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Inhalt

Die Autorin

Die Personen

Abendmahlstimmung

Frische Brötchen

Blonde Überraschung

Ein alter Bekannter

Fast null Infos

Blondie im Keller

Kater mit Familienanschluss

Elsterflug für Eberhard

Todsünde: Völlerei

Retten und gerettet werden

Frust und Selbstfindung

Nervengift und Wiener Schule

Katerspiele

Immer dasselbe Spiel

Schlüssel im Fach

Aufgabenteilung

Kosmo schweigt

Nachbarbesuch

Überraschung an einem lauen Tag

Lebende Opale

Wollust und Völlerei

Verklärte Nacht

Dorische Säulen

Bericht aus der Vergangenheit

Katerlaunen

Irrenhaus live

Kopfwäsche

Licht im Tunnel

Süße Mattigkeit

»Dein Nabel ist wie ein runder Becher«

Bad und Bedenken

Der Postmann kommt

Türkische Früchte

Reise zu einem Luftkurort

Verschollene Erinnerung

Versprechen – gebrochen

Ein altes Foto

Keine platte Harmonie

Halterlose Erotik

»... seine Rechte herzet mich«

Sex im Alter?

Katerkatastrophen

Brüderschaften

Männer mit Macken

Besuch aus der Hölle

Lauscher an der Tür

Einfach verschwunden

Hausbesuch

Nachbarschaftshilfe

Gläubiger und Glauben

Schwesterlich

Sieben Vaterunser?

Geständnis

Gehirnblitze

Ideen in Grau

Klang aus der Tiefe

Erneute Flucht

Großfahndung

Ab in die Freiheit

Gejagte Wiener Klassik

Ausklang

 

»Schinken wie immer?«

Ich nickte. Die Bäckersfrau zog das Blech aus dem Ofen. Wärme und der Geruch von frischem Brot verbreiteten sich im Raum. Ich sog beides ein.

»Kein Unfall«, sinnierte sie. »Was dann?«

»Die sieben saßen beim Abendessen und ...« Ich führte meinen Arm von links nach rechts quer über die Kehle.

»Die Kehlen durchgeschnitten?«, fragte Frau Scholz mit glänzenden Augen.

»Nee. Kein Messer im Spiel. Vermutlich Gas.«

»Is kein schöner Tod«, stellte sie fest. »Zuerst merkt man nichts, und wenn man's merkt, isses zu spät. Und tschüs.«

 

*

 

Sieben Leichen und sieben Todsünden, ein schwarzer Kater und eine quietschblonde Frau, zwei attraktive Männer und mittendrin Maria Grappa, Reporterin beim Bierstädter Tageblatt. Die rothaarige Journalistin begibt sich auf die Suche nach einem religiösen Fanatiker, doch dann holt sie ihre Vergangenheit ein: Sie selbst hat die achte Todsünde begangen ...

 

*

 

»Die stets gestresste, aber die Tücken des Alltags mit viel Mutterwitz, unermüdlichem Tatendrang und einer guten Portion Glück meisternde, nicht mehr ganz junge Journalistin hat es diesmal mit der Religion zu tun. Eine bemerkenswerte Mischung, die – verbunden durch eine lockere Sprache – zu einer kurzweiligen Lektüre für die kleine Erholung zwischendurch wird.«

krimi-forum.de

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

Originalausgabe © 2002 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagillustration: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-992-1

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappa und die acht Todsünden

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund. Sie mag wilde Tiere, gutes Essen und schöne Männer.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar.

www.gabriella-wollenhaupt.de

 

Die Personen

 

 

Die lebenden Sünder

Yunus Aydin Sündenfälle sind sein Beruf

Big Mäc seine Sünde ist das Nikotin

Elvira Bollhagen-Mergelteich sehnt sich nach Sünde

Anton Brinkhoff ist für Sünden anderer zuständig

Eberhard kommt nicht zum Sündigen

Maria Grappa sündigt gern mal

Pfarrer Heinrich Großmann vergisst Sünder nicht

Michele Guardini verfolgt Sünder

Peter Jansen verhindert gedruckte Sünden

Georg Mahler hat alle Sünden schon gelebt

Nikoll Mahler zu blond, um zu sündigen?

Odysseus Odenski verdient an Sünden

Kosmo Schmitz möchte Sünden vergessen

Anneliese Scholz versündigt sich an der Sprache

 

 

Die toten Sünder

GULA (Maßlosigkeit) Johannes Schadewald, Reporter

SUPERBIA (Hochmut) Dr. Hartmut Freudenreich, Diplompsychologe

INVIDIA (Neid) Mandy Turner, Lehrerin

AVARICIA (Geiz) Dr. jur. Botho Müller, Richter i. R.

ACCIDIA (Trägheit) Schwester Barbara Odel, Ordensschwester

IRA (Wut) Richard Borchert, Rentner

LUXURIA (Wollust) Monika Keller, Hausfrau

Stets sah ich nur den Tod am Horizont

Im Jägermantel übern Acker schreiten,

Die braunen Rüden an der Leine leiten,

Die breite Stirn vom Abendrot besonnt.

 

Ich sah ein Kind ihn auf dem Arm im Mond

Auf einem weißen Pferd vorüberreiten,

Ich sah ihn still im Kahn vorübergleiten,

In dem ein junges Mädchen weinend wohnt.

 

Mein Weib und ich: wir lauschten früh der Mette,

Da riss die Türe jäh wie Spinngeweb.

Er hob mein Liebstes lächelnd aus dem Bette

 

Und sprach zu ihr: Mein goldner Vogel, schweb!

Ich schrie in Martern: Wo ist meine Stätte?

Er sprach: Sie ist erlöst. Du, büße! Leb!

 

Klabund, aus: Totenklage

Für E. S. – mit Dank für die Katerlaunen ...

Abendmahlstimmung

 

 

»Mach dich auf was gefasst!«, sagte der Bluthund am Telefon. In seiner Stimme lag Anspannung und professionelle Gier nach der Sensation.

»Hab alles im Kasten, was ging. Aber so richtig konnte ich mich dem Tatort noch nicht nähern. Kannst du sofort kommen?«, setzte er nach.

Mach dich auf was gefasst! Das klang nach einer Sache, die härter war als das Übliche.

»Wo bist du?«, fragte ich matt. Der Anruf hatte mich aus dem Tiefschlaf gerissen.

»Ich bin an der alten Villa, du weißt schon.« Er nannte die Straße, die sich in einer besseren Bierstädter Gegend befand.

»Was ist passiert?«

»Da sind Leichen«, klärte mich Big Mäc auf. »Und zwar mehrere. Schwing die Hufe, Grappa, bevor die Bullen alles dichtmachen!«

Das klang überzeugend. Big Mäc war mein Kollege, Fotograf beim Bierstädter Tageblatt, der seinen Namen der Vorliebe für US-amerikanischen Schnellfraß verdankte.

»Okay. Ich beeil mich. Knips alles, was noch zappelt. Und das, was nicht mehr zappelt, erst recht!«

»Klare Sache, das.«

Ich wischte mir einmal kurz mit dem Waschlappen übers Gesicht, sprang in die Jeans, warf den Pullover über und stieg in die flachen Schuhe. Keine Zeit für Make-up, nachts waren eh alle Katzen grau.

Kühle Spätsommerluft schlug mir entgegen. Die Nacht war noch nicht ganz vorbei, im Osten schob sich aber schon eine helle Wand hinter den Wald mit seinen gezackten Spitzen. Die Uhr zeigte kurz vor fünf.

Die Villa in dem grünen, hügeligen Stück Bierstadt zwischen der südlichen City und der Spielbank hatte früher mal einen Landgasthof beherbergt und konnte heute für Festivitäten aller Art gemietet werden.

Den Weg kannte ich, war noch letzte Woche in der Gegend herumgekurvt, um mich mit dem Vorsitzenden eines Arbeitskreises gegen die Spielsucht zu treffen, der vor dem Glückstempel eine Demonstration hatte anzetteln wollen. Die Aktion war aber zu dilettantisch angelegt gewesen, um etwas bewirken zu können. Nur Mitleid hatte mich dazu gebracht, zwanzig Zeilen ins Blatt zu heben.

Ich ließ den Motor des Wagens aufheulen und zog ab. Spielcasino stand irgendwann auf den Hinweisschildern. Denen musste ich folgen.

Die Landstraße war fast leer, im Abblendlicht erkannte ich gerade noch rechtzeitig eine Kugel, die gemächlich die Fahrbahn überquerte. Ich zog den Wagen nach links, der Igel blieb am Leben.

Nach knapp zehn Minuten erreichte ich die Straße, in der die Landvilla lag. Ich peilte die Lage. Noch hatte die Polizei die Straße nicht abgesperrt.

Ich beschloss, meinen Wagen abzustellen und mich zu Fuß zu nähern. Das war unauffälliger. Mein schwarzes Cabrio war bekannt in der Stadt, vor allem bei den Vertretern der exekutiven Gewalt. Nicht selten hatten sie mich mit Hinweis auf das rot-weiße Absperrband gnadenlos nach hinten geschossen.

Einige Polizeikombis in der Ferne zeigten mir die Stelle, zu der ich wollte. Blaulicht gleißte stumm. Einen Moment lang dachte ich an mein weiches Bett und das Kopfkissen, das ich nachts zu bearbeiten pflegte, wenn kein männlicher Körper neben mir ruhte. Und das war in den letzten Monaten beklagenswerte Normalität.

»Da bist du ja«, empfing mich Big Mäc.

»Hi, Baby«, grüßte ich kurz. »Was weißt du?«

Der Fotograf kam rasch mit dem rüber, was bereits feststand: Ein anonymer Anrufer hatte beim Polizeinotruf angeklingelt und von mehreren Leichen in einem Haus berichtet. Eine Streifenwagenbesatzung war umgehend ausgerückt. Auf heftiges Läuten an der Haustür der Villa hatte es keine Reaktion gegeben. Die Beamten waren um das Haus und so in den Garten gelangt. Durch die Terrassentür habe man dann die Leichen gesehen, denn das Zimmer war hell erleuchtet.

»Die Bullen haben die Tür eingeschlagen«, berichtete Big Mäc, »und sind beinah umgekippt. Da kam nämlich Gas raus oder so was.«

»Hast du die Toten im Kasten?«, fragte ich.

»Nee, leider nicht. Als ich die Kamera heben wollte, haben die Bullen Stress gemacht. Aber einen Blick konnte ich drauf werfen.«

»Und?«

»Nicht schön, kann ich dir sagen, Grappa. Alle saßen um einen Tisch herum.«

»Einfach so?«

»Nee, der Tisch war gedeckt. Die müssen wohl vorher gegessen haben. Einige hatten die Köpfe zurückgelegt, manche waren halb vom Stuhl gerutscht, andere lagen mit dem Gesicht im Essen oder knapp daneben.«

»Wie viele sind es denn?«

»Ich hab sieben gezählt.«

»Wer bringt sieben Menschen mit Gas um und lädt sie vorher noch zum Essen ein?«, murmelte ich. »Ziemlich viel Aufwand.«

»Sagte ich doch, dass du dich auf was gefasst machen sollst!«

»Wer leitet die Ermittlungen?«

»Der dort hinten. Das ist der Staatsanwalt.«

Big Mäc deutete mit dem Kinn auf einen Yuppie-Typen. Smart, gut gekleidet, dominant. Das waren die schwierigsten Kandidaten. Hatten keine Ahnung, konnten kein Blut sehen, wollten ihren Kopf aber am nächsten Tag möglichst als Close-up im Blatt bewundern. Letzteres hielt sie immerhin davon ab, allzu unhöflich zu werden.

Ich pirschte mich an den Mann ran, hörte schon auf halbem Weg, wie der Jurist den alten Hasen von der Mordkommission Befehle erteilte.

»Sie leiten die Ermittlungen hier?«, fragte ich und hielt Yuppie meinen Presseausweis unter die Nase. »Mein Name ist Grappa. Wie der italienische Tresterschnaps. Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Der Staatsanwalt studierte das Papier in meiner Hand, ich konnte sein Parfum riechen. Es stammte nicht vom Grabbeltisch eines Drogeriemarktes.

»Ich komme gleich zu Ihnen, Frau Grappa«, kündigte Yuppie an. »Verstehen Sie bitte, dass ich mir erst selbst einen Überblick verschaffen möchte. Haben Sie etwas Geduld. Ich bin übrigens Oberstaatsanwalt Guardini.«

»Aber natürlich«, sagte ich. »Darf ich mich auf dem Gelände umsehen?«

»Sie wissen doch, dass die Spurensicherung zuerst ihre Arbeit erledigen muss. Fragen Sie die Beamten, wo Sie sich am Tatort aufhalten dürfen. Kann ich mich darauf verlassen?« Der Staatsanwalt lächelte mich an.

»Sicher«, meinte ich verblüfft. »Ich werde fragen.«

Ich schlenderte zu Big Mäc zurück. »Kennst du den näher?«, fragte ich mit Blick auf den Staatsanwalt. »Er heißt Guardini.«

»Ist mir noch nicht vor die Flinte gekommen«, antwortete der Fotograf.

»Gar nicht so übel, der Bursche. Scheint Verständnis für die Arbeit der Presse zu haben. Also, los! Ich brauch ein Bild von den Toten am Tisch.«

»Und wie soll ich das machen?« Big Mäc deutete auf Polizisten, die endlich das rot-weiße Absperrband um das Gelände zogen. Dahinter hatten sich Fernsehteams und ein paar Kollegen postiert.

»Wir sind immerhin schon hier drin«, versuchte ich den Fotografen aufzumuntern. »Und die da müssen draußen bleiben.«

Ich beobachtete, wie der Kameramann eines Privatsenders von den Polizeibeamten rüde zurückgedrängt wurde. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel zwischen dem Filmer und den Grünröcken.

»Komm!«, befahl ich Big Mäc. Die Gelegenheit war günstig. »Wo geht's zur Terrasse?«

Der Fotograf trabte los, ich hinterher – mit einem Auge immer die Lage peilend. Ein flaues Gefühl zog in meinen Magen. Obwohl ich Polizeireporterin des Bierstädter Tageblattes war, beeindruckte mich der Anblick von Toten immer wieder. Es war nicht das Wissen um die Gewalt, die dieser Art des Sterbens meist vorausgegangen war, sondern diese unfassbare Stille, die von toten Körpern ausging – egal wie lebhaft, freundlich, laut, lebensfroh die Menschen gewesen sein mochten, als das Blut noch in ihren Adern floss und ihre Gehirne arbeiteten – sie befanden sich nun in einem Zustand beginnender Zersetzung.

Zum Glück hatte ich schrecklich zugerichtete oder verweste Körper noch nie ansehen müssen. ›Meine‹ Toten waren bisher relativ frisch gewesen, erschossen, erstochen, vergiftet, erwürgt. Meist tauchte ich ja nach der Polizei am Tatort auf, die Fotografen waren fast immer zuerst da, weil sie den Polizeifunk abhörten.

Der Garten lag an der Rückseite der Villa und war von der Straße aus nicht einzusehen. Die Spurensicherer waren gerade dabei, das Gelände zu durchkämmen. Zum Glück waren sie noch einiges von uns entfernt.

Um nicht allzu sehr aufzufallen, strichen wir eng an der Hauswand entlang. Wir umkurvten einige Blumenkübel mit Trockengemüse und standen bald auf der Terrasse. Das Zimmer war hell erleuchtet. Ich atmete tief ein, trat dicht zur Scheibe hin.

»Mein Gott!«, entfuhr es mir.

Sieben Menschen, drei Frauen und vier Männer, saßen an einem festlich gedeckten Tisch. Auf den Tellern aus weißem Porzellan waren noch die Reste von Speisen zu erkennen. Alkohol hatte es auf jeden Fall gegeben, es befanden sich mehrere Weinkühler auf dem Tisch, aus denen Flaschenhälse ragten.

Big Mäc begann wortlos mit seiner Arbeit. Er hüpfte wie ein Kobold vor der eingeschlagenen Glastür hin und her, die Scherben klirrten unter seinen Schuhen. Es war das einzige Geräusch, das ich bewusst wahrnahm.

Der Fotograf jagte einen ganzen Film durch, nahm ihn aus der Kamera, gab ihn mir und legte sofort einen neuen ein.

Ich verstaute den Film in meiner Tasche. Wir arbeiteten immer so, bei Problemen mit der Staatsgewalt an einem Tatort wurden immer zuerst die Knipser gefilzt.

»Ich mach mal die Totale vom Haus«, kündigte Big Mäc an und tauchte in das Dunkel des Gartens ab.

Ich blieb allein zurück. Die Terrassentür war nur angelehnt. Ich versicherte mich, dass mich die Polizisten im Garten nicht sehen konnten, und überlegte. Nein, das konnte ich nicht machen. Und dann tat ich es doch.

Zögernd zog ich die Tür auf. Meine Hand hatte ich mit meiner Jacke umwickelt, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

Fast wäre ich über eine Orientbrücke gestolpert; ich konnte mich gerade noch an einer Gardine festhalten. Sie riss ab und einige Gardinenröllchen kullerten auf den Boden.

Es war so still im Raum, die Luft war stickig, die Situation unwirklich. Der Mörder hatte den Tod seiner Opfer theatralisch in Szene gesetzt. Mir war, als würden die sieben gleich aufstehen, sich verbeugen und lächelnd den Applaus eines Publikums entgegennehmen.

Mein Blick wanderte über die Körper, mein Hirn versuchte, sich möglichst viele Einzelheiten einzuprägen, meine Lippen begannen die Worte zu formen, mit denen ich die Lage hier später beschreiben würde.

Die Toten waren schwarz gekleidet, elegant und schlicht, so, als habe sie jemand in Uniformen gesteckt, die sie im Jenseits würden tragen müssen. Alle waren nicht mehr jung, hatten ein Leben gelebt, das sich in die Gesichter eingegraben hatte.

Big Mäc hatte von Gas gesprochen. Dann musste es sie alle etwa zur gleichen Zeit getroffen haben.

Nein, hatte es wohl doch nicht. Die Miene der toten Frau mit dem blonden Haar war friedlich, während der Mann neben ihr wohl sehr mit dem Tod hatte kämpfen müssen, die Züge waren verzerrt und die Zunge hing seitlich aus dem Mund.

Mein Blick fiel auf die Hand einer weiteren männlichen Leiche – sie hatte sich in die Tischdecke verkrallt und war erstarrt. Mich schauderte.

»Schöne Schweinerei«, hörte ich eine Stimme in meinem Rücken fluchen. »Was machen Sie hier, zum Teufel?«

Die Spurensicherer der Kripo waren angerückt und sie gehörten nicht eben zu meinen Freunden.

»Kein Problem, Jungs! Ich bin schon weg«, beeilte ich mich zu versichern.

»Nachdem Sie hier alles zertrampelt haben«, meinte Anton Brinkhoff.

Der Hauptkommissar war eine der Konstanten während meiner Arbeit der letzten Jahre. Er leitete die Mordkommission der Bierstädter Kripo, ich schrieb über seine Kunden, er erhielt Tipps von mir und manchmal fiel auch für mich eine kleine Info ab, die sonst kein anderer Journalist bekam.

Brinkhoff brauchte ich meine grundgesetzlich verankerte Pressefreiheit nicht immer wieder zu erklären, ich akzeptierte im Gegenzug seine Lizenz, mich notfalls von einem Tatort wegscheuchen zu dürfen. So waren wir immer gut miteinander klargekommen.

»Ich habe mir nur einen Eindruck von der Lage verschafft«, sagte ich. »Und Sie wissen doch, Herr Brinkhoff, wie vorsichtig ich immer bin.«

»Das sehe ich«, meinte der Kripomann trocken und deutete auf die abgerissene Gardine. »Die sah eben noch ganz anders aus!«

»Kleiner Unfall«, gab ich zu. »Tut mir echt Leid.«

»So, so«, entgegnete Brinkhoff. »Und? Welchen Eindruck haben Sie von der Lage?«

»Der Mörder ist ein fantasievoller Mensch und er hat sich viel Mühe gegeben. Mord als Kunstwerk, als szenische Darbietung.«

»Das klingt ja so, als würden Sie ihn bewundern.«

»Ich bewundere Profis immer«, gab ich zu. »Profis auf allen Gebieten.«

»Und den hier halten Sie für einen Profi?«, hakte der Hauptkommissar nach.

»Ja. Und er ist erst dann ein echter Künstler, wenn er sich nicht erwischen lässt.«

Frische Brötchen

 

 

Oberstaatsanwalt Guardini vertröstete die Journalisten auf den frühen Nachmittag – erst dann würde er sich einen Überblick verschafft haben. Egal. Es war sowieso zu spät, in der nächsten Ausgabe noch einen Artikel zu platzieren. In einer knappen Stunde würden die Zeitungsboten die druckfrischen Exemplare des Bierstädter Tageblattes in die Briefkästen der Abonnenten legen.

Ich hatte genug gesehen und machte mich auf den Nachhauseweg. Big Mäc war schon gestartet, wir würden uns in ein paar Stunden in der Redaktion treffen.

Unterwegs hielt ich vor einer Bäckerei, in der es die ersten frischen Brötchen und immer einen frisch gebrühten Kaffee gab. An Morgen wie diesem kehrte ich besonders gern hier ein.

»Moin, Frau Scholz«, sagte ich, als ich eingetreten war.

»Moin, Frau Grappa«, antwortete die Bäckersfrau.

»Wie isses?«, fragte ich.

»Muss«, meinte sie. »Und selbst?«

»Auch«, entgegnete ich.

»Was lag an?« Sie stellte mir einen heißen Kaffee hin.

»Sieben Tote«, sagte ich. »Im Süden.«

»Ach was! Unfall?«

»Eher nicht.«

»Gleich sieben auf einen Schlach?« Sie konnte es kaum glauben.

»Genau.«

»Schinken wie immer?«

Ich nickte. Die Bäckersfrau zog das Blech aus dem Ofen. Wärme und der Geruch von frischem Brot verbreiteten sich im Raum. Ich sog beides ein.

»Kein Unfall«, sinnierte sie. »Was dann?«

»Die sieben saßen beim Abendessen und ...« Ich führte meinen Arm von links nach rechts quer über die Kehle.

»Die Kehlen durchgeschnitten?«, fragte Frau Scholz mit glänzenden Augen.

»Nee. Kein Messer im Spiel. Vermutlich Gas.«

»Is kein schöner Tod«, stellte sie fest. »Zuerst merkt man nichts, und wenn man's merkt, isses zu spät. Und tschüs.«

Sie stellte das Brötchen vor mich auf den Bistrotisch. Es war mit gekochtem Schinken und ein paar frisch aufgeschnittenen Gurkenscheiben belegt. Ich biss mit Lust hinein.

»Woher wissen Sie so was?«, kaute ich.

»Hab's mal gelesen«, antwortete sie. »In einem meiner Krimis. Der Mörder hat da auch Gas benutzt. Geruchlos.«

»Sie und Ihre Krimis«, lächelte ich. Sie hatte mir mal erzählt, dass sie alles an Literatur verschlang, was nur entfernt mit Gewalttaten zu tun hatte. »Das Leben ist anders. Nicht so wie in Ihren Büchern.«

»Ich weiß. Die meisten Menschen sind in Wirklichkeit noch schlimmer als in meinen Krimis.«

Ich gab es auf, sie von der Harmlosigkeit der Welt überzeugen zu wollen.

»Es gibt auch viele Arten schnell wirkender Gifte«, plapperte sie fröhlich weiter. »Auch welche, die keiner auf Anhieb findet. Indianisches Pfeilgift zum Beispiel. Kommt in die Blutbahn und löst sich sofort wieder auf. Nicht nachzuweisen. Oder Gifte, die in Backwaren versteckt sind.«

Irritiert beäugte ich mein Brötchen. Nein, sie hatte kein Motiv, mich umzubringen. Ich hatte meine Einkäufe immer sofort bezahlt und war auch stets freundlich zu ihr gewesen.

»Weiß man schon, wer's war?«

»Nein. Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen.«

»Sie werden's bestimmt rauskriegen, Frau Grappa«, meinte Frau Schulz und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Wenn jemand, dann Sie.«

»Vielen Dank für das Vertrauen«, murmelte ich. »Können Sie mir noch zwei frische Brötchen einpacken? Für zu Hause.«

Blonde Überraschung

 

 

Nach kurzem, tiefem Schlaf betrat ich gegen elf Uhr morgens die Redaktionsräume des Bierstädter Tageblattes. Ich hatte mir die Konferenz um zehn Uhr geschenkt – immerhin war ich nachts auf den Beinen gewesen. Mein Chef Peter Jansen wusste Bescheid, dass ich den mysteriösen Mordfall bearbeiten würde – ich hatte ihm eine kurze Mitteilung auf die Mailbox seines Handys gesprochen.

Von der Redaktionssekretärin erfuhr ich, dass die Staatsanwaltschaft um 14 Uhr zu einer Pressekonferenz eingeladen hatte.

»Hallo, ihr Lieben«, begrüßte ich die Kollegen im Großraumbüro. Ich blickte mich um. »Wo ist Jansen?«

»In der Kantine. Zweites Frühstück«, flötete Kosmo, der schnuckelige Redaktionsbote. »Wie geht's dir, Grappa, meine Schöne?«

»Wenn ich dich sehe, Süßer, schnappen meine Hormone nach Luft«, revanchierte ich mich.

»Hier ist Post für dich«, säuselte er, »steht groß und fett persönlich drauf. Soll ich's für dich aufmachen, bellezza

»Schaff ich schon selbst.«

Brav reichte mir Kosmo einen Umschlag. »Muss jetzt meine Runde drehen«, kündigte er an und setzte seinen göttlichen Körper in Bewegung. »Bis dann!«

Verträumt blickte ich ihm nach und jäh wurde mir wieder mal bewusst, wie einsam ich doch war. Statt meine Zeit nächtens an der Seite warmer Männerkörper zu verbringen, schlug ich sie in Gesellschaft von sieben kalten Leichen tot.

Ich bewegte mich in Richtung meiner Einzelzelle. Auf dem Weg dorthin betrachtete ich den Umschlag in meiner Hand.

Nichts Außergewöhnliches: Format DIN A5, mit Schreibmaschine adressiert, der Absender fehlte, das Wort persönlich war mit der Hand unterstrichen.

In meinem Büro angekommen, öffnete ich das Kuvert.

Es enthielt ein Schwarzweißfoto. Das Bild zeigte einen Mann, der auf einem Stuhl saß, von nahem fotografiert, denn das Gesicht war gut zu erkennen. Schütteres, längeres Haar, das in Strähnen bis auf die Schultern hing, der Kopf war nach hinten geneigt, die Augen halb geschlossen, der Mund leicht geöffnet, die Zunge hing seitlich zwischen den Lippen herunter, wie ein dickes Blatt Löschpapier.

»Das ist ja ...«, murmelte ich.

Ja, das war einer der Toten in der Villa, in der ich vergangene Nacht gewesen war, und zwar nicht mit einem Teleobjektiv herangezoomt, sonst wäre das Foto grobkörniger geworden. Der Fotograf musste direkt vor dem Toten gestanden haben.

Quer über dem Gesicht des Mannes stand etwas geschrieben: GULA.

GULA?

Ich drehte das Bild um und las:

 

Zum Herrn rief ich in meiner Not, und er erhörte mich. Herr, rette meine Seele vor Lügenlippen, vor falscher Zunge. Was wird er dir geben? Was dir hinzufügen, du falsche Zunge? Scharfe Pfeile eines Starken samt glühenden Ginsterkohlen.

 

Wollte sich jemand einen Scherz mit mir erlauben? Nein, schoss es mir durch den Kopf, das war kein Scherz, sondern ein Hinweis. Und der konnte nur vom Mörder selbst stammen.

Ich las den Text noch einmal durch. Die Worte muteten religiös an, der angesprochene Herr konnte nur Gott sein. Dieser Gott wurde von jemandem angerufen. Vielleicht vom Opfer?

Lügenlippen, falsche Zunge, scharfe Pfeiledas klang nach dem, was das Strafrecht heute als üble Nachrede bezeichnete.

Jemand beklagte sich bei Gott darüber, dass er verleumdet worden war.

Und was bedeutete GULA?

Der kleine Langenscheidt für die wenigen lateinischen Momente in meinem Leben lag griffbereit in meinem Bücherschrank.

Da hatte ich es. GULA – das hieß »Kehle«, »Speiseröhre« und »Schlund«. Das brachte mich nicht weiter.

Ich gab das Wort in eine Suchmaschine im Internet ein und erfuhr, dass GULA eine der sieben christlichen Todsünden war und mit »Völlerei«, »Maßlosigkeit« und »Unmäßigkeit« übersetzt wurde.

Wer hatte mir das Foto zugesandt? Eine müßige Frage. Und warum hatte er es getan? Auf diese Frage würde ich eine Antwort finden!

Ich steckte das Bild in den Umschlag zurück und dachte nach. Was hatte der Mann auf dem Foto angerichtet, um der Todsünde der Maßlosigkeit bezichtigt zu werden, denn nichts anderes konnten Bild und Wort bedeuten?

In mein Grübeln platzte ein Klopfen und dann stand mein Chef Peter Jansen in der Tür. Er war nicht allein. Hinter ihm versteckte sich eine junge Frau.

»Morgen, Grappa!«, begrüßte mich Jansen – forscher als sonst.

»Hallo, Peter«, entgegnete ich. »Ich wollte gerade zu dir ... mir ist vielleicht ein Ding passiert ...«

»Kannst du mir später erzählen«, unterbrach er mich. »Das hier ...«, er schob die junge Frau vor sich, »... ist Frau Mahler. Ab heute Hospitantin.«

»Hallo«, sagte ich lahm und musterte die Maus. Quietschblond, höchstens Mitte zwanzig, hellblauer Lidschatten, verträumter Blick, aufgeworfene hellrosa Lippen und große Ohren – eine Art fleischgewordenes Spindgirl aus den frühen Siebzigern.

»Und?«, fragte ich. Mir schwante, dass es mit der braven Vorstellungsrunde noch nicht getan war.

»Du bist doch die Ausbildungsbeauftragte unserer Zeitung«, sagte Jansen und grinste. »Und da dachte ich, dass du ...«

»Was bin ich?«, fragte ich wie vom Donner gerührt.

»Unsere Ausbildungsbeauftragte.«

»Und du bist das größte Lügenmaul, das mir je begegnet ist ...«

»Ich habe dich gerade dazu ernannt«, freute sich mein Chef. »Du kümmerst dich doch gern und immer so aufopfernd um den journalistischen Nachwuchs.«

»Ja«, gab ich zu. »Aber nur wenn er männlich, dunkelhaarig, clever und charmant ist.«

»Frau Mahler, lassen Sie Frau Grappa und mich doch bitte einen Moment allein«, bat Jansen Blondie, »und warten Sie in meinem Vorzimmer auf mich.«

Die Blondine machte einen Schmollmund, musterte mich missbilligend und stiefelte ab. Ich sah ihr nach, sie wackelte mit dem Hintern, wie es ihrer grellen Haarfarbe entsprach.

Jansen schloss die Tür.

»Willst du mich veräppeln?«, blaffte ich ihn an. »Wo hast du die denn aufgegabelt? In einer Pommesbude?«

»Na ja«, räumte er ein. »Sie ist ein bisschen grell. Könnte weniger Farbe vertragen, die Kleine. Aber sie hat es sich nun mal in den Kopf gesetzt, Journalistin zu werden.«

»Und? Was kann ich dafür?«

»Grappa-Baby!« Er legte sein Flehen in die Augen. »Irgendeiner muss es doch machen.«

»Irgendeiner ja«, stimmte ich ihm zu. »Aber bestimmt nicht ich!«

»Wie oft hab ich dir schon aus der Patsche geholfen!«, erinnerte er mich. »Und jetzt, wo ich dich mal brauche ...«

»Gib sie doch der Kulturtante. Die Bollhagen-Mergelteich freut sich über jeden, den sie zu einem Konzert mitschleppen kann. Oder auf eine dieser beknackten Matineen.«

»Frau Mahler will aber Polizeireporterin werden«, erklärte Jansen. »Genau wie du. Du bist ihr großes Vorbild. Und ihr Onkel ist ein Schulfreund des Schulfreundes der Schwester des Verlegers. Oder so ähnlich.«

»Ach, daher weht der Wind!« Jetzt verstand ich. »Und ich bin ihr Vorbild? Bestimmt nicht, was den Intellekt und die Haarfarbe betrifft. Sag mir, womit ich so was verdient hab!«

»Grappa! Schlepp sie einfach mit. Unterhalten brauchst du dich ja nicht mit ihr. Außerdem – so blöd ist sie auch wieder nicht.«

»Mit diesem Vogel im Schlepptau ist jede verdeckte Recherche gleich im Eimer«, ereiferte ich mich. »Mit dem grellen Blond und den Riesenmöpsen! Da erinnert man sich doch noch Jahrhunderte später dran. Gib sie Big Mäc mit, der kann ihr zeigen, wie man eine Kamera hält und sich am Tatort danebenbenimmt.«

»Grappa, jetzt hör endlich auf! Big Mäc kriegt einen Herzkasper, wenn die Mahler neben ihm sitzt! Die Einzige, die in der Redaktion blondinenresistent ist, bist du!«

»Allerdings! Hat sie überhaupt schon journalistische Erfahrung?«

»Ja, klar. Darauf legt unser Verlag doch Wert, wenn er Hospitanten einstellt.«

»Und welche Erfahrungen wären das?«

Peter Jansen druckste. »Sie war bei einem Privatsender.«

»Als was? Nummerngirl? Oder als Bedienung in der Kantine?«

»Sie hat das Wetter angesagt. Bei SAT.1 im Regionalmagazin.«

»Wetterfrosch? Und wer, zum Teufel, hat ihr die Flausen in den Kopf gesetzt, dass sie Journalistin werden muss?«

»Keine Ahnung. Ich hab sie mal bei der Wetteransage gesehen«, bekannte Jansen. »Hat mir gut gefallen. Sie kam optisch gut rüber, ja ehrlich. Hatte allerdings ziemlich wenig an.«

»Überzeugende Argumente!«, höhnte ich.

»Ich finde sie wirklich ganz niedlich.«

»Das hab ich begriffen.«

»Grappa! Gib deinem Herzen einen Stoß! Du kannst sie ja mit niederen Aufgaben betreuen – schick sie meinetwegen deine Mandelhörnchen holen.«

»Glaubst du, sie findet den Weg in die Bäckerei?«

»Wenn du ihr eine Zeichnung machst – bestimmt.«

»Was krieg ich dafür?«, fragte ich.

»Du willst einen Deal?«

»Ja. Ich will den Fall von gestern Nacht. Und zwar so lange, bis er gelöst ist. Freie Hand bei der Arbeit und du stärkst mir den Rücken, wenn's brenzlig wird. Okay?«

»Hab ich dir jemals eine Bitte abgeschlagen, Grappa-Baby?«

»Einverstanden?«

»Klar. Und du kümmerst dich dafür um sie?«

»Hast du kümmern gesagt?«

Ein alter Bekannter

 

 

Nach dem Schlagabtausch über Blondie informierte ich Peter Jansen über die Ereignisse der vergangenen Nacht und über die merkwürdige Post, die ich erhalten hatte. Mein Chef warf einen Blick auf das Foto und stutzte.

»Den kenne ich! Das ist doch ... Schadewald! Johannes Schadewald. Ja, kein Zweifel, das ist er!«

»Schadewald? Wer ist das?«

»Ein ehemaliger Kollege«, antwortete Jansen. »Falls man so jemanden als Kollegen bezeichnen will. Ist aber schon lange aus dem Geschäft.«

»Und? Das klingt nicht sehr freundlich. Was war das für ein Typ?«

»So eine Art Schmuddelreporter. Hat hauptsächlich fotografiert. Schadewald hatte absolut keine Skrupel. Je blutiger der Einsatz, umso besser. Er hat mit jedem Trick der Welt gearbeitet, um an Infos ranzukommen ... war echt hart drauf.«

»Und warum hat er den Job hingeschmissen?«

»Hat er nicht«, erinnerte sich Jansen. »Vor etwa zwanzig Jahren, da haben die Zeitungen im Lande, die noch was auf sich hielten, beschlossen, Schadewald zu ignorieren, ihm keine Fotos und Storys mehr abzunehmen. Er hatte es einfach übertrieben.«

»Was heißt das – übertrieben?«

»Es gab immer Theater. Er war so geil auf Blut- und Spermageschichten, dass er begann, sie selbst zu inszenieren, um sie dann zu verkaufen. Er hat Leute sogar angestiftet, Straftaten zu begehen, um als Erster die Story zu haben. Ein mieser Kerl.«

Ich überlegte. Wie kam dieser abgehalfterte Typ zu der ›Ehre‹, bei einem exklusiven Essen hingerichtet zu werden? Ich gab die Frage an Jansen weiter.

»Keinen blassen Schimmer! Schadewald war lange von der Bildfläche verschwunden. Völlig abgetaucht.«

»Und GULA? Eine der Todsünden, Völlerei, Maßlosigkeit? Kannst du dir darauf einen Reim machen?«

»Das passt zu ihm. Irgendwie war er maßlos ... in seiner Arbeit und in seiner Gier nach Geschichten ...«, murmelte Jansen. »Auch der Text passt.«

Er griff nach dem Foto und zitierte: »Herr, rette meine Seele vor Lügenlippen, vor falscher Zunge. Was wird er dir geben? Was dir hinzufügen, du falsche Zunge? Scharfe Pfeile eines Starken samt glühenden Ginsterkohlen. Wahnsinn! Der Mörder muss Schadewald gut gekannt haben.«

»Hört sich nach später Rache an«, stellte ich fest. »Gibt's was von Schadewald im Archiv?«

»Bestimmt. Musst du aber in den Keller gehen. Die Sachen von vor zwanzig Jahren gibt's noch nicht auf Mikrofilm.«

»Auch das noch«, stöhnte ich. Doch dann kam mir eine Idee. »Das kann ja Blondie machen. Lernt sie gleich mal, was Archivarbeit und Recherche ist. Kann sie lesen?«

»Mir ist nichts Gegenteiliges bekannt«, erwiderte Jansen.

»Hoffentlich bricht sie sich nicht die Fingernägel beim Umblättern ab.«

»Du bist ein verdammtes Biest, Grappa«, grinste Jansen. »Musst du sie gleich in den Keller jagen?«

»Hast du Zweifel an meinen pädagogischen Fähigkeiten?«, fragte ich mit milder Stimme. »Ich bin doch wohl nicht ohne Grund die Ausbildungsbeauftragte unserer Zeitung?«

Als ich wieder allein war, loggte ich mich erneut ins Internet ein. In eine Suchmaschine gab ich die Worte Lügenlippen und falsche Zunge ein und wartete. Der ›Auswurf‹ kam prompt: Der Mörder hatte einen christlichen Psalm zitiert, und zwar den 120.

Fast null Infos

 

 

Es wurde Zeit, mich mit meinen Aufgaben als Ausbildungsbeauftragte zu befassen. Deshalb beschloss ich, Frau Mahler zu fragen, ob sie mit mir und dem Fotografen Big Mäc die Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft besuchen wolle. Anschließend würde ich sie in den Keller schicken.

Blondie strahlte mich an, mit so viel spontaner Freundlichkeit hatte sie nach unserem ersten Zusammentreffen wohl nicht gerechnet. Und sie bot mir an, sie Nikoll zu nennen.

Ich akzeptierte gerührt und schlug ihr vor, mich doch einfach mit »Frau Grappa« anzureden. Mein Entgegenkommen machte sie für eine Weile stumm.

Big Mäc hatte unserem Austausch von Nettigkeiten aufmerksam gelauscht. Wir waren auf dem Weg zum Justizgebäude, hockten im Dienstwagen des Verlages und kämpften uns durch den Verkehr.

Big Mäc saß am Steuer, ich neben ihm, Nikoll hatte ich auf die Rückbank verbannt, denn ihr Rock taugte nicht dafür, die Blicke des Fotografen auf den Straßenverkehr zu konzentrieren.

Der Weg war nicht weit. Als Nikoll aus dem Auto stieg, bekam Big Mäc Stielaugen. In der Tat: Die Art, wie sie ihre langen Beine mit dem kurzen engen Rock und den Ausstiegsbewegungen koordinierte, hatte was.

Big Mäc, der schon wieder qualmte, brach vor lauter Andacht seinen Brennstab in der Mitte durch.

»Bleib ganz cool, Süßer«, raunte ich ihm zu. »Ich soll sie ausbilden ... nicht du. Also halte dich zurück.«

»Darf ich auch Fragen stellen?«, wandte sich Blondie an mich. Sie tat, als habe sie den Schlagabtausch zwischen Big Mäc und mir nicht gehört.

»Na ja«, meinte ich. »Wir wollen es nicht gleich übertreiben am ersten Tag. Hören Sie gut zu, schreiben Sie mit, machen Sie einen guten Eindruck. Das reicht für heute, Frau Mahler.«

»Nikoll«, sagte sie.

»Okay, Nikoll. Und jetzt los! Mal gucken, was der Guardini auf der Pfanne hat.«

Wir waren rechtzeitig da, um noch einen guten Platz zu kriegen. Kamerateams hatten ihre Lampen und Stative bereits aufgebaut, Radioreporter ihre Rekorder eingestellt, und vor dem Platz, an dem traditionell der ermittelnde Staatsanwalt sitzen würde, standen mindestens fünfzehn Mikrofone. Alle Privatsender waren vertreten, die Öffentlich-Rechtlichen, die Boulevard-Blätter und die Zeitschriften, die über spektakuläre Kapitalverbrechen bunt und ganzseitig berichteten. In Bierstadt schlug wieder einmal das Herz der Boulevardpresse hoch.

Big Mäc und Nikoll setzten sich rechts und links neben mich. Blondie hatte einiges Aufsehen erregt, sie war neu in der Garde der Kollegen, die sich alle untereinander kannten. Männer wie Frauen taxierten sie unverhohlen, die Männer natürlich aus anderen Gründen als die Frauen.