geworden waren, und immer wieder packte mich eine ungeheure Wut, wenn ich an die Typen dachte, die ihre Triebe nicht unter Kontrolle halten konnten und das Leben so vieler Frauen und Mädchen negativ beeinflussten und oft zerstörten. Untherapierbare Wiederholungstäter sollten meiner Ansicht nach lebenslang aus dem Verkehr gezogen werden, und basta.
Mit dem Weinglas in der Hand inspizierte ich meine CD-Sammlung, konnte mich nicht entscheiden. Eine CD, die ich vor meiner Krankenhauszeit gehört hatte, lag noch im Player. Ich hatte keine Ahnung, welche es sein könnte, drückte die Taste und hörte Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen.
Das passte zu meiner Stimmung und der Story, die vor mir lag. Das Quartett war Schuberts düsterstes Werk. Alle vier Sätze stehen in Moll. Es schildert den musikalischen Dialog zwischen einem jungen Mädchen und dem Tod. Matthias Claudius hatte das Gedicht geschrieben und Schubert ein Lied und das Streichquartett, dessen Klänge jetzt meine Wohnung erfüllten. Wild, jähzornig und aufbrausend. Ich dachte, ich müsste sterben.
Ich kramte nach dem Booklet und las das Gedicht.
Das Mädchen:
Vorüber! ach, vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh, Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Der Tod:
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild,
Bin Freund und komme nicht zu strafen.
Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen.
Ich drehte den Schubert leiser und rief Jansen an.
»Ist was passiert?«, fragte er sofort.
»Nein, alles paletti. Ich bin raus aus der Klinik«, teilte ich ihm mit. »Und Margit Sauerwald hat mir alles erzählt.«
»Prima. Und was?«
»Der Typ trug eine Maske und hatte offensichtlich auf sie gewartet.«
»Das passt zum Serienvergewaltiger.«
»Stimmt.«
»Was hat er mit ihr gemacht?«
»Das kannst du alles in meinem Artikel lesen. Ich muss erst mal die Informationen auswerten.«
»Gut, Grappa. Waren die Eltern schon da?«
»Noch nicht. Die sind irgendwo im Ausland, sagte der Arzt. Und die Bullen sind heute auch nicht aufgetaucht.«
»Darf ich dich mal was fragen, Grappa?«
»Darfst du, aber ich kann dir auch schon die Antwort auf deine Frage geben: Ich bin fit und kann ab morgen arbeiten.«
»Das meinte ich gar nicht!«
»Was denn?«
»Warum hörst du nur immer diese Jammermusik? Da fällt man ja von einer Krise in die nächste. Leg dir doch mal eine nette Chill-out-Lala in den Player!«
»Ich steh weder auf geistigen noch auf musikalischen Dünnschiss«, erklärte ich. »Außerdem stabilisiert Schubert meine Kampfkraft. Das Stück heißt nämlich Der Tod und das Mädchen.«
»Das kenne ich!«, behauptete der Kulturbanause verwundert. »Aus einem Polanski-Film. Merkwürdig! Da ging es auch um eine Vergewaltigung.«
Natürlich wachte ich schon gegen sechs Uhr auf. Ich muss mich wieder an meinen Rhythmus gewöhnen, dachte ich. Ich kochte starken Kaffee, sah die Post durch und wartete. Anneliese Schmitz öffnete erst gegen sieben Uhr ihre Bäckerei und schüttete die dampfenden Brötchen in die Auslage.
Ich schmiss mich in Jogginghose und Shirt und sah ziemlich ungebügelt aus – egal. Alle meine Freunde und Bekannten lagen jetzt noch in den Federn und es gab wohl kaum eine Chance, von ihnen mitleidige oder entsetzte Blicke zu ernten.
Ja, es brannte Licht in der Backstube. Die Türklingel gab ihr übliches Schellen von sich, als ich eintrat.
»Bin gleich da«, rief jemand. Ich stutzte: Die Stimme war eindeutig männlich. Schon bog ihr Besitzer um die Ecke. Der Mann war gerade mal dreißig, so schätzte ich, hatte Mehlstaub im dunklen Haar und den Körper eines Sportlers, wie ich mit Kennerblick feststellte.
»Wo ist denn Frau Schmitz?«, fragte ich.
»Frau Schmitz macht eine Schulung«, entgegnete er. »Ich bin die Vertretung. Was kann ich für Sie tun?«
»Sie macht was?«
»Einen Sprachkurs. Englisch, Brasilianisch und Japanisch.«
»Warum denn das?«, fragte ich verdattert.
»Wegen der Fußballweltmeisterschaft«, erklärte er. »Wegen der vielen Fans, die in die Stadt kommen.«
»Und die holen sich hier die Brötchen?«
»Nein. Tante Anneliese will belegte Brötchen und Kuchen auf der Straße verkaufen. Ganz nah am Kunden. Wir haben uns schon einen Verkaufswagen gemietet.«
»Tante?«
»Ich bin ihr Neffe und werde ihr im Sommer beim Verkauf helfen. Ich heiße Moritz Müller.«
»Was heißt denn Mandelhörnchen auf Japanisch, Herr Müller?«, grinste ich.
»Ach, Sie sind das!«, meinte er. »Die mit den Mandelhörnchen.«
»Ja, genau die. Wann kommt Ihre Tante zurück?«, fragte ich.
»In ein paar Tagen.«
»Dann nehme ich erst mal zwei Brötchen«, sagte ich. »Und Brot brauche ich auch.«
Ich blickte auf die Stelle, an der mein Gesundheitsbrot zu liegen pflegte. Auf dem Schild unter den Laiben stand Bierstädter Fußball.
»Ist das das Brot, das früher mal Drei-Körner-Kruste hieß?«
»Exakt. Ich habe es umgetauft. Wegen der Fußballweltmeisterschaft.«
»Super Marketingstrategie«, meinte ich. »Sie haben echt was auf dem Kasten, junger Mann.«
»Alles wird nach und nach umbenannt«, erklärte der Neffe. »Ein Name, der mit Fußball zu tun hat, und alles geht ab wie Schmitz' Katze.«
Er nahm die Kugel vom Brett. »Aber es schmeckt genauso, wie Sie es gewohnt sind.«
»Das will ich hoffen«, brummte ich.
»Fünf Euro zwanzig«, sagte er und umhüllte die Fußballkugel mit Papier.
»Haben Sie etwa die Preise erhöht?«, fragte ich. Früher hatte ich für zwei Brötchen und mein Brot fünfzig Cent weniger bezahlt.
»Alles wird teurer durch die WM«, behauptete er.
»Verstehe!« Ich zückte mein Portmonee, kramte nach den Münzen und legte sie ihm passend auf die Theke.
»Danke und schönen Tag noch«, rief er mir nach.
»Ihnen auch. Eine Frage habe ich aber doch noch.« Ich drehte mich wieder zu ihm um. »Was muss ich denn künftig verlangen, wenn ich meine Mandelhörnchen haben will?«
Auch Frau Schmitz mischte also mit beim großen Spiel um Tore, Ruhm und Kohle. Mir schwante, dass sie nicht besonders erfolgreich sein würde, denn die Pfründe waren sicherlich schon längst aufgeteilt. Im WM-Stadion regierte eine Feinkostkette aus München, ein Massen-Caterer und ein USA-Fastfood-Unternehmen fütterten das einfache Volk ab.
Ich stellte mir Anneliese Schmitz und ihren Neffen Brötchen schmierend zwischen Fußballfans und Hooligans vor und musste lachen. Für einen augenzwinkernden Artikel taugte diese Schau allemal!
Beim Frühstück las ich alles quer, was mir Peter Jansen über die Serienvergewaltigungen ins Krankenhaus mitgebracht hatte. Die Ermittlungskommission hatte sich nach jahrelanger Arbeit aufgelöst, der Fall war ziemlich mysteriös. Auf einem Zeitungsfoto war die ehemalige Leiterin der Sonderkommission abgebildet. Beate Schlicht arbeitete inzwischen in einer anderen Stadt, deshalb war sie mir in Bierstadt noch nicht über den Weg gelaufen.
Sechzehn Frauen waren von dem Unbekannten in den vergangenen zwölf Jahren vergewaltigt worden, fünf konnten ihn in die Flucht schlagen – entweder durch heftige Gegenwehr oder weil zufällig Spaziergänger auftauchten.
Er überfiel seine Opfer von hinten, setzte ihnen ein Schweizer Messer an den Hals und brachte sie so dazu, das zu tun, was er wollte.
DNA-Material gab es ohne Ende, die Spuren wiesen eindeutig auf ein und denselben Täter hin. Was ungewöhnlich war: Er hatte ein Gesicht und doch wieder keins.